Entwicklungshilfe - Der Westen fördert den Anti-Westen

Das Entwicklungsministerium will die Weltwirtschaft klimaverträglicher machen sowie Freiheit und Menschenrechte stärken. Tatsächlich zahlen wir Entwicklungshilfe ohne Gegenleistung an einen „Globalen Süden“, der den liberalen Westen abschaffen möchte.

Hinduistische Gläubige mit bemalten Gesichtern als Teil der traditionellen Praktiken während des jährlichen Gajan-Festes / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

So erreichen Sie Thomas Mayer:

Anzeige

In jüngeren Jahren war ich von einer Region fasziniert, die man damals die Dritte Welt nannte. Im Studium schrieb ich Seminararbeiten über Slums in Indien, am Kieler Institut für Weltwirtschaft promovierte ich mit einem entwicklungspolitischen Thema, bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau lernte ich Entwicklungshilfe in Afrika kennen und meine erste Dienstreise beim Internationalen Währungsfonds führt mich nach Addis Abeba. Doch mit dem Übergang von der akademischen zur praktischen Arbeit setzte die Ernüchterung ein. Ich las Peter Bauers „Reality and Rhetoric“ und Brigitte Erlers „Tödliche Hilfe“, den Bericht einer Entwicklungshelferin, die zutiefst enttäuscht von ihrer Arbeit den Job hinschmiss. Ich trat in Erlers Fußstapfen, indem ich in die Europaabteilung des IWF wechselte.

Diese Erinnerungen holten mich ein, als ich vom Tod Robert Solows am 21. Dezember 2023 erfuhr. Solow war einer der großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts (Zwischenfrage: Warum starben eigentlich so viele große Männer Ende letzten Jahres?). Er prägte die ökonomische Wachstumstheorie wie kaum ein anderer. In meinem Bücherschrank steht noch immer ein zerlesenes Büchlein mit einer Zusammenfassung seiner Theorie, die er in einer Vorlesung an der Universität Warwick im Jahr 1969 gegeben hatte. Ein Ergebnis dieser Theorie war, dass ärmere Länder schneller wachsen würden als reiche. Sie würden zu diesen aufholen, weil sie von dort Kapital und Technologie importieren könnten.

Umstrittene Entwicklungshilfe

In Solows Modellwelt läuft sowohl das Wachstum in den Industrieländern als auch der Aufholprozess in den ärmeren Ländern mit mathematischer Präzision ab. Doch anders als bei den von Johannes Kepler berechneten Umlaufbahnen der Himmelskörper gibt es im Modell von Solow veränderbare Parameter. Diese kann die Politik nutzen, um das Wachstum oder die Konvergenz zu beschleunigen. Hier setzten Hollis Chenery und Alan Strout mit ihrem Modell an. Nach ihrer 1966 veröffentlichten Theorie mangelt es ärmeren Ländern vor allem an Kapital oder Fertigkeiten. Ihre Entwicklung kann beschleunigt werden, wenn reichere Länder den spezifischen Bedürfnissen entsprechend Kapitalhilfe oder technische Hilfe leisten. 

Das Modell von Chenery (der 1972 Chefökonom der Weltbank wurde) und Strout hatte großen politischen Einfluss. Im Jahr 1969 formulierte das Entwicklungshilfekomitee des Industrieländerklubs OECD erstmals das Konzept der „öffentlichen Entwicklungshilfe“, und im Jahr 1970 übernahm der Klub das von den Vereinten Nationen formulierte Ziel, Entwicklungshilfe in Höhe von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu leisten. Obwohl die segensreichen Wirkungen von Entwicklungshilfe zunehmend in Frage gestellt wurden, gilt die Verpflichtung zur Erreichung dieses Ziels bis heute. 

Frieden, Freiheit und Menschenrechte

Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat sich sogar noch viel mehr vorgenommen. Auf seiner Website „versteht (es) sich als Transformationsministerium, das weltweit den Umbau hin zu einer nachhaltigen, klima- und naturverträglichen Wirtschaftsweise voranbringt und zugleich Frieden, Freiheit und Menschenrechte stärkt.“ Ein größeres Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirkungsmöglichkeit dürfte schwer zu finden sein. 

Während die Politik weiterhin vollmundig das Geld der Steuerzahler (62 Milliarden Euro) für fragwürdige (8.095) Vorhaben in alle Himmelsrichtungen (109 Länder) verteilt, ist bei den Ökonomen Nüchternheit eingekehrt. In ihrem 2012 veröffentlichten, einflussreichen Buch „Why Nations Fail“ stellen Daron Acemoğlu und James Robinson die These auf, dass vor allem die Durchsetzung von Eigentumsrechten Innovation und Kapitalbildung stärkt. Dafür braucht es aber den institutionellen Rahmen des demokratischen, liberalen Rechtsstaats. 
 

Mehr von Thomas Mayer: 


Dort entwickeln sich „inklusive ökonomische Institutionen“, die allen Bürgern die Möglichkeit zur Entfaltung bieten. Demgegenüber stehen „extraktive ökonomische Institutionen“, die es einer Elite erlauben, sich die Früchte der Arbeit aller exklusiv anzueignen. Der von Solow behaupteten automatischen Konvergenz ärmerer mit reicheren Ländern und der von Chenery und Strout behaupteten Wirksamkeit von Entwicklungshilfe widersprechen Acemoğlu und Robinson. 

Ihrer historischen Untersuchungen zufolge gelingt es ärmeren Ländern nur dann, zu reicheren aufzuschließen, wenn sie deren inklusive Institutionen im liberalen Rechtsstaat übernehmen. Vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen mit Entwicklungshilfe (die natürlich nicht repräsentativ sein können), erscheint mir die Theorie von Acemoğlu und Robinson wesentlich überzeugender als die vorangegangenen Theorien von Solow, Chenery und Strout.

Mit der Öffnung nach außen

Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist die Entwicklung Chinas. Mit der Öffnung nach außen und dem teilweisen Aufbau inklusiver ökonomischer Institutionen – die Unternehmertum ermöglichten – unter dem Einfluss und Erbe von Deng Xiaoping machte das Land einen gewaltigen Sprung nach vorn. Und nach dem Wechsel hin zu extraktiven Institutionen – mit dem totalen Führungsanspruch der kommunistischen Partei – unter Xi Jinping beginnt das Erreichte wieder abzubröckeln. 

Zunehmend versteht sich China als Gegenmodell zum Westen und sammelt Anhänger. Bei den Eliten in anderen Ländern mit extraktiven Institutionen findet es ein williges Gefolge. Westliche Forderungen nach Machtbegrenzung und Herrschaft unter dem Recht statt Willkürherrschaft werden von diesen Eliten als Zumutung empfunden. Von China bekommen auch ruchlose Herrscher Geld, wenn sie nur zu Gefolgsleuten werden. 

Aber nicht allein der Einfluss Chinas schwächt die Attraktion des Westens. Andere große Länder, wie Indien, stehen China durchaus skeptisch gegenüber. Es ist vielmehr das Modell der „extraktiven Institutionen“, das machthungrige Eliten überzeugt. Sie lehnen das Konzept des „Entwicklungslandes“ ab, denn dieses beinhaltet unausgesprochen die Entwicklung hin zum Westen. Dessen institutionelle Struktur sehen sie aber als unmittelbare Bedrohung ihrer persönlichen Interessen an. 

Stattdessen bevorzugen die Eliten dieser Länder den Sammelbegriff des „Globalen Südens“, dem auch der bei uns umgreifende Relativismus Tribut zollt. Nur scheinbar ähnelt er dem früheren Begriff der „Dritten Welt“. Denn während mit diesem die Vorstellung von armen Empfängern westlicher Almosen verbunden war, versteht sich der „Globale Süden“ als Antipode eines im Norden verorteten Westens.

Wir brauchen keinen Henker mehr

China und Russland stehen an der Speerspitze der anti-westlichen Allianz, die sich ironischerweise nach dem von einem Mitarbeiter der US-Investmentbank Goldman Sachs erfundenen Akronym BRICS nennt. Brasilien und Indien sind sozusagen „Gründungsmitglieder“, Südafrika stieß später dazu, und seit Beginn dieses Jahres gehören auch Äthiopien, Ägypten, der Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zu der Allianz (die nun BRICS-Plus heißt). Der neue Präsident Argentiniens, Javier Milei, hat die Mitgliedschaft seines Landes wieder aufgekündigt. Dennoch vereinen die BRICS-Plus Staaten über 35 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts auf sich und sind damit deutlich größer als die USA und die Europäische Union zusammen. 

Folgt man Acemoğlu und Robinson löst sich die von Chenery und Strout entwickelte Logik der Entwicklungshilfe in Luft auf. Das mit diesem Namen versehene Ministerium wäre redundant. Statt zum Beispiel Geld in einem „Gender-Aktionsplan“ (BMZ) zum „Umbau“ fremder Kulturen zu verteilen, könnte es zur Erreichung außenpolitischer Ziele (wie der Verhinderung irregulärer Migration) und Verteidigung (zum Beispiel gegen aggressive islamistische Mächte) verwendet werden. 

Auch wären Kapitalanlagen in die sogenannten „Emerging Markets“ zu überdenken. Ursprünglich wurde der Begriff von einem Ökonomen der Weltbank im Jahr 1981 ins Spiel gebracht, um privates Kapital zur Finanzierung des Aufholprozesses von Entwicklungsländern anzulocken. Doch statt höherer fahren Anlagen dort seit einiger Zeit niedrigere Renditen ein, als sie in den Industrieländern erzielen. So stieg der Wert einer Kapitalanlage in den US-Index S&P500 in US-Dollar seit 20210 um das viereinhalbfache einer Anlage in den BRIC-Ländern (Brasilien, Russland, Indien und China). 

„Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen“, meinte der russische Revolutionär Lenin. Heute sind wir einen Schritt weiter: Wir zahlen Entwicklungshilfe ohne Gegenleistung an einen „Globalen Süden“, der uns abschaffen möchte. Und wir stellen unsere liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in Frage, die uns den heutigen Wohlstand beschert hat. Wir brauchen keinen Henker mehr. Wie sind dabei, uns selbst aufzuhängen.

Guido Steinberg im Gespräch mit Alexander Marguier
Cicero Podcast Politik: „Wir haben das strategische Denken verlernt“
  

Anzeige