Nach dem Flugzeugabsturz - Wie in Russland über Prigoschins Tod spekuliert wird

Im russischsprachigen Internet werden verschiedene Erklärungen des Flugzeugabsturzes angeboten, bei dem wahrscheinlich der Söldner-Führer Jewgeni Prigoschin den Tod fand.

Informelle Gedenkstätte beim ehemaligen PMC-Wagner-Zentrum / picture alliance
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Die Moskauer Zensurbehörde ist weit davon entfernt, alle Internetportale und Blogger zu kontrollieren, die permanent über Hintergründe des russisch-ukrainischen Kriegs spekulieren und oft mit angeblich sensationellen Informationen aufwarten. So liefert das russischsprachige Internet auch eine Fülle von Versionen über den Absturz des kleinen Privatjets, bei dem Jewgeni Prigoschin den Tod gefunden haben soll, sowie über die Zukunft der von ihm geführten Wagner-Truppe.

Einige der schon lange mit Kremlchef Wladimir Putin hadernden Militärblogger, die ein viel härteres Vorgehen gegen die Ukraine fordern, deuten mehr oder weniger offen an, dass dieser den Auftrag zu dem mutmaßlichen Anschlag auf das Flugzeug erteilt habe. Es sei ein Racheakt für die Demütigung des Kremlchefs durch die Rebellionsfarce Prigoschins vor genau zwei Monaten, als mehrere hundert schwer bewaffnete Wagner-Söldner mit Panzerwagen und Militärlastern Richtung Moskau unterwegs waren und erst 200 Kilometer vor der Hauptstadt umkehrten. Putin hatte damals in einer dramatischen Rede, die das Fernsehen fast den ganzen Tag alle halben Stunden übertrug, von einer „Gefahr für das Mutterland“ und „Verrat“ gesprochen, überraschend aber mehrere Tage später Prigoschin empfangen. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko, der wie Putin aus dem KGB hervorgegangen war, hatte den offiziellen Medien zufolge damals vermittelt und den Wagner-Söldner kollektives Asyl in seinem Land angeboten.

Die im Exil erstellte englischsprachige Internetzeitung Moscow Times vertrat in ihrem Kommentar entschieden die Version von einer Strafe des Kremls für den außer Kontrolle geratenen Kurzzeit-Rebellen. Putin habe ein Zeichen für alle seine Kritiker gesetzt, auch habe er nach dem Schwächemoment vor zwei Monaten zeigen müssen, dass er allein entscheiden könne und unangefochten der starke Mann an der Spitze des Machtapparats sei.

 

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Auch das Nachrichtenportal Meduza, dessen ins Exil gegangene Redaktion offenkundig über Kontakte in den inneren Zirkel des Kremls verfügt, sieht Putin als Auftraggeber. Dieser habe Prigoschin für ein „Sicherheitsrisiko“ gehalten und ihm weitere Eskapaden zugetraut, die der Reputation des Kremlchefs weiter schaden könnten. Diskutiert wurde im Netz aber auch über eine den Kreml entlastende Version: Die Täter seien unter den Verfechtern einer Ausweitung des Krieges zu suchen. Ihr Ziel sei es gewesen, einerseits Putin in den Augen der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren, andererseits aber ihm auch ihre eigenen Möglichkeiten zu demonstrieren. Nach dieser Version hatten Putin und Prigoschin sich in der Tat wieder ausgesöhnt, der Tod des vom Kreml noch benötigten Söldnerführers sei also auch ein Schlag für Putin gewesen.

Militärexperte glaubt an Terroranschlag

Der bekannte Militärexperte Juri Fjodorow wollte sich zwar nicht zu Hintergründen festlegen, erläuterte aber auf Telegram, dass den Videoaufnahmen vom Absturz des Flugzeugs zufolge eine Bombenexplosion in der Luft vorangegangen sein müsse. Es habe sich also um einen präzise ausgeführten Terroranschlag gehandelt. Er schloss einen Triebwerksschaden ebenso aus wie den Abschuss der Maschine durch eine kleine Boden-Luft-Rakete aus den Beständen der Luftabwehr der Landstreitkräfte.

Wohl bewusst unklar war der Kommentar Margarita Simonjans gehalten, der Chefin der RT-Senderfamilie, die als Sprachrohr Putins gilt. „Unter all den Versionen tauchte auch die einer Inszenierung auf. Ich neige hingegen dazu, die Erklärung im Offensichtlichen zu suchen“, erklärte sie. Offenkundig bezog sie sich auf Spekulationen, dass Prigoschin noch lebe; die Version, er habe sich an Bord befunden, solle verschleiern, dass er untergetaucht sei, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen. In Wirklichkeit werde er wegen des Einsatzes der Wagner-Truppe in Afrika noch vom Kreml gebraucht.

Wagner-Truppe mit neuem Namen?

In eine gänzlich andere Richtung gingen Kommentare aus der belarussischen Opposition, die in Warschau, Riga und Berlin Zuflucht gefunden hat: Der Tod Prigoschins sei ein Warnschuss für Lukaschenko, der nach der Vermittlung zwischen Putin und Prigoschin vor zwei Monaten wieder neues Selbstbewusstsein demonstriert habe. So hatte er nicht nur mehrere tausend Wagner-Söldner in Belarus aufnehmen lassen, sondern sogar verkündet, dass jeder von ihnen in den Streitkräften seines Landes willkommen sei. Aus russischer Sicht war dies eine unerhörte Provokation. Ohnehin gilt in Moskau als verbürget, dass Lukaschenkos Weigerung, eigene Einheiten in den Krieg gegen die Ukrainer zu schicken, den Kreml verärgert hat.

Die Rolle der Wagner-Söldner im Krieg gegen die Ukraine dürfte mit dem Tod Prigoschins ausgespielt sein. Doch dass die Truppe aus Afrika abgezogen wird, ist unwahrscheinlich. Zu erwarten ist vielmehr, dass sie dort, wo sie den Abbau strategisch wichtiger Rohstoffe kontrolliert und davon auch finanziell profitiert, ihre Positionen ausbaut, vermutlich unter neuem Namen.

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