EU-Ratspräsidentschaft - Kein Happy End in Sicht

Sechs Wochen vor dem Ende der deutschen Ratspräsidentschaft rutscht die EU immer tiefer in die Krise. Das Finanzpaket, das Kanzlerin Merkel schnüren und an den Rechtsstaat binden wollte, ist geplatzt. Das liegt nicht nur an Victor Orban.

In der Sackgasse: EU-Ratspräsidentin Angela Merkel / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

So erreichen Sie Eric Bonse:

Anzeige

Im Brüsseler Europaviertel herrscht eine bizarre, fast schon surreale Stimmung. Die EU-Institutionen sind im Lockdown, wegen Corona kommt kaum noch ein Beamter oder Diplomat an seinen regulären Arbeitsplatz. Das EU-Budget ist blockiert, wegen eines Vetos aus Ungarn und Polen droht der Gemeinschaft bald das Geld auszugehen.

Der „historische“ Finanzdeal vom Juli liegt auf Eis. 1,8 Billionen Euro aus dem nächsten EU-Budget und dem neuen, schuldenfinanzierten Corona-Aufbaufonds können nicht ausgezahlt werden. Von der Krise besonders arg gebeutelte Länder wie Italien, Spanien oder Portugal warten händeringend auf die Finanzhilfen aus Brüssel. 

Business as usual im EU-Rat 

Doch im EU-Rat herrscht „Business as usual“. Bei einer Videokonferenz mit den 27 Staats- und Regierungschefs taten Ratspräsident Charles Michel und Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstagabend so, als habe man alles im Griff. Die Coronakrise werde bald überstanden sein, hieß es, zwei Impfstoffe stünden kurz vor der Zulassung. 

Und die Budgetkrise? Die sei ein zwar bedauerliches, aber durchaus lösbares Problem, erklärten Michel und Merkel nach gerade einmal 20-minütigen Blitz-Beratungen. Als amtierende EU-Ratsvorsitzende werde sie alle Optionen ausloten, beteuerte Merkel. „Da stehen wir noch ganz am Anfang“ – doch sie setze auf den guten Willen aller.

Die Fronten sind verhärtet wie nie 

Auch Michel gab sich optimistisch. „Die Magie der Europäischen Union liegt darin, dass es ihr gelingt, Lösungen zu finden, selbst wenn man davon ausgeht, dass dies nicht möglich ist“, säuselte der Belgier in gebrochenem Englisch. Man werde in den kommenden Tagen sehr intensiv daran arbeiten, die Schwierigkeiten zu lösen.

Es klang wie Pfeifen im dunklen Walde. Denn die Fronten sind verhärtet wie nie, die EU steckt in einer tiefen politischen und finanziellen Krise. Vor allem die geplante Bindung der Budgethilfen an die Rechtsstaatlichkeit – ein zentrales Versprechen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft – sorgt für bitterböse Kommentare.

Orban sieht sich als Opfer eines Komplotts  

Ungarns Regierungschef Viktor Orban behauptet, in Wahrheit gehe es gar nicht um den Rechtsstaat, sondern um die Migration. Die EU wolle all jenen das Geld kürzen, die sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aussprechen. Dahinter stecke der ungarischstämmige US-Investor George Soros, so Orban – eine durch nichts belegte Behauptung, die mit antisemitischen Klischees spielt.

Auch der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hat den Ton verschärft. Man wolle mit „willkürlichen Entscheidungen von Eurokraten“ gegen sein Land vorgehen, erklärte der rechtskonservative Politiker im Parlament in Warschau. Der Rechtsstaat werde zu Propaganda-Zwecken mißbraucht. Man sei dies aber schon aus dem Kommunismus gewöhnt und werde sich durchaus zu wehren wissen.

Merkel hat die Devise ausgegeben: Stillhalten 

Allein schon diese Äußerungen sollten eigentlich genügen, um Michel und Merkel aus ihrer Gipfel-Routine zu reißen. Sie klingen wie eine Kampfansage an die EU und ihre deutsche Führung – und nicht wie ein sachlicher Meinungsaustausch unter gleichberechtigten Partnern. Doch Merkel hat die Devise ausgegeben, stillzuhalten und dem Streit auszuweichen, bis eine Lösung gefunden ist. 

Sie setzt weiter auf Kompromisse in letzter Minute – wie schon beim Finanzgipfel im Juli. Damals hatte Merkel tagelang zugesehen, wie sich die „Frugal Four“ unter Führung des niederländischen Premiers Mark Rutte mit Italien, Frankreich und Spanien anlegten – und am Ende doch noch einen Deal besiegelt, der neben dem Finanzpaket auch ein (vages) Bekenntnis zum Rechtsstaat enthielt.

Jetzt kommt auch noch Widerstand aus Holland 

Nur im Paket, so Merkels Kalkül, würden sich die Probleme lösen lassen. Nur wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf das höchste EU-Budget der Geschichte verständigen und fröhlich Milliarden-Hilfen verteilen (davon ein Großteil als nicht rückzahlbare Zuschüsse), werde auch Orban die bittere Pille der Rechtsstaats-Konditionalität schlucken. Doch diese Strategie ist gescheitert, das Paket ist geplatzt.

Nicht nur Orban hat Merkels Paket-Lösung in der Luft zerrissen, indem er den Rechtsstaats-Mechanismus attackierte und den Budget-Deal blockierte. Nun meldet sich auch noch Rutte wieder zu Wort. Der Niederländer führt den Chor jener EU-Politiker an, die auf einem harten Rechtsstaats-Mechanismus bestehen. „Für die Niederlande gilt, dass diese Einigung wirklich die Untergrenze ist", sagt Rutte.

„Wir lassen uns von Orban nicht erpressen“ 

In dasselbe Horn bläst das Europaparlament. „Wir lassen uns vom Rat nicht treiben und von Viktor Orban nicht erpressen“, sagt der Grünen-Politiker Rasmus Andresen, der als einziger Deutscher im Haushaltsausschuss sitzt. „Der Ball liegt weiter bei Kanzlerin Angela Merkel und Ratspräsident Michel.“ Sie müssten den Rechtsstaats-Mechanismus retten, eine andere Option gebe es nicht.

Dazu müßte sich Merkel aber über Ungarn und Polen hinwegsetzen. Theoretisch wäre dies durchaus möglich. Sie könnte den bisher nur vorläufigen Beschluss zum Rechtsstaat vorantreiben und mit qualifizierter Mehrheit gegen Ungarn durchdrücken – um Orban zu zeigen, dass sie es ernst meint. Doch dafür gebe es bisher keine Anzeichen, heißt es im Parlament, der deutsche EU-Vorsitz zögere.

Merkel hat sich in eine Sackgasse manöviert  

Eine andere Möglichkeit ist, Orban entgegenzukommen. Denkbar wäre etwa eine Zusatzerklärung zum Rechtsstaats-Mechanismus, die eine retroaktive Anwendung unmöglich macht. Im Gespräch ist auch die Einstellung des so genannten Artikel-7-Verfahrens, mit dem Verstöße gegen die Grundwerte der EU geahndet werden. Dieses Verfahren hat sich als wirkungslos erwiesen; seine Einstellung würde deshalb in der Praxis nicht viel ändern.

Das wäre ein Geschenk für Orban – doch damit würde sich Merkel gegen Rutte und das Europaparlament stellen. Beide werden aber noch für die Ratifizierung des Finanzpakets gebraucht. Wie man es auch dreht und wendet: Die Paket-Lösung hat sich als Falle erwiesen, die Kanzlerin hat sich in eine Sackgasse manövriert. Dass sie dennoch so tut, als sei alles halb so wild und als habe man die Lage unter Kontrolle, ist kein gutes Zeichen.

Im Gegenteil: Es ist ein Alarmsignal. Sechs Wochen vor dem Ende der deutschen Ratspräsidentschaft rutscht die EU immer tiefer in die Krise, ein Ende ist nicht absehbar.

Anzeige