Flüchtlinge an der östlichen EU-Außengrenze - Lukaschenkos inszenierte Tragödie

Der Zustrom illegaler Migranten über Belarus nach Polen oder Litauen wird immer mehr auch zu einer Herausforderung für Deutschland und die gesamte EU. Stoppen könnte diesen vor allem der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Doch er hat kein Interesse daran und riskiert damit eine humanitäre Tragödie an der östlichen EU-Außengrenze.

Bundespolizisten stehen neben einer Gruppe von Migranten, die über die deutsch-polnische Grenze gekommen waren / dpa
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Für den Sonntag vermeldete der polnische Grenzschutz 508 Versuche eines illegalen Grenzübertritts. Am Samstag waren es 373, Freitag 457, Donnerstag 633, Mittwoch 600, Dienstag 424, Montag 612 und das gesamte vorletzte Wochenende 1.066. Diese tägliche Zahlenliste von der polnisch-belarussischen Grenze ließe sich locker fortsetzen, immer mit dem Wissen, dass alle 24 Stunden die Zahlen vom gesamten vergangenen Jahr locker in den Schatten gestellt werden. 2020 verzeichnete der polnische Grenzschutz laut eigener Angaben insgesamt 122 illegale Grenzübertritte. Im September dieses Jahres waren es insgesamt 7.535.

All diese Zahlen offenbaren, wie sich in den vergangenen Wochen die Situation an der polnischen Grenze zu Belarus dramatisch zugespitzt hat. Trotz eines Ausnahmezustands, den die Regierung in Warschau Anfang September für die Grenzregion ausgerufen und mittlerweile mit Zustimmung des Parlaments auch verlängert hat, der Unterstützung des Grenzschutzes durch das Militär, der Errichtung eines Zauns und Warnnachrichten, welche die polnische Regierung per SMS an die Migranten in der Grenzregion verschickt, entspannt sich die Situation an der Grenze nicht. Vergangene Woche sorgte der Tod eines 19-jährigen Syrers für Bestürzung, dessen Leichnam polnische Taucher aus dem Grenzfluss Bug geborgen haben. Laut Aussagen seines ebenfalls aus Syrien stammenden drei Jahre älteren Begleiters, wurden die beiden Männer von belarussischen Grenzsoldaten mit einem Schlauchboot auf den Fluss gedrängt. Schwimmen konnten beide nicht. Insgesamt starben bisher sieben Migranten in der Notstandsregion. Am Montag wiederum meldeten die polnischen Behörden zwei verletzte Soldaten, die am Sonntag bei Auseinandersetzungen mit Migranten, welche von der belarussischen Seite aus den Grenzzaun stürmen wollten, zu Schaden kamen.

Wunschziel Deutschland

Es ist eine Entwicklung, die mittlerweile nicht nur Polen oder Litauen betrifft, wo Lukaschenko illegale Migranten bereits im Sommer als „hybride Waffe“ benutzt hat, sondern auch Deutschland. Auch hier steigt die Zahl der illegalen Migranten, die aus Belarus über Polen nach Deutschland kommen, dem Wunschziel des Großteils der nach Polen kommenden Migranten. Der polnischen Seite kann man jedoch bei all ihren Bemühungen nicht den Vorwurf machen, diese einfach nach Deutschland durchzuwinken, auch wenn es in den nationalkonservativen Kreisen vereinzelte Stimmen gibt, diese auch als Druckmittel im aktuellen Streit mit der EU zu nutzen.

Denn trotz eines strengen Regimes und in Polen zum Teil auch umstrittenen knallharten Regimes an der Grenze zu Belarus, bei dem auch Familien mit Kindern auf die belarussische Seite zurückdrängt werden, ist es schlicht unmöglich, diese lückenlos zu bewachen. Was nicht nur an den dichten Wäldern liegt, welche die Region prägen, sondern auch an den nachrückenden Migranten. In Kanälen der belarussischen Opposition tauchen regelmäßig Aufnahmen aus Minsk auf, auf denen Hunderte Migranten im Flughafen oder in der Stadt zu sehen sind. Zudem tut sich die EU bisher schwer, auf den vom belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko organisierten Schlepperdienst eine adäquate Antwort zu finden. Ob die von Außenminister Heiko Maas vergangene Woche ins Spiel gebrachten Sanktionen gegen die belarussische Fluglinie Belavia erfolgsversprechend sind, darf jedenfalls bezweifelt werden. Was nicht nur an den geschäftlichen Beziehungen von EU-Unternehmen zur staatlichen Fluggesellschaft aus Belarus liegt. Der Transport der Migranten aus dem Nahen Osten entwickelte sich mittlerweile auch zu einer Einnahmequelle für dortige Unternehmen wie der Billigfluglinie Flydubai, die sich im Besitz des Emirats Dubai befindet.

„Der böse Westen“

Die effektivsten Maßnahmen gegen die Krise an der östlichen EU-Außengrenze könnten jedoch nur von deren Urheber Lukaschenko selber kommen. Doch der belarussische Machthaber macht momentan keine Anstalten, diesem Treiben, das unter dem Decknamen „Schleuse“ bereits vor zehn Jahren von belarussischen Geheimdiensten ausgearbeitet worden sein soll, ein Ende zu bereiten. Eher im Gegenteil. Tomasz Praga, Hauptkommandeur des polnischen Grenzschutzes, und andere Experten fürchten, dass das Regime in Minsk die Flüchtlinge in die Ukraine leiten könnte, damit diese von dort nach Polen und somit in die EU gelangen.

Und auch politisch hat Lukaschenko momentan kein Interesse einzulenken. Denn die von ihm ausgelöste Krise ist nicht nur Rache für die Sanktionen, welche die EU als Reaktion auf die mutmaßlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom August vergangenen Jahres verhängte, sie dient ihm auch als propagandistisches Mittel. „In den staatlichen Medien werden Polen, Litauen und die EU als kaltherzig dargestellt. Teilweise werden westliche Politiker wie Polens Präsident Duda mit Hitler verglichen“, erklärt der belarussische Journalist und Mitbegründer des oppositionellen Nachrichtenkanals Nexta, Tadeusz Giczan, gegenüber Cicero. Damit spielt Giczan auf die in der belarussischen Hautstadt erscheinende Tageszeitung Minskaja Pavda an, die das polnische Staatsoberhaupt Ende September auf ihrer Titelseite mit einem Hitlerbärtchen aus einem Strichcode darstellte. Weniger drastisch formuliert die staatliche Nachrichtenagentur Belta, doch auch in ihrer Berichterstattung gibt es für die angespannte Situation an der Grenze nur einen Verantwortlichen: den bösen Westen, „der Belarus die Schuld in die Schuhe schiebt“.

Gefahr einer humanitären Tragödie

„Doch die wahre Propagandaschlacht führt das Lukaschenko-Regime in den sozialen Medien, wie beispielsweise auf bestimmten Kanälen bei Telegram. Da die Belarussen zum Großteil den staatlichen Medien misstrauen, sind soziale Medien ihre Hauptinformationsquelle“, erläutert Giczan. „Doch egal ob in den klassischen Medien oder in den sozialen Netzwerken, eine wichtige Frage und Antwort unterschlagen die Propagandisten: Wie kommen die vielen Migranten überhaupt nach Belarus?“, so der belarussische Journalist weiter.

Sollte sich nichts ändern, dürfte das Regime von Lukaschenko in den nächsten Monaten noch mehr negative Nachrichten über die EU verbreiten. Je herbstlicher es wird, desto kälter werden die Temperaturen im Osten Polens. Schon jetzt fällt das Thermometer nachts unter den Gefrierpunkt. Wetterverhältnisse, auf welche die zum Teil in Sandalen in den Wäldern herumirrenden Migranten nicht vorbereitet sind. Es droht eine humanitäre Tragödie, die der Verursacher Lukaschenko bewusst in Kauf nimmt.

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