Gipfel-Einigung in Brüssel - Im Unfrieden vereint

Das Ergebnis des Brüsseler EU-Gipfels wird als Rettung Europas gefeiert. Doch bei Lichte besehen zeigt sich in diesem „historischen“ Kompromiss vor allem die strukturelle Schwäche der Gemeinschaft. Von der viel beschworenen Solidarität kann keine Rede sein.

Alles okay? Merkel mit Conte, Rutte und von der Leyen beim EU-Gipfel in Brüssel / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Noch nie wurden die Ergebnisse eines EU-Gipfels so oft und aus so unterschiedlichen Richtungen als „historisch“ gefeiert, selten war so häufig von „Solidarität“ die Rede wie in den Tagen vor, während und nach dem Brüsseler Verhandlungsmarathon. Natürlich sind diese pompösen Begriffe rhetorische Nebelkerzen, denn um Solidarität wegen der Corona-Pandemie geht es ersichtlich nicht. Das ist von Veranstaltungen wie dem Treffen der EU-Staatschefs auch nicht anders zu erwarten, bei denen jedes Land auch und insbesondere seine eigenen Interessen vertritt.

Historisch sind deswegen lediglich der Umfang des Finanzpakets mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro sowie die Tatsache, dass die EU zu dessen Finanzierung erstmals gemeinsame Schulden aufnimmt. Frankreichs Staatspräsident sprach denn auch schon freudig davon, die Kommission übernehme damit „die Rolle eines Finanzministeriums“. Diese Rolle war zwar nie vorgesehen, aber immerhin ist Macron ehrlich.

Möglichst viel Geld für den eigenen Haushalt

„Europa“ sei am Dienstag „gerettet“ worden, heißt es jetzt allenthalben – als ob der Kontinent nur aus 27 Mitgliedstaaten bestehe und eine „Rettung“ im Aufpumpen von Budgets. Nüchtern betrachtet geht es den Regierungen der strukturschwachen EU-Mitglieder darum, möglichst viel Gemeinschaftsgeld für die eigenen Haushalte abzuzweigen – während wirtschaftlich stärkere Exportnationen wie die Bundesrepublik oder die Niederlande ein vorrangiges Interesse daran haben, den gemeinsamen Markt überhaupt am Leben zu erhalten.

Das ist aus Sicht der einzelnen Akteure auch alles durchaus rational, sonst hätte es ja keine Einigung gegeben. Aber ob der Kompromiss von Brüssel auf Dauer tragfähig ist geschweige denn, ob damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU vorangebracht wird, daran müssen sehr große Zweifel bestehen. Eine Wirtschaftsunion, die den Großteil ihres enormen Budgets immer noch für Agrarpolitik einplant, ist womöglich eben doch nicht das vielbeschworene Zukunftsprojekt des 21. Jahrhunderts.

Teurer Wechsel auf die Zukunft

Dass anstatt der ursprünglich vorgesehenen 500 Milliarden Euro nun doch nur 390 Milliarden als nicht rückzahlbare Zuschüsse fließen, mag ja von den „frugalen Vier“ (mit Finnland wären es Fünf) als Erfolg gefeiert werden. Fakt ist, dass die Empfängerländer so gut wie frei über die Verwendung der Mittel werden verfügen können.

Niemand glaubt ernsthaft, dass Länder wie Italien die Gelddusche tatsächlich dazu nutzen werden, um weitreichende Reformen durchzusetzen – ein entsprechender Hebel, den der Kompromiss vorsieht, dient allenfalls zur Beruhigung der Wähler in den Geberländern. Wie, wann und ob überhaupt jemals die 360 Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten zurückgezahlt werden, steht ohnehin in den Sternen. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass der Fortbestand der EU in ihrer jetzigen Form mit einem Wechsel auf die Zukunft sehr teuer erkauft wurde.

Vom Friedensprojekt weit entfernt

Denn das Brüsseler Gipfeltreffen hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Fliehkräfte innerhalb der Gemeinschaft kaum noch zu bewältigen sind. Die nördlichen, südlichen und osteuropäischen Mitgliedstaaten sind erkennbar von unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen geprägt, die immer weniger miteinander konvergieren; es wird nicht einmal mehr der Anschein erweckt, dies überhaupt zu versuchen.

Man muss ja tatsächlich nicht zusammen Geburtstag feiern wollen, wie der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte es so schön formulierte. Aber ein halbwegs tragfähiger Konsens darüber, welche Rolle die einzelnen Bürger, die Unternehmen und die staatlichen Institutionen in einem Gemeinwesen einnehmen sollen, ist unabdingbar, wenn die Europäische Union für sich den Anspruch erhebt, mehr als nur ein gemeinsamer Handelsraum zu sein. Vom „Friedensprojekt“ hat sich die EU jedenfalls weiter entfernt denn je. Und diese Kluft wird sich auch nicht mit noch so viel Geld zuschütten lassen.

Unguter Triumphalismus

Ob Rutte, Viktor Orbán oder Giuseppe Conte (um die drei Protagonisten der unterschiedlichen Blöcke innerhalb der Union zu nennen): Jeder von ihnen trumpfte nach dem Gipfel vor seinen jeweils eigenen Landsleuten damit auf, das Maximum „herausgeholt“ zu haben.

Selbstverständlich mussten sich Regierungschefs schon immer zuhause für ihre Brüsseler Verhandlungsergebnisse rechtfertigen, das kann auch gar nicht anders sein. Aber der Triumphalismus, mit dem das inzwischen geschieht, lässt mehr auf ein hämisches Gegeneinander als auf ein grundsätzliches Miteinander schließen. Für die Zukunft der EU bedeutet das nicht Gutes. Und mit Solidarität hat es ohnehin nichts zu tun.
 

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