EU-Stabilitätspakt - Längst schon ein zahnloser Tiger

Bundesfinanzminister Christian Lindner legt Widerspruch gegen die Reformpläne des Stabilitäts- und Wachstumspakts ein. Doch wäre Lindner daran gelegen, die Währungsunion auf eine solide Grundlage zu stellen, müsste er für einen grundlegenden Neustart werben.

Das Gebäude der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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Am 23. März 2020 aktivierten die Finanzminister der Europäischen Union die „Ausweichklausel“ des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um ihren Staaten Spielraum zur Neuverschuldung in der Zeit der Coronapandemie zu geben. Im Jahr darauf erneuerten sie die Aktivierung, da die Pandemie die Welt immer noch im Griff hatte. Und nachdem Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hatte, setzten sie die Bestimmungen gleich bis Ende 2023 aus.

Gegenwärtig ist ein weiterer Grund für die Beibehaltung der Ausweichklausel nicht in Sicht, so dass im kommenden Jahr eigentlich die Rückkehr zum Pakt anstünde. Inzwischen sind aber vor allem die lateineuropäischen Länder so überschuldet, dass niemand mehr an die Rückkehr zum alten Pakt glaubt. Um nicht zur Lachnummer zu werden, soll folglich der Pakt an die neue Wirklichkeit angepasst – also weichgespült – werden.

Die Europäische Kommission will künftig stärker auf die individuellen Umstände der EU-Staaten eingehen. Die Maastricht-Obergrenzen eines Haushaltsdefizits von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und einer Staatsverschuldung von 60 Prozent sollen zwar unverändert bleiben. Aber statt der Verpflichtung, jährlich ein Zwanzigstel der Verschuldung über 60 Prozent abzubauen, sollen die EU-Staaten nur noch Pläne vorlegen, in denen sie ihre finanzpolitischen Ziele, Maßnahmen zur Schuldenreduktion sowie Reformen und Investitionen für vier oder sieben Jahre erarbeiten. Diese Pläne sollen von der Kommission bewertet und von den Mitgliedsländern auf der Grundlage gemeinsamer Kriterien gebilligt werden.

Pläne der Kommission sind ein Zugeständnis an Frankreich und Italien

Dabei will die Kommission allerdings drei Leitplanken einbauen: Solange das Haushaltsdefizit oberhalb von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, muss die Staatsschuldenquote um mindestens 0,5 Prozent pro Jahr zurückgehen. Zweitens will die Kommission für jeden Staat, dessen Finanzkennzahlen über den Maastricht-Kriterien liegen, einen „technischen Zielpfad“ für die Rückkehr zur Tugendhaftigkeit festlegen. Und drittens soll das Wachstum der staatlichen „Nettoausgaben“ (ohne Zinszahlungen und Arbeitslosenunterstützung) während der Laufzeit des Plans das Wirtschaftswachstum des Landes nicht übersteigen. Abgesehen davon sollen die Überwachung der Umsetzung vereinfacht und Verstöße leichter geahndet werden können. 

Die Pläne der Kommission sind vor allem ein Zugeständnis an Frankreich und Italien, deren Staatsschulden letztes Jahr bei 122 beziehungsweise 144 Prozent des BIP lagen. Vor allem dank der hohen Inflation sind die Schuldenquoten dieser Länder seit 2020 gesunken. Aber eine Rückkehr zu den geforderten 60 Prozent liegt in weiter Ferne. Schreibt man den Rückgang seit 2020 in die Zukunft fort, würde Frankreich 35 Jahre und Italien 16 Jahre brauchen, bis die Maastricht-Grenze erreicht ist. Dagegen lag die Staatschuldenquote in Deutschland letztes Jahr bei nur 66 Prozent. Sie würde in fünf Jahren auf 60 Prozent fallen, wenn man nur den Rückgang seit 2020 ohne weitere Anstrengungen der Bundesregierung in die Zukunft verlängert. 

 

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Kein Wunder also, wenn Finanzminister Lindner gegen die Reformpläne der EU-Kommission Widerspruch einlegt. Die bisherigen Vorschläge seien unzureichend, hieß es aus dem Finanzministerium. Je höher die Verschuldung, desto höher müsse der Anpassungsdruck sein. Hochverschuldete Länder sollten daher ihre Schuldenquote jährlich um mindestens ein Prozent, geringer verschuldete Länder um mindestens 0,5 Prozent senken müssen, bis die 60 Prozent Grenze erreicht sei. Und „das Regelwerk darf kein zahnloser Tiger bleiben“. Die Durchsetzung der Regeln sei entscheidend.

„Gut gebrüllt, Löwe“, möchte man dazu sagen. Aber der Stabilitätspakt ist schon längst ein zahnloser Tiger. Seit der Einführung der Euro-Schuldenregeln hat die EU-Kommission 37 Defizitverfahren gegen die Mitgliedstaaten eröffnet. Ein gewichtiger Dauersünder war Frankreich, das nur in sechs der 25 Jahre Währungsunion eine staatliche Neuverschuldung von höchstens drei Prozent des BIP aufweisen konnte und dessen Staatsschuldenquote nur in zwei Jahren weniger als 60 Prozent betrug.

Dennoch hat die EU-Kommission bis heute keine einzige Strafzahlung verhängt. Stattdessen hat sie immer wieder beide Augen zugedrückt und die Regeln des Pakts mehrmals verändert. Mit ihren neuen Reformvorschlägen setzt sie also nur den längst eingeschlagenen Weg der Anpassung statt Durchsetzung des Pakts fort. In Wahrheit geht es auch nicht um die Durchsetzung, sondern um die Wahrung des Scheins, dass die Stabilitätsregeln in der Währungsunion noch wirksam sind.

Fiskalregeln eröffnen Möglichkeit des „Trittbrettfahrens“

Jedes staatlich lizenzierte Kreditgeldsystem ist anfällig für die monetäre Finanzierung staatlicher Neuverschuldung. Denn der Staat kann die ihm unterstehende Zentralbank immer dazu bringen, für ihn neues Geld zu drucken. Was die Regierung davor zurückhält, ist die Angst, dass sie von den Bürgern aufgrund der daraus folgenden Inflation abgewählt wird. Schließen sich mehrere souveräne Staaten zu einer Währungsunion zusammen, ist die politische Sanktionierung einer inflationären Geldpolitik zur Staatsfinanzierung jedoch nicht mehr möglich. Auch wenn einer Regierung die Abwahl drohen würde, kann sie die Zentralbank nicht allein zu einem Kurswechsel zwingen. Folglich sind Regeln nötig, die der Zentralbank die monetäre Staatsfinanzierung verbieten und die Mitgliedstaaten der Währungsunion zur Fiskaldisziplin anhalten.

Diese Regeln eröffnen aber auch die Möglichkeit des „Trittbrettfahrens“. Wer es schafft, sie zu brechen, während sich andere daran halten, kann Staatsausgaben mit neuem Geld der Zentralbank finanzieren, ohne gleich unter dem sonst damit verbundenen Anstieg der Inflation zu leiden. Frankreich und Italien haben das mit der Währungsunion verbundene Privileg zum Aufbau hoher Staatsverschuldung genutzt. Und Italien hat in der Eurokrise die Europäische Zentralbank dazu gebracht, als Kreditgeber der letzten Instanz für Staaten in die monetäre Staatsfinanzierung einzusteigen. In der Zeit der Coronapandemie wurde der Schulterschluss von Geld- und Fiskalpolitik dann zur Skalierung der monetären Staatsfinanzierung genutzt. Um diese Politik abzusichern, ist es nun notwendig, andere Gründe als die monetäre Staatsfinanzierung als Ursache für die Inflation hervorzuheben und den Schein zu wahren, dass die Fiskalregeln noch vor monetärer Staatsfinanzierung schützen.

Lindner sollte für einen grundlegenden Neustart werben

Wäre Finanzminister Lindner daran gelegen, die Währungsunion auf eine solide Grundlage zu stellen, müsste er für einen grundlegenden Neustart werben, statt auf verlorenem Posten an den Fiskalregeln herumzudoktern. In der jüngsten Printausgabe von Cicero habe ich ausführlicher erklärt, wie ein solcher Neustart aussehen könnte. Kurz gesagt, könnte die anstehende Digitalisierung des Euro dazu genutzt werden, ein elektronisches Zentralbankgeld für jedermann zu schaffen, dessen Angebot strikt begrenzt und das deshalb zur monetären Staatsfinanzierung ungeeignet wäre.

Da als Deckungsstock für dieses Zentralbankgeld Staatsanleihen auf der Bilanz der Europäischen Zentralbank stillgelegt werden könnten, wäre mit der Umstellung des Euro auf digitales „Vollgeld“ auch ein einmaliger Schnitt der am Markt ausstehenden Verschuldung der Eurostaaten verbunden. Danach könnten die Staaten eine eigenständige Fiskalpolitik verfolgen, deren Spielraum durch die Möglichkeit des Staatsbankrotts begrenzt wäre. 

Dass der digitale Euro so kommen wird, ist jedoch unwahrscheinlich. Denn durch den Neustart würden viele Zentralbanker ihre hochdotierten Jobs, die Banker ihr lukratives Geschäftsmodell der Kreditgeldschöpfung und die Politiker ihren „Esel-streck-dich“ verlieren, der für sie auf Kommando neues Geld ausspuckt. Lieber handeln sie neue Fiskalregeln aus, die ebenso zahnlos sein werden wie die alten, aber den Schein wahren helfen, dass der Euro eine harte Währung sei.

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