Frauen in Afghanistan - „Wie läuft man in einer Burka, ohne sich zu verletzen?“

Für emanzipierte Frauen ist der Alltag in Afghanistan mit der Machtübernahme der Taliban lebensgefährlich geworden. Im Interview mit Cicero erklärt die Frauenrechtlerin Düzen Tekkal, wie die Bundesregierung ihnen helfen kann, ohne sich von den Taliban erpressen zu lassen.

Alles nur inszeniert? Burka-Trägerinnen an der Uni Kabul solidarisieren sich mit den Taliban / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Düzen Tekkal ist Filmemacherin, TV-Journalistin, Politologin und Sozialunternehmerin. In ihrem Film „Hawar – meine Reise in den Genozid“ hat sie die Jesidin Nadia Murad entdeckt, die 2018 für ihr Engagement für vom IS gefolterte Frauen den Friedensnobelpreis gewann.

Frau Tekkal, gerade haben die Taliban ihre neue Regierung vorgestellt. Es gibt jetzt keine einzige Ministerin mehr. Das Frauenministerium wurde abgeschafft. Stattdessen gibt es ein „Ministerium für Tugend und Moral und zur Verhütung des Lasters“. Was bedeutet das für die Frauen in Afghanistan?

Es wurde alles zunichte gemacht wurde, was sie in den letzten 20 Jahren an Gleichberechtigung erreicht. Die Machtergreifung der Taliban hat dazu geführt, dass die Frauenrechtlerinnen wieder zurück ins Mittelalter katapultiert werden.

Die Taliban werden aber nicht müde, zu versichern, dass die Frauen ihre Freiheiten weiterhin reklamieren können – wenn auch nur innerhalb der Grenzen der Scharia.

Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich wundere über die Naivität der Europäer, zu glauben, dass es auch eine moderate Version der Taliban geben könnte. Irgendwer hat tatsächlich gefragt: „Wo bleibt die Diversität in der Regierung?“

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Die Männer, die sich jetzt an die Macht geputscht haben, sind nicht mehr die Männer, die 1996 regiert haben. Sie fahren teure amerikanische SUVs und treten in Verhandlungen konzilianter auf. Kann man nicht davon ausgehen, dass sie sich wenigstens ein bisschen weiterentwickelt haben?

Daran habe ich meine Zweifel. Der Minister für Bildung hat gerade gesagt, dass Bildung nicht wichtig ist. Wichtiger sei Frömmigkeit. Dass den Frauen jetzt die Partizipation an Bildung entzogen wird und dass sie gezwungen werden, Burkas zu tragen, macht sie unsichtbar. Schauen Sie sich das Foto der 300 verhüllten Frauen in der Uni Kabul doch mal an. 

Sie spielen auf eine angebliche Solidaritätsaktion der Frauen mit den Taliban an. Als Reaktion darauf riefen Frauen im Internet dazu auf, Fotos von sich in farbenfrohen afghanischen Kleidern zu posten. Ist das nicht ein ziemlich arroganter westlicher Blickwinkel, weil die Initiatorinnen verkennen, dass die Mehrheit der afghanischen Frauen tatsächlich tief in der islamischen Tradition verhaftet sind?

Machen wir uns nichts vor: Wir reden von einem Land, das patriarchalisch geprägt ist. Viele Frauen würden für sich in Anspruch nehmen, dass sie zwar modernisiert sind, aber nicht verwestlicht. Und ja, deshalb wäre es arrogant zu sagen: Frauen, die verhüllt sind, sind zurückgeblieben. Die Frage ist doch aber: Von welcher Freiwilligkeit reden wir? Die Frauen haben nicht das Recht, zu entscheiden, ob sie die Burka tragen wollen oder nicht.

Düzen Tekkal / Richard Pflaume 

Aber der Westen kann es den Frauen ja nicht aufzwingen, dieses Recht einzufordern.

Richtig. Gerade darum ist es ja so wichtig, dass Frauen jetzt in den sozialen Medien dagegen protestieren. Was da stattfindet, ist ein Streit um die Deutungshohheit im Krieg, um die Narrative und die Bilder.

Aber diese Frauen sind doch in der Minderheit, oder?

Ja, die Mehrheit der Bevölkerung hat sich untergeordnet und angepasst. Zwischen den traditionell geprägten Frauen und den progressiven Frauen verläuft ein tiefer Riss, um nicht zu sagen ein Bruch.

Woran messen Sie den Verdienst des Westens?

40 Prozent der Studenten in Kabul sind heute Frauen. So eine Zahl kann man doch nicht ignorieren. Ich habe gerade das Foto einer Frau gesehen, die einem Taliban entgegentritt, der ihr ein Gewehr ins Gesicht hält. Ihre Botschaft ist: „Ich habe keine Angst zu sterben.“ Lieber einmal richtig sterben, als jeden Tag ein bisschen mehr. Ich sehe da viele Parallelen zum Iran. Als die Mullahs 1979 an die Macht kamen, sind die auch zunächst moderat aufgetreten. Dann wurden den Frauen Stück für Stück die Rechte genommen.

Welche Lehre kann man daraus für Afghanistan ziehen?

Die Frauen sind der Dreh- und Angelpunkt dieser demokratischen Bewegung. Wenn sie verstummen, hat der ganze liberale Flügel in Afghanistan ein riesiges Problem.

Aber viele sitzen jetzt auf gepackten Koffern und warten auf ihre Ausreise in den Westen. Woher soll da noch Widerstand kommen?

Sie sprechen von diesem Braindrain, den viele jetzt befürchten. Ich finde das zynisch. Wir können ja nicht erwarten, dass sie jetzt zu Märtyrerinnen werden, nur weil wir finden, dass die Opposition stark sein muss. Wir befinden uns schon mitten in einer Hungerkatastrophe. Jeder dritte leidet an Hunger.

Sie haben jetzt mit anderen Frauenrechtlerinnen die Organisation „Defend Afghan Women’s Rights“ gegründet. Was raten Sie diesen Frauen? Sollen sie in ihrem Land ausharren? Oder helfen Sie ihnen bei der Ausreise?

Beides. Mein Verein Hawar Help ist entstanden aus der Asche des Völkermordes an den Jesiden. Wir betreiben seit sieben Jahren Frauenhäuser im Irak, die sich um die Frauen kümmern, die vom IS vergewaltigt, zwangsverheiratet und verkauft wurden.

Was macht das mit den Frauen?

Die sind hochtraumatisiert. Viele haben Selbstmordversuche hinter sich.

Wie können Sie ihnen helfen?

Früher hat sich Entwicklunghilfe fokussiert auf Alphabetisierung. Bei uns geht es um Digitalisierung und Unternehmertum. Die Frauen lernen, sich mit einem eigenen Geschäft selbstständig zu machen. Sie werden zu Ernährerinnen und Vorbildern für ihre Kinder. Ein klassisches Beispiel für Fluchtursachenbekämpfung. Deswegen muss die Außenpolitik die Frauen in den Mittelpunkt rücken.

Und wie geht es jetzt weiter mit den Frauen in Afghanistan?

Die Machtergreifung der Taliban trifft Frauen, die als Richterinnen, Journalistinnen oder Schauspielerinnen gearbeitet haben. Denen wird plötzlich das Auto weggenommen. Im Nahen Osten ist das etwas ganz Wichtiges. Das Auto ist nicht nur ein Auto. Es ist ein Lebensraum. Plötzlich sollen die auch eine Burka tragen. Die meisten wissen gar nicht, wie man darin läuft, ohne sich zu verletzen.

Jetzt verhandelt die Bundesregierung mit den Taliban. Sie will die Zahlung von Entwicklungshilfe davon abhängig machen, ob die Gotteskrieger die Werte des Westens wie Frauen- und Kinderrechte akzeptieren. Lassen sich die Taliban mit Geld unter Druck setzen?

Nein, diese Erfahrung haben wir ja mit dem EU-Türkei-Deal und dem türkischen Präsident Erdogan gemacht haben. Wir haben uns erpressbar gemacht. Erdogan hat doch erst eingelenkt, als der damalige Außenminister Sigmar Gabriel die Hermes-Bürgschaften in Frage gestellt hat. Aus diesen Fehlern müssen wir lernen.

Lehnt die Bundesregierung die Zahlungen an die Taliban ab, riskiert sie, dass Menschen verhungern. Zahlt sie das Geld, riskiert sie, dass die Taliban das Geld für andere Zwecke ausgeben und ihre Forderungen ignorieren. Wie kommt die Regierung aus diesem Dilemma wieder heraus?

Genau da müssen wir ansetzen. Wenn wir nicht zahlen, dann zahlen andere Länder wie Pakistan oder die Türkei. Wir können uns aus der Sache aber nicht herausziehen. Dann würden wir der Islamisierung Vorschub leisten. Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik mit der EU.

Brauchen wir nicht erst mal eine deutsche Außenpolitik?

Gute Frage. Heiko Maas hat sich auch schon in der Türkei-Politik nicht mit Ruhm bekleckert. Ich stehe in Kontakt mit Organisationen in Afghanistan, die versuchen, die Härtefälle außer Landes zu bringen. Wir hören, dass der Außenminister ihnen Schnell-Visa verschaffen will. Bisher haben sie aber noch keine bekommen. Es herrscht Chaos. Eine absolute Überbürokratisierung. Ministerium A weiß nicht mehr, was Ministerium B macht.

War die Evakuierungsmission der Bundesregierung nicht auch für bedrohte Frauen gedacht?

Richtig, es war aber schon bezeichnend, dass auf den Evakuierungflügen zwar ein verurteilter Vergewaltiger gelandet ist – aber die Frauen, die auf der Liste standen, noch nicht mal den Flughafen erreicht haben.

Was fordern Sie jetzt konkret?

Sonderkontingente für bedrohte Frauen und ihre Kinder. Ein humanitäres Aufenthaltsrecht. Integrationsmaßnahmen. Es muss auch Geld fließen, aber nicht an die Taliban. Wir haben innerhalb von 14 Tagen 160.000 Euro gesammelt. Die haben wir schon verteilt. Das Geld muss direkt an die Opposition und an die zivilgesellschaftlichen Akteure und an die Nichtregierungsorganisationen gehen. Es muss eine Afghanistan-Konferenz mit allen beteiligten Akteuren geben.

Gerade war die afghanische Frauenrechtlerin Zarifa Ghafari mit diesen Forderungen bei der Bundeskanzlerin. Ist sie mit Ihren Forderungen auf offene Ohren gestoßen?

Ach, wissen Sie. Mir kam das Treffen vor wie ein Déjà-vu-Erlebnis. 2016 war ich schon mit der Jesidin Nadia Murad bei der Kanzlerin. Es ist ein großer Respekt da vor diesen Frauen, vor denen sich selbst politische Entscheidungsträger nicht wegducken können. Es sind aber diese Frauen, die den Unterschied machen, nicht die Mächtigen. Nadia Murad hat den Friedensnobelpreis dafür gewonnen, dass sie dafür gesorgt hat, dass die jesidischen Frauen nicht vergessen werden. Inzwischen haben wir viele Nadia Murads.

Ende September läuft das Mandat der Bundswehr für Afghanistan aus. Haben Sie nicht Angst, dass dann auch das Interesse für die Situation der Frauen schlagartig nachlässt?

Ja, das habe ich. Aber unsere Verantwortung hört nicht auf nach dem Abzug der Bundeswehrsoldaten. Sie fängt jetzt erst an.

Das Interview führte Antje Hildebrandt.

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