EU-Kommissionspräsidentschaft - Es geht um die Macht

Es ist falsch, wenn das Spitzenkandidatenkonzept als Stärkung der europäischen Demokratie vermarktet wird – vielmehr stärkt es die Macht der Strippenzieher in den Parteien

Ursula von der Leyen ist für Bernd Lucke eine intelligente, integre und regierungserfahrene Persönlichkeit / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Lucke war Mitbegründer und Vorsitzender der AfD, deren marktwirtschaftlichen und liberalen Flügel er bis zu seiner Abwahl im Juli 2015 vertrat. Nach seinem Austritt aus der AfD gründete der 58 Jahre alte Wirtschaftsprofessor die Partei Alfa heute Liberal-Konservative Reformer , für die er bis 2019 im EU-Parlament saß. Lucke lehrt Makroökonomie an der Universität Hamburg.

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Vor fünf Jahren – ich war gerade frisch ins Europaparlament gewählt – stattete Jean-Claude Juncker unserer Fraktion einen Vorstellungsbesuch ab. Juncker war vom Europäischen Rat als Kommissionspräsident nominiert worden, und obwohl ihm dank der großen Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten eine Mehrheit im Parlament sicher war, warb er auch bei meiner Fraktion, den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) um Unterstützung.

Nun war Jean-Claude Juncker ja kein Unbekannter. Umso erstaunter war ich, als ich ihn über seine politischen Vorhaben sprechen hörte. Denn alles was er sagte, war Musik in unseren Ohren: Er wolle die Bürokratie reduzieren, die Gesetzesflut eindämmen, das Subsidiaritätsprinzip und damit die Gestaltungsrechte der Mitgliedsstaaten stärken und sich für Wettbewerb und Marktwirtschaft einsetzen. Kurz: Juncker sprach zur EKR wie ein EKR-Mann. Mich beschlich der Verdacht, dass er in der Grünen-Fraktion wie ein Grüner, bei den Sozialisten wie ein Sozialdemokrat und bei den Christdemokraten wie ein Christdemokrat sprechen würde. Der er ja auch ist.

Ergebnis egal

Wahrscheinlich muss man derart politisch geschmeidig sein, wenn man Kommissionspräsident werden will. Die soeben für dieses Amt nominierte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird kaum umhin kommen, sich ähnlich flexibel zu präsentieren, denn sie steht vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe: Sie verfügt bislang nicht über eine sichere Mehrheit im Europaparlament, sie ist – anders als Juncker – keine gewiefte und bestens vernetzte Europapolitikerin und sie war – anders als Juncker – bei der vorhergehenden Europawahl nicht Spitzenkandidatin einer europäischen Partei.

Die Sache mit dem Spitzenkandidaten könnte das größte Problem werden. Jedenfalls, wenn das Parlament etwas auf sich hält. Denn mehrfach wurde in der vergangenen Legislaturperiode von Rednern fast aller Fraktionen betont, dass das Parlament nur bereit sei, jemanden zum Kommissionspräsidenten zu wählen, der zuvor als Spitzenkandidat seiner europäischen Partei bei den Europawahlen angetreten sei. Wohlgemerkt: Es kommt nicht auf das Ergebnis an, dass der Kandidat eingefahren hat. Auch wenn es ein ganz kümmerliches Resultat war: Hauptsache, sie oder er war Spitzenkandidat.

Das Parlament engt den Rat ein

Denn es geht hier gar nicht um die Demokratie oder den Volkswillen. Tatsächlich geht es um Macht. Das Spitzenkandidatenprinzip ist ein Versuch des Parlaments, dem Europäischen Rat die Prärogative bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten zu entwinden. Denn nach den EU-Verträgen hat der Rat das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten. Dies wurde immer so verstanden, dass der Rat frei ist, einen geeigneten Kandidaten zu benennen. Das Europaparlament kann diesen Kandidaten bestätigen oder ablehnen, aber sollte es ablehnen, wäre der Rat erneut frei zu entscheiden, welchen Kandidaten er als nächstes vorschlagen möchte.

Mit dem Spitzenkandidatenkonzept engt das Parlament das Vorschlagsrecht des Rates auf einige wenige Personen ein. Das Europaparlament hat dies in einem vielbeachteten Beschluss vom 7. Februar 2018 sehr deutlich gemacht: Es warnte davor, dass es „beim Verfahren zur Einsetzung des Kommissionspräsidenten bereit ist, jeden Kandidaten abzulehnen, der im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament nicht als Spitzenkandidat benannt wurde“. Sprich: Das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates soll beschränkt werden auf die Personen (Spitzenkandidaten), die die europäischen Parteien vorgeschlagen haben.  

Begnadete Bierzeltredner und joviale Phrasendrescher

Hier wird die Macht von den gewählten europäischen Regierungen verlagert zu den – nicht gewählten! – europäischen Parteien. Denn die Parteien als Vereinigungen politisch interessierter Bürger haben zunächst einmal keinerlei demokratische Legitimation. Zudem nominieren sie ihre Spitzenkandidaten vor der Wahl. Es ist daher falsch, wenn das Spitzenkandidatenkonzept als Stärkung der europäischen Demokratie vermarktet wird. Vielmehr stärkt das Spitzenkandidatenkonzept die Macht der Strippenzieher in den Parteien.

Zudem sollte sich bei einem Kommissionspräsidenten vielleicht auch die Frage der Qualifikation für das Amt stellen. Es ist ja nicht auszuschließen, dass die von den Parteien nominierten Spitzenkandidaten durchweg begnadete Bierzeltredner und joviale Phrasendrescher sind. Wohlgemerkt: Ich halte weder Herrn Weber für das eine noch Herrn Timmermans für das andere, aber grundsätzlich besteht diese Möglichkeit ja. Da ist es gut, wenn der Europäische Rat frei ist, die für die Leitung einer riesigen Behörde bestqualifizierte Persönlichkeit zu benennen.

Leider hatte man in den vergangenen Wochen nicht den Eindruck, dass Qualifikation das beherrschende Kriterium war, an dem der Europäische Rat mögliche Kandidaten maß. Wichtiger schien bei der Besetzung der europäischen Spitzenämter vielmehr die „Balance“ zwischen Parteizugehörigkeit, Nationalität und Geschlecht zu sein. Und dann kam auch noch das Kriterium der Spitzenkandidatur hinzu, verbunden mit Frau Merkels laut geäußertem Wunsch, dass kein Konflikt zwischen Parlament und Rat riskiert werden solle.

Tod des Spitzenkandidatenprinzips?

Nun ist es anders gekommen. Mit Ursula von der Leyen wurde eine Kandidatin nominiert, die nicht Spitzenkandidatin war. Welche besondere europapolitische Qualifikation Frau von der Leyen aufweist, erschließt sich mir noch nicht, aber immerhin hat der Rat eine intelligente, integre und regierungserfahrene Persönlichkeit vorgeschlagen. Das ist eine Herausforderung an das Parlament: Der Europäische Rat insistiert auf seinem Recht, die Qualifikation einer Kandidatin höher zu gewichten als die parteipolitische Macht. Die spannende Frage ist, ob das Parlament dies akzeptiert.

Dies ist zugleich das Problem. Wenn das Europaparlament Frau von der Leyen wählt, knickt es ein. Das Spitzenkandidatenprinzip, für das sich das Europaparlament so sehr in die Brust geworfen hat, ist dann tot. Das wäre zweifellos gut für die EU, aber es wäre ein schwerer Schlag für das Selbstbewusstsein des Parlaments. Deshalb wird Frau von der Leyen sich viel Mühe geben müssen, die Parlamentarier von ihrer Eignung zu überzeugen.

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