EU-Gipfel zu Corona-Hilfen - Die nationalen Interessen haben gesiegt

Beim Brüsseler Finanzgipfel hat Kanzlerin Merkel Führungsstärke vermissen lassen. Der niederländische Premier Rutte und der ungarische Regierungschef Orban haben sich durchgesetzt. Das könnte die EU noch teuer zu stehen kommen.

Viktor Orban fühlt sich als Sieger des EU-Gipfels / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Nur 25 Minuten fehlten für den Rekord. Wenn der EU-Finanzgipfel in Brüssel ein klein wenig länger gedauert hätte, würden sich Kanzlerin Angela Merkel und Gipfel-Chef Charles Michel heute im Guiness-Buch der Rekorde wiederfinden.

Sie hätten dann mehr Ausdauer bewiesen als Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die beim legendären EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000 geschlagene 92 Stunden zusammensaßen. Merkel und Michel brachten es „nur“ auf 91,5 Stunden, bis die Einigung zum Corona-Hilfsfonds und zum EU-Budget stand.

1,8 Billionen Euro bewilligt

Macht nichts, auch so war es ein „historisches“ Treffen - jedenfalls, wenn es um die Größe des ausgehandelten Finanztopfs geht. Rund 1,8 Billionen Euro haben die 27 EU-Staaten bewilligt, um sich gegen die Coronakrise und ihre Folgen zu stemmen.

So viel Geld wurde noch nie auf einen Schlag verteilt. Und so viele Schulden wurden auch noch nie gemacht. Bis zu 750 Milliarden Euro darf die EU-Kommission an den Finanzmärkten aufnehmen, um das Anti-Corona-Programm mit dem wohlklingenden Titel „Next Generation EU“ zu finanzieren.

Hypothek für künftige Generationen

Doch ob dieses Geld wirklich den Krisenländern zugute kommt und die EU für die Zukunft rüstet, ist längst nicht ausgemacht. Genauso gut könnte es sich als Hypothek für künftige Generationen erwiesen - und die EU in die nächste schwere Krise führen.

Der Teufel steckt wie immer im Detail, und genau darum wurde beim Gipfel-Marathon besonders heftig gerungen. Vor allem die „Frugal Four“ um den niederländischen Premier Mark Rutte haben um Gelder und Konditionen gefeilscht. Sie präsentierten sich als Hüter der ökonomischen Vernunft - haben aber vor allem die nationale Karte gespielt.

Ruttes Erfolge

So setzte Rutte auf den letzten Metern nicht nur eine kräftige Erhöhung des Rabatts auf den EU-Beitrag durch: Nach dem Brüsseler Kompromiss sollen die Niederlande einen Nachlass von 1,92 Milliarden Euro jährlich erhalten. Dies sind 345 Millionen Euro mehr als noch vor dem Gipfel geplant.

Rutte schaffte es auch, sich mehr Geld aus den Zolleinnahmen im Hafen von Rotterdam zu sichern. Der größte Hafen Europas wird künftig weniger Geld in das EU-Budget nach Brüssel überweisen; dafür fließt umso mehr in die niederländische Staatskasse nach Den Haag.

Bei Zukunftsthemen wurde gekürzt

Gleichzeitig sorgten die nordischen Nettozahler durch, dass ausgerechnet bei den Zukunftsthemen gespart wird. Für Forschung, Studentenaustausch und den Kohleausstieg steht weniger Geld zur Verfügung aus ursprünglich geplant. „Alle Projekte, die einen europäischen Mehrwert haben, wurden gekürzt“, ärgert sich Franziska Brantner, Europa-Sprecherin der Grünen im Bundestag.

Gekürzt wurden auch die Zuschüsse, die an Corona-Krisenländer wie Italien oder Spanien fließen. Statt 500 Milliarden Euro werden es nur 390 Milliarden sein, setzten die „Frugal Four“ durch. Doch die Gesamtsumme der Hilfen - 750 Milliarden Euro - bleibt unverändert. Und die Finanzierung ist immer noch nicht gesichert.

Neuer Streit ist programmiert

Es fehle „ein seriöses Finanzierungskonzept“, kritisierte der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber schon vor dem Gipfel. Daran hat sich nichts geändert. Der Gipfelbeschluss sieht zwar eine Plastikabgabe vor, die ab 2021 erhoben werden soll. Doch damit und mit weiteren, bisher nur angedachten „Eigenmitteln“ wird sich der gewaltige Schuldenberg nicht abtragen lassen.

Deshalb ist neuer Streit programmiert - spätestens nach dem Ende der neuen Finanzperiode im Jahr 2028. Dann werden die Staats- und Regierungschef die Frage beantworten müssen, wie sie den Schuldenberg von bis zu 750 Milliarden Euro abtragen wollen, obwohl das EU-Budget schrumpft und die Rabatte anwachsen.

Merkwürdig vage

Auch Merkel muß sich diese Frage gefallen lassen. Sie hat Deutschland den größten Nachlass gesichert - er bleibt unverändert bei 3,67 Milliarden Euro pro Jahr. Zudem hat sie für die ostdeutschen Länder zusätzliche EU-Hilfen von 1,3 Milliarden Euro herausgeschlagen. Doch die große Frage, wie sich die EU künftig bei wachsenden Schulden und schrumpfenden Budgets finanzieren soll, hat sie nicht beantwortet.

Auch beim Thema Rechtsstaat ist Merkel merkwürdig vage geblieben. In einer leidenschaftlichen Rede vor dem Europaparlament Anfang Juli hatte sie noch die europäischen Grundwerte herausgestellt - das sei die erste Priorität. Doch beim Billionen-Poker in Brüssel wurde der Rechtsstaat so ziemlich als letztes Thema aufgerufen.

System der Konditionalität

Am Ende einigte man sich auf eine Kompromissformel. Der Gipfelbeschluss unterstreicht die „Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen“ der EU und des Respekts der Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund werde ein System der Konditionalität entwickelt - die Vergabe von EU-Geldern soll also an Bedingungen geknüpft werden können.

Doch die Details müssen noch ausgearbeitet werden. Hinter den Kulissen soll Merkel dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban sogar zugesagt haben, das laufende Rechtsstaats-Verfahren gegen Ungarn zu beenden. Orban feierte seinen Erfolg. „Ungarn und Polen ist es nicht nur gelungen, sich ernsthafte Geldsummen zu sichern, sondern auch ihren nationalen Stolz zu verteidigen“, sagte der rechtsnationale Politiker in Brüssel.

Merkel ließ Führung vermissen

Merkel wies dies zwar zurück; sie habe mit Orban keine Nebenabsprachen gemacht. Sie hat aber auch nicht versucht, den Rechtsstaat zu einem zentralen Thema des EU-Gipfels zu machen. Dabei hatte sie vier Tage Zeit - und noch dazu die Möglichkeit, dem Treffen als amtierende Ratsvorsitzende eine Richtung vorzugeben.

Doch Führung ließ Merkel vermissen - kein Wunder, dass sich Rutte und Orban nun als Sieger fühlen. Merkel hat die Zügel schleifen lassen - und findet sich nun in einer EU wieder, die vor allem von nationalen Interessen beherrscht wird.

In Nizza war es ganz ähnlich. Auch vor 20 Jahren waren es die nationalen Interessen, die den Gipfel beinahe scheitern ließen. Am Ende schlossen Chirac und Schröer zwar doch noch einen Deal. Doch er stellte niemanden zufrieden und mußte bald überarbeitet werden. Der späten Zangengeburt von Brüssel könnte es ähnlich ergehen.

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