Flüchtlingslager in Griechenland - „Solidarität herrscht schon sehr lange nicht mehr“

Die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern ist verheerend und spitzt sich weiter zu. Der Volt-Abgeordnete Damian Boeselager appelliert an die gesamte Europäische Union, solidarisch zu denken – nicht nur wegen der drohenden Corona-Gefahr.

Ausnahmezustand – auch ohne Coronavirus / picture alliance
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Autoreninfo

Rixa Rieß hat Germanistik und VWL an der Universität Mannheim studiert und hospitiert derzeit in der Redaktion von CICERO.

 

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Damian Boeselager ist Mitbegründer der paneuropäischen Partei Volt. Seit der Europa-Wahl 2019 ist er Mandatsträger und sitzt als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament.

Herr Boeselager, Sie waren im November 2019 auf Lesbos. Schon damals galt die medizinische und hygienische Situation im Flüchtlingslager als verheerend. Was ist zu befürchten, wenn sich das Coronavirus dort ausbreitet?
Damals war die Situation schon so, dass ca. 16.000 Leute in Moria, einem Camp für 3.000 Menschen lebten. Es war vollkommen klar, dass das an sich schon eine humanitäre Katastrophe darstellt. Ich kann viel darüber erzählen, wie schrecklich die Situation damals schon war oder wie schlimm der Winter wurde, bevor irgendjemand etwas von Corona gehört hat. Mittlerweile ist die Situation noch schlimmer geworden – über 20.000 Menschen leben jetzt in Moria. Sobald sich das Coronavirus dort verbreitet, haben wir ein absolutes Horror-Szenario und viele Menschen werden sterben.

Damian Boeselager / Foto: Volt Deutschland

Es gibt ein Besuchsverbot und eine Ausgangssperre in den Lagern. Neben den hygienischen Zustände sind die Menschen teilweise traumatisiert. Was bekommen Sie mit, wie sich die Stimmung und die Lage entwickelt?
Die NGOs, die das Lagerleben einigermaßen ertragbar machen, in dem sie Freizeitangebote, rechtliche Unterstützung und psychologische Hilfe anbieten, ziehen sich gerade zurück. Zum einen, weil sie ihre Mitarbeiter dem Gesundheitsrisiko nicht aussetzen können und zum anderen weil die griechische Regierung allen nicht essentiellen NGOs – bis auf zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen– verbietet in die Lager zu gehen. Das Leben im Lager ist sowieso schon eine humanitäre Katastrophe. Die Helfer haben gerade noch so unsere europäischen Werte aufrecht gehalten und nun verschlimmert sich die Situation durch den Abzug der Hilfsorganisationen weiter.

Wegen der fremdenfeindlichen Übergriffe arbeiten medizinische Teams vor Ort gerade nur in Notfallbesetzung. Gibt es einen Notfallplan?
Nein, das macht alles noch viel schrecklicher. Es gibt keine Möglichkeit, sich vernünftig die Hände zu waschen oder sich zu isolieren. An einzelnen Wasserhähnen stehen bis zu 1.000 Leute an. Sobald das Virus ins Lager kommt, hat man also ein sehr hohe Ansteckungsrate. Über die Mortalitätsrate will ich gar nicht nachdenken.

Ohne Mediziner zu sein, höre ich von den Hilfsorganisationen, dass alle in den Lagern medizinisch vorbelastet sind. Die Situation ist für das einzelne Immunsystem eh schon sehr schwierig – es ist zu kalt, es gibt zu wenig Hygiene, Vorerkrankungen werden nicht behandelt. Die Bevölkerung in den Camps ist eine Risikogruppe an sich.

Stichwort „Solidarität“: Gerade im Hinblick auf Corona ist der Alleingang bzw. das Zusammenhalten der EU immer wieder Thema. Wie nehmen Sie das war? Funktioniert das bei der Bekämpfung des Virus besser als bei der Flüchtlingspolitik?
Das ist nicht besonders schwer, weil wir überhaupt nie solidarisch waren, was die Asylpolitik angeht. Die Mitgliedsländer, also die Innenminister, haben es seit 2015 nicht geschafft, sich auf ein gemeinsames Verhandlungsmandat zu einigen. Sie konnten sich noch nicht mal an einen Tisch setzten, wenn das Wort „Asyl“ auf der Agenda stand. Das heißt, „Solidarität“ herrscht da schon sehr lange nicht mehr.

Und im Bezug auf die Corona-Pandemie?
Was Corona angeht haben wir uns auch nicht mit Ruhm bekleckert – gerade als Deutsche. Es gab schon sehr früh Anfragen aus Italien für medizinisches Personal und medizinische Ressourcen. Und jetzt steht es schon noch aus, inwiefern die Europäische Union sowohl medizinisch als auch das ökonomisch eine gute gemeinsame Antwort finden wird. Ob uns das ehr zusammenschweißt oder ob wir zurück ins Nationale fallen.

Die Bedingungen auf Lesbos widersprechen in allem den Vorsorgemaßnahmen, um das Coronavirus an einer möglichen Ausbreitung zu hindern. Wie ist die Stimmung im Europäischen Parlament und bei den Abgeordneten? Inwieweit ist die Situation in Griechenland Thema? Fällt das unter den Tisch?
Die humanitäre Katastrophe wird zur Gesundheitskatastrophe. Das ist ein neues Level, weil man dann von vielen Toten und einem weitaus schlimmeren Horror auf europäischen Boden spricht. Da wird es dann sehr viel Aufmerksamkeit geben. Die Abgeordneten in der Grünen-Gruppe, in der ich für Volt sitze, haben mit den anderen politischen Gruppen großen Druck aufgebaut, dass sich Ylva Johansson, Kommissarin für Inneres, der Sache annimmt.

Heute habe ich gehört, dass sie versuchen will, die eigentlich versprochene Umsiedlung von unbegleiteten Minderjährigen aus den Lagern in europäische Länder wieder aufzugreifen – trotz oder gerade wegen der Corona-Krise. Ich hoffe, dass da Taten folgen. Es ist aber nicht genug.

… oder scheitert eine schnelle Umsiedlung am Ende an der Bürokratie?
Eigentlich nicht. Sobald mehrere Länder sagen, dass sie die Asylsuchenden aufnehmen, kann die IOM (International Organisation for Migration) und können andere Organisationen relativ zügig den Transport organisieren. Das ist eine Frage des politischen Willens. Das ist dann noch keine systematische Lösung, aber zumindest eine Lösung für die Leute, die gerade vor Ort sind.

Sind manche Politiker gar ganz froh um die Pandemie, weil sie von der Situation der Flüchtlinge in Griechenland ablenkt?
Ich würde niemanden unterstellen, dass er sich freut, dass Corona existiert. Dass es welche gibt, die sich freuen, dass der Fokus von der Flüchtlingsdebatte weggeht, kann ich mir eigentlich auch nicht vorstellen. Die Rechten brauchen den Skandal, die Progressiven wollen die Situation dort nicht unter den Tisch kehren.

Dass Griechenland das Grundrecht auf Asyl für alle, die nach dem 1. März irregulär nach Griechenland gekommen sind, für einen Monat ausgesetzt hat, stößt kaum auf Kritik. Wie kann das sein?
Ich habe tatsächlich eine offene Anfrage an die Kommission geschrieben, um genau das zu fragen. Wir machen uns dadurch erpressbar, dass wir kein funktionierendes Asylsystem haben. 20.000 Leute sind ein Witz im Vergleich zur gesamteuropäischen Bevölkerungszahl. Das einzige, was Frau von der Leyen getan hat, seit dem Griechenland gegen internationales, europäisches und nationales Recht verstößt und das Asylverfahren ausgesetzt hat, ist dem Land zu gratulieren und zu sagen: „Ihr seid das Schild Europas.“ Aber nochmal: Das ist nicht Griechenlands Verantwortung allein. 

Es braucht jetzt also substanzielle Antworten. Wie sehen die aus?
Kurzfristig muss man diese Asyllager auf den griechischen Inseln evakuieren. Punkt. Das ist notwendig, wenn man nicht die Verantwortung dafür tragen will, das Menschen in diesen Lagern sterben. Das ist ganz klar. Selbst wenn man Migration und Asyl nicht positiv gegenüber eingestellt ist, geht es jetzt nur darum: „Wie gehe ich mit den Menschen um, die jetzt in diesen Lagern leben.“

Zurückschicken kann man sie nicht – das funktioniert nicht. Man kann also fragen: „Sind sie selber schuld?“ und keine Lösung finden – was ich für menschenverachtend halte – oder sagen „Wir finden eine Lösung. Wir nehmen unsere Verantwortung für diese Menschenleben an.“ Längerfristig müssen wir unsere Regierungschefs dazu kriegen, sich auf ein gemeinsames Asylsystem zu einigen.

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