Merkel und der EU-Gipfel - Sinnkrise unter dem Regenbogen

16 Jahre lang war Angela Merkel die „Gipfelkönigin“. Ausgerechnet aber bei ihrem letzten EU-Gipfel hat sie ihren Auftritt vermasselt. Der Streit um Russland und die Auseinandersetzungen mit Viktor Orban zeigen, wie zerstritten die EU am Ende der Ära Merkel ist.

Fliehkräfte: Alexander De Croo und Angela Merkel auf dem Brüsseler Gipfel / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Es sollte ein entspannter Routine-Gipfel werden - mit guten Nachrichten von der Corona-Front und einem herzlichen Abschied von Kanzlerin Angela Merkel, die wohl zum letzten Mal zu einem EU-Spitzentreffen nach Brüssel gereist war. Doch nach den zweitägigen Beratungen der 27 Staats- und Regierungschefs ist Merkels Ruf als ungekrönte „Gipfelkönigin“ dahin - und Europa zerstrittener denn je.

Vor allem Ungarn und Russland sorgten für Ärger. Schon vor dem Gipfel hatten sich 16 EU-Staaten von Ungarns Regierungschef Viktor Orban distanziert. Dessen Gesetz, das Jugend und Familie schützen soll, dabei aber Homosexuelle und Transgender-Menschen diskriminiert, widerspreche den gemeinsamen Grundwerten der EU, hieß es in einem Brandbrief, den auch Merkel unterzeichnet hat.

Merkels Outing

Orban tat die Kritik ab. Das sei alles ein riesengroßes Missverständnis, er habe nichts gegen Homosexuelle. Doch das schillernde Regenbogen-Thema, das ursprünglich gar nicht auf der Tagesordnung stand, ließ sich nicht mehr wegdrücken. Es kam zu einer offenen Aussprache, bei der sich Merkel - die Orban jahrelang in Schutz genommen hatte - für die Rechte der LGBT aussprach. 

Zu Beginn ihrer Amtszeit vor 16 Jahren wäre das undenkbar gewesen, noch vor zwei Jahren war die „Homo-Ehe“ auch in Deutschland tabu. Merkels Christdemokraten stemmten sich dagegen, richtig „Ja“ gesagt haben sie nie. Doch nun, bei ihrem letzten Auftritt auf der europäischen Bühne, outete sich die Kanzlerin als Anhängerin der sexuellen Freiheit und der nicht-katholischen, unkonventionellen Liebe. 

Sie war nicht allein. Der luxemburgische Premier Xavier Bettel, ein bekennender Schwuler, ging Orban direkt an: "Wenn irgendjemand glaubt, dass man wegen einer Werbung, einem Film oder wegen einem Buch schwul geworden ist, der versteht ja das Leben nicht.“ Der niederländische Regierungschef Mark Rutte brachte sogar einen Rauswurf Ungarns aus der EU ins Spiel. 

Der Verteidiger der Nation

Rutte rief Orban auf, wie Großbritannien ein Austrittsverfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrags einzuleiten, wenn er die europäischen Werte nicht achten wolle. Das saß. Doch ein „Hunexit“ ist nicht zu erwarten. Das EU-Recht sieht keinen Rauswurf aus der Union vor. Der EU-Gipfel kann auch kein Vertragsverletzungsverfahren wegen der umstrittenen ungarischen Gesetzgebung einleiten. 

Dies will nun die EU-Kommission tun. Ein solches Verfahren kann aber nur zu Geldstrafen führen, nicht zum Ausschluss. Außerdem dauert es Monate, wenn nicht Jahre. Orban dürfte das einkalkuliert haben - die scharfe Kritik ist im beginnenden ungarischen Wahlkampf Wasser auf seine Mühlen. Schließlich will er sich als Verteidiger der Nation gegen das europäische „Imperium“ präsentieren.

Je härter die Attacken aus Brüssel ausfallen, desto mehr könnte diese populistische Strategie aufgehen. Orban hat deshalb von der EU nicht viel zu fürchten - doch die EU muss sich umso größere Sorgen machen. Der Streit hat offenbart, dass das gemeinsame Wertefundament nicht nur bröckelt, sondern schon heftig wackelt. Neben dem Kulturkampf droht auch noch ein Richtungsstreit. 

Die Traditionalisten aus Osteuropa stehen gegen die Identitätspolitiker aus dem Westen, die Anhänger einer „immer engeren Union“ gegen die Pragmatiker, die am liebsten wieder zurück zum Binnenmarkt möchten, ohne das ganze Wertegedöns. „Bei der Frage nach der Zukunft der Union haben wir ein ernstes Problem“, gab sich Merkel am Ende des Brüsseler Chaos-Gipfels nachdenklich.

Abstieg einer Gipfelkönigin

Sorgen muß sie sich noch aus einem anderen Grund machen. Denn ihre Außenpolitik ist, jedenfalls aus EU-Sicht,  krachend gescheitert. Schon vor ihrem letzten Gipfel stand Merkel wegen der deutsch-russischen Pipeline Nord Stream 2 in der Kritik. Nach dem Treffen liegt ihre gesamte Russland-Strategie in Trümmern, ihr Ruf als unangreifbare „Gipfelkönigin“ ist dahin. 

Merkel hatte alles auf eine Karte gesetzt und gemeinsam mit Emmanuel Macron für einen Dialog mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin plädiert. Doch der Vorstoß war schlecht vorbereitet, die EU-Partner waren nicht informiert. Als die Idee eines EU-Russland-Gipfels am Mittwoch durchsickerte - ausgerechnet in der Financial Times - formierte sich sofort Widerstand. 

Polen, die baltischen Staaten und sogar die Niederlande sprachen sich gegen einen „Kniefall“ vor Putin aus. Der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins warnte, Zugeständnisse ohne Gegenleistung sehe der Kreml nicht als Zeichen von Stärke. Vielmehr könnten sie als Belohnung verstanden werden. Merkel wies das zurück. „Gespräche sind keine Belohnung“, sagte sie. Sogar im Kalten Krieg habe man miteinander gesprochen.

Mit leeren Händen zurück

Außerdem müsse der EU doch wohl erlaubt sein, was US-Präsident Joe Biden gerade erst vorexerziert hat: Ein Treffen mit dem Kreml-Führer, bei dem man sich die Meinung sagt und am Ende - wenn alles gut geht - eine gemeinsame Agenda absteckt. „Wir können nicht die ganze Zeit von europäischer Souveränität reden, und dann vor einer direkten Begegnung kneifen“, so Merkel.

Doch es half alles nichts: Der Vorstoß wurde abgelehnt. Merkel musste mit leeren Händen zurück nach Hause fahren. Die „Gipfelkönigin“ hat ihren letzten Auftritt vermasselt. Jahrelang war sie für ihr Verhandlungsgeschick gepriesen worden, bis zuletzt hatte sie den Laden - mehr schlecht als recht - zusammengehalten. Nun sieht es so aus, als könne er jeden Moment auseinanderfliegen.

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