Europas Sorge - Kalter Krieg mit China?

Mit dem 21. Jahrhundert kommt eine neue Weltordnung, die China heißt. Während die Chinesen auf der wirtschaftlichen Überholspur sind, hat Europa verschlafen. Es ist an der Zeit aufzuwachen, findet unser Gastautor Finn Wandhoff.

Chinas Staatspräsident Xi Jinping – der vielleicht mächtigste Mann des 21. Jahrhunderts? / dpa
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Autoreninfo

Finn Wandhoff ist seit 2017 Vorsitzender der Schüler Union, die rund 5.000 Mitglieder hat. Wandhoff hat 2019 in Plön, Schleswig-Holstein sein Abitur gemacht und arbeitet derzeit im Bundestag.

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Wenn der Mensch nicht über das nachdenkt, was in ferner Zukunft liegt, wird er das schon in naher Zukunft bereuen. – Konfuzius 

Vor 30 Jahren proklamierte Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“, als der Eiserne Vorhang fiel und meinte damit den vermeintlich endgültigen Sieg der westlichen Demokratien über die staatlich organisierte Unfreiheit in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Doch wer sehen will, wie die Geschichte der Unfreiheit weitergeschrieben wird, muss lediglich über die historische Route der alten Seidenstraße blicken, in einen jener damaligen sozialistischen Staaten, der von uns allen zu lange unterschätzt wurde.  

Lange schien der Westen in wirtschaftlichem Erfolg und globalem Einfluss konkurrenzlos. Die neunziger Jahre beendeten den letzten politischen Großkonflikt des 20. Jahrhunderts und leiteten zeitgleich eine neue wirtschaftliche und sogar gesellschaftliche Ära ein – die der Digitalisierung. Von beidem profitierte der Westen gewaltig, namentlich Europa und vor allem die USA. Die Hauptschauplätze weltpolitischer Konflikte verkleinerten sich – geographisch und in ihrer Wirkung. Sie verlagerten sich von Berlin nach Bagdad, Kuwait und Kabul und entfernten sich damit auch von unserer Lebenswirklichkeit. 

Das ökonomische Trinkgelage des 20. Jahrhunderts

Die Welt war high, betrunken von wirtschaftlicher Sorglosigkeit und gesellschaftlicher Harmonie. Höchstens hier und dort kleinere Störungen. In diesem ökonomischen Trinkgelage waren wir lange gleichzeitig der größte Gönner und Genießer, besonders im Umgang mit den Schwellenländern des fernen Ostens, wo man sich die längste Zeit dankbar zeigte für die launige Festgesellschaft aus Europa und Nordamerika. So konnte in dieser Hinsicht in übergroßem Maße voneinander profitiert werden. Wirtschaftlich gesehen war dieses Verhältnis also absolut sinnvoll. Nur haben wir, die Europäer, die politische und historische Dimension unserer schier grenzenlosen Investitionsbereitschaft offenbar unterschätzt und in beinahe eurozentristischer Arroganz fehlinterpretiert. Wir waren, so scheint es, in einem wohligen Rausch – und warum ausnüchtern, wenn man sich doch wohl fühlt?

Inzwischen ist China in der Poleposition für das machtpolitische Rennen des 21. Jahrhunderts. Im Fernen Osten gibt es Wirtschaftswachstumszahlen, von denen die Länder des Westens nur träumen können, eine ebensolche Demographie, ein riesiger Binnenmarkt, der täglich aus europäischer Sicht in nicht begreifbaren Dimensionen wächst, und einen ebensolchen geopolitischen Einfluss.

Zudem hat China eines nicht, worauf wir gut verzichten könnten – nämlich jenen schweren, sperrigen Klotz am Bein, der zuweilen selbst einigen Staaten des Westens lästig zu werden scheint: den demokratischen Rechtsstaat. Das alles sind Realitäten, die überwiegend weder die westliche Öffentlichkeit noch ihre Politik hinreichend realisiert zu haben scheinen. Letztere wähnt sich viel lieber noch immer im Glanz der Nachkriegsepoche, wie ein alter Hollywoodstar, der das Ende seiner Karriere nicht begreift, weil die Sonne noch immer jeden Tag so schön auf seine Villa in den Beverly Hills scheint. 

China in der Poleposition des 21. Jahrhunderts

Am Rausch ist nicht der Wein schuld, sondern der Trinker. – Konfuzius

Fukuyama hat also Recht behalten, zumindest was den Westen betrifft. Denn die Geschichte wurde weitergeschrieben, nur nicht hier. Aber worin liegen die Gründe für die selbstverschuldete globale Umordnung – und vor allem: Was ist eigentlich so schlimm daran? Ist das, was wir erleben, nicht einfach der Lauf der Zeit? So wie er immer war? 

Helmut Schmidt hat als Wirtschafts- und Finanzminister und später als Bundeskanzler bereits erkannt, welche ökonomische Gewalt im fernen Osten erwacht. Was nicht heißt, dass er eine Gefahr darin sah, im Gegenteil: Zeit seines Lebens zeigte er sich im positiven Sinne beeindruckt von der Expansionskraft des Konfuzianismus (den er nebenbei für das chinesische System als ideologisch viel entscheidender sah als etwa den Sozialismus).

Bei Schmidt drückte sich das in der Überzeugung aus, man dürfe mit den eigenen Moralvorstellungen nicht zu überheblich sein und vor allem gegenüber China nicht ökonomisch missgünstig werden. Ohne bei Schmidt hängenzubleiben – dessen politisches Vermächtnis ein ganz anderes ist – verdeutlicht diese Geschichte ein historisch mal schneller, mal langsamer gewachsenes Problem deutscher, mittlerweile europäischer Außenpolitik: eine prinzipielle, globale Systemtoleranz unter Aufgabe eigener freiheitlicher Überzeugungen und zu Gunsten einfacher und ökonomisch ergiebiger Beziehungen.

Die Zementierung Deutscher Außenpolitik

Dieser Ansatz strahlt heute über politische Lager hinweg bis in die aktive deutsche Außenpolitik und wurde in den vergangenen Jahren beinahe zementiert. Unter anderem, weil der gegensätzliche Versuch Amerikas, westliche Werte in einige unfreie Systeme des Nahen Ostens zu exportieren, großartig gescheitert ist. Aber auch bei dem Versuch einer sogenannten Nationenbildung standen kurzfristige, ökonomische Interessen im Vordergrund anstelle von freiheitlichen Bestrebungen. Trotzdem hat diese Randnotiz der jüngeren Geschichte völlig dafür ausgereicht, jene moralische Zurückhaltung in der Außenpolitik zu festigen. 

Für uns hatte das bisher kaum negative Folgen, denn es ging fast ausschließlich um Zustimmung oder Ablehnung der außenpolitischen Agenda der anderen. Dass aber Europa in den kommenden Jahren – um nicht von Monaten zu sprechen – in jeder Hinsicht laufen lernen muss, wird momentan durch abziehende US-Truppen aus Deutschland verbildlicht. Dass im Übrigen chinesische Coronahelfer in Italien und Griechenland dafür nicht ausreichten, verdeutlicht den immensen Handlungsdruck.  

Die neue Weltordnung

Glatte Worte und schmeichelnde Mienen vereinen sich selten mit einem anständigen Charakter. – Konfuzius 

Wollen wir also in der neuen Weltordnung bestehen, müssen wir unser außenpolitisches Denken neuordnen, mehr noch: Wir müssen ein globales Leitmotiv formulieren. Dieses Leitmotiv kann und darf sich nicht im deutschen Nachkriegspragmatismus und seinen primär wirtschaftlichen Interessen begründen, wie es sich einige Konservative wünschen. Es darf aber genauso wenig vor lauter unumstößlicher Moral, wie sie einige Linke gerne einfordern, ein praktisch unanwendbares Motiv sein.

Das 21. Jahrhundert wird für Europa nur einen Kanon aus beidem zulassen. Was wir benötigen, ist also eine konsequentere Umkehr der alten Außenpolitik der interessegeleiteten Prinzipien hin zu einer Politik der prinzipiengeleiteten Interessen. Die Konfrontation mit China wird auf allen Ebenen so groß sein, dass man zu praktischen Entscheidungen gezwungen sein wird, gleichzeitig stehen unsere ureigenen Grundwerte aber derart unter Beschuss, dass wir uns Entscheidungen ohne klare Prinzipien nicht werden leisten können. Die Verbindung von Pragmatismus und Moral ist im Umgang mit China sogar Voraussetzung, denn China wird einen Partner kaum ernst nehmen, der sich und seine eigenen Werte nicht konsequent vertritt. 

Angst vor einem neuen Kalten Krieg mit China

Um zu erkennen, wie dringend eine solche Veränderung in der deutschen und Europäischen Außenpolitik ist, muss man China nicht einmal totale Weltmachtbestrebungen unterstellen, die Peking ja natürlicherweise immer wieder von sich weist. Es reicht völlig aus zu erkennen, dass China seit Jahren die Ressourcen und den Willen aufbringt, überall dort freien Raum einzunehmen, wo andere Platz lassen. Und das genügt in einer Welt, in der kein anderer in der Lage ist, diesen Raum zu verteidigen. Das trifft auf die chinesische Einflussnahme in Afrika zu wie auch auf das häufig angeführte Konjunktur- und Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße und letztlich auch auf jene chinesischen Hilfslieferungen nach Südeuropa während der Corona-Pandemie. 

Wem China Angst vor einem neuen Kalten Krieg macht, der liegt vermutlich nicht falsch. Aber der größte Fehler im Umgang mit Peking wäre Harmonie um der Harmonie Willen. Abgesehen davon, dass es keine positiven historischen Beispiele für Appeasement gibt, geht es im Angesicht der gewaltigen politischen Expansion Chinas nicht mehr einfach um Freundschaft oder Feindschaft, sondern um nicht weniger als Individualismus oder Kollektivismus, Menschenwürde oder Ressource Mensch, Freiheit oder Unfreiheit. In diesem Konflikt hat die Harmonie keinen alleinstehenden Wert, sondern muss unbedingt an Bedingungen geknüpft werden, die wir vorgeben müssen. Eine neue bipolare Weltordnung darf nicht zu einem Dogma oder gar forciert werden, aber ihre drohende Gefahr kann niemals zum Argument für die Akzeptanz chinesischer Narrative werden. 

Kant und nicht Konfuzius

Europa steht vor der historischen Aufgabe, sich als Gemeinschaft neu zu erfinden und seinen souveränen Platz in einer neuen politischen Ordnung einzunehmen. Was die USA in der Nachkriegsepoche waren, werden sie in diesem Jahrhundert mit steigender Wahrscheinlichkeit nicht mehr sein können. Der neue systemische Rivale wird anders sein als Sowjetrussland – genauso wie die Konflikte andere sein werden. In diesem veränderten Gefüge müssen wir einen unverrückbaren Platz für die moralischen Werte des Westens einnehmen, weil es sonst keiner tun wird. In dieser Aufgabe liegt die Chance, uns über innereuropäische Konflikte hinaus als Gemeinschaft zu identifizieren, die einiges mehr teilt als eine Währung und eine Gurkenkrümmungsnorm – und deren Philosophen Kant oder Descartes heißen und nicht Konfuzius.
 

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