Treffen von Erdogan, von der Leyen und Michel - Warum die EU für die Türkei nicht mehr attraktiv ist

Seit Jahren sind die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei angespannt. Auch das gestrige Treffen hat das wieder bestätigt. Kommissionspräsidentin von der Leyen bekam nur einen Platz am Rand – anders als Ratspräsident Charles Michel. Ein attraktiver Partner ist Europa für Erdogan nicht mehr.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel beim Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Ein fragendes „Ähm?“ begleitete nicht nur die kuriose Szene des Treffens zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und den Vertretern der EU, dem Ratspräsidenten sowie der Präsidentin der EU-Kommission. Das Wort fasst die Ergebnisse des Treffens auch knapp und präzise zusammen. Denn die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei sind seit Jahren angespannt, eskalieren immer wieder und mäandern richtungslos zwischen unbegründeten Hoffnungen und tief sitzenden Zweifeln – auf beiden Seiten. Das ist angesichts der geopolitischen Lage der Türkei für die EU suboptimal und angesichts der wirtschaftlichen Aussichten für die Türkei ärgerlich. Aber es spricht viel dafür, dass diese Lage zukünftig bestehen bleibt.

Jahrzehntelange Gespräche

Seit 2005 führt die Türkei Beitrittsgespräche mit der EU, nachdem das Land 1959 die Aufnahme in die EWG beantragt hatte, seit 1963 ein Assoziierungsabkommen besteht und es 1999 offiziell Beitrittskandidat wurde. Die Gespräche sind auch jetzt nicht mehr als ein Placebo, da große Widerstände gegen den Beitritt bestehen. Joschka Fischer beurteilte es als größten außenpolitischen Fehler der Regierungen Merkel, die Türkei nicht stärker eingebunden zu haben. Das hätte, so wurde häufig kommentiert, die Entdemokratisierung der Türkei möglicherweise verhindert, zumindest gemildert. Aber ohne Perspektive auf die EU orientiere sich die Türkei eben anders.

Zwischen allen Stühlen

Die aus innen- und außenpolitischen Entwicklungen gestützte Aussicht auf eine neo-osmanische Ordnung, die mit dem Arabischen Frühling 2010 zusätzlich geweckt wurde, brach rasch in sich zusammen. Seitdem schwingt die Türkei noch offensichtlicher zwischen verschiedenen Großmächten hin und her. Die Beziehungen zu China, verstärkt durch die Rolle als Dialogpartner in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit seit 2012, weckte kurzzeitig Hoffnungen oder Befürchtungen, je nach Interessenlage, blieben aber schmal.

Die Orientierung auf Russland führte zu einem Wechselbad im Beziehungsstatus, das Waffenkäufe und militärische Konfrontationen einschloss. Das Verhältnis zu den USA wurde bewusst beschnitten, vom Irakkrieg bis zur Raketenabwehr. Und die Stellung zur EU verortet sich seit Jahren zwischen Eskalation und Drohungen. Dabei ergänzen sich die Interessenlagen der EU-Staaten und der Türkei auf den ersten Blick. Beim zweiten Blick sieht das schon anders aus.

Wirtschaft und Währung

Denn die Hauptprobleme der türkischen Regierung sind die schlechte Wirtschafts- und miserable Währungslage. Deshalb besteht ein großes Interesse an intensiverem Wirtschaftsaustausch mit der EU und insbesondere an größeren Investitionen europäischer Unternehmen. Deshalb kann die Türkei den Rockzipfel des Beitritts und dessen Saum, die Auffrischung der Zollunion, nicht los lassen. Die EU hingegen hat gleich mehrere Probleme mit der Türkei.

Im Streit um Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer eskalierten die Konflikte mit den EU-Staaten Griechenland und Zypern soweit, dass Frankreich mit der Entsendung seiner Streitkräfte ein starkes Zeichen setzte. Frankreich stand zudem im Bürgerkrieg in Libyen auf der anderen Seite als die Türkei, die der EU die Durchsuchung von Schiffen verweigerte, die mutmaßlich Waffen in das Land brachten. Die Eskalation der militärischen Maßnahmen in Syrien, um die politische Emanzipation der Kurden zu unterbinden, wurde ebenfalls in der EU kritisch betrachtet. 

Entdemokratisierung der Türkei 

Dies setzt sich im Innern fort. Die Entdemokratisierung der Türkei nach dem gescheiterten Putsch 2016 und die prekäre Menschenrechtslage gipfelte erst kürzlich im Verbotsantrag gegen die kurdische HDP sowie der Ankündigung aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt auszutreten. Aber die Türkei verfügt über einen großen Hebel: Sie hat die Wächteraufgabe für die östliche EU-Außengrenze übernommen und droht immer wieder damit, die Migration offensiv für ihre Interessen einzusetzen.

Zur Anschauung geschah dies auch schon, als Geflüchtete mit Bussen an die griechische Grenze gefahren wurden. Das im März 2016 geschlossene Abkommen zur Begrenzung der Flüchtlinge hat zwar in der Praxis nicht funktioniert, schützt die EU-Asylpolitik aber symbolisch. Die Türkei hat nur wenige abgelehnte syrische Asylantragsteller aus Griechenland zurückgenommen, die hohen Zahlungen der EU haben die Lage der Geflüchteten in der Türkei verbessert. 

Schutz gegen Geld

Darum geht es im Kern auch jetzt: Für den Schutz der Grenze gibt es Geld aus der EU sowie eine andeutungsweise Beitrittsperspektive. Denn dass die Beitrittsgespräche Erfolg versprechen oder die Visafreiheit kurzfristig umgesetzt wird – hier stehen rechtliche Gründe entgegen – ist nicht abzusehen. In den Worten von EU-Ratspräsident Michel will die EU auf „abgestufte, verhältnismäßige und umkehrbare Weise“ mit der Türkei zusammenarbeiten. Dazu wird gerade erneut evaluiert, wie die EU die Versorgung und Bildung von Geflüchteten finanzieren kann.

Ein attraktiver geopolitischer Partner ist die EU für die Türkei hingegen schon länger nicht mehr. Solange die Türkei nicht selbst für eine der drei Großmächte ernstlich attraktiv ist und strategische Autonomie anstrebt, muss sie jedoch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa pflegen. Manchmal widerwillig, manchmal notgedrungen. Immer aber im Interesse, die Neuausrichtung ihrer politischen Ordnung nach 2016 zu stabilisieren. 

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