Energienotstand in Großbritannien - 100 Milliarden gegen die Vollkatastrophe

Laut einer Studie werden im Januar 53 Millionen Briten ihre Wohnungen nicht mehr ausreichend heizen können. Premierministerin Liz Truss, die sich zuletzt als Nachfolgerin Margaret Thatchers inszenierte, muss sich angesichts der bitteren Umstände nun auf ein 100 Milliarden Pfund schweres Rettungspaket einlassen, um die drohende soziale und ökonomische Vollkatastrophe abzuwenden.

Premierministerin Liz Truss / dpa
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Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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100 Milliarden Pfund: Das ist der Betrag, mit dem Großbritanniens Premierministerin Liz Truss im letzten Moment ihr Land vor den katastrophalen sozialen und ökonomischen Auswirkungen eines Energienotstandes zu retten versucht, dessen dramatische Vorboten die Briten seit Monaten in Atem halten. Dabei lassen sich die immensen Kosten für den Plan der Regierung bisher nur schätzen und die tatsächlichen Ausgaben fallen womöglich weitaus höher aus. Steigen die Weltmarktpreise weiter, sind sich Experten sicher, müsse das Schatzamt vermutlich Kredite in Höhe von 150 Milliarden Pfund aufnehmen, um für Privathaushalte und Unternehmen im Königreich die Energiepreise zu deckeln, die sich seit Anfang des Jahres in schwindelerregende Höhen geschraubt haben.

Bereits im Juli schockte der staatliche Gesundheitsdienst mit der Vorhersage, dass bis Weihnachten zwei Drittel aller Privathaushalte sich die Heizkosten nicht mehr leisten können. Der Begriff der „Heizarmut“ macht die Runde und sorgt längst nicht mehr nur unter Großfamilien mit knappen Kassen, Alleinerziehenden und Rentnern für Angst und die Sorge, in der Winterzeit im Kalten zu sitzen. Eine Studie der Universität York warnte kürzlich davor, dass der rasant steigenden Kosten wegen im Januar 53 Millionen Briten ihre Wohnungen nicht mehr ausreichend werden heizen können.

Besonders eine Nachricht sorgte zuletzt für Panik

Dramatische Zahlen, die kurz darauf der Internationale Währungsfonds bestätigte. Demnach würden in diesem Jahr allein als Folge der bedrohlich anschwellenden Energiekosten die Haushalte 8,3 Prozent ihrer Kaufkraft verlieren. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Rückgang bei vier Prozent. Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sind in Großbritannien noch härter betroffen von den anziehenden Preisen für Gas und Strom als anderswo in Europa. Die zehn Prozent der Haushalte mit dem geringsten Einkommen geben 17,8 ihres Budgets für Energie aus. Bei den zehn Prozent am oberen Ende der Skala sind es nur 6,1. Mit dieser Differenz von 11,7 Prozent nehmen die Briten den Spitzenplatz ein in einer Gruppe von 25 europäischen Länder, die der Internationale Währungsfonds untersucht hat. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals, in Frankreich, trennt Arme und Reiche bei dem Anteil, den sie auf Energie verwenden, gar nur 3,9 Prozent.

Bereits im Frühjahr zeichnete sich ab, dass die rasche Preisspirale in einen Wirbelsturm mutierte, der Existenzen mit sich reißen würde. In wenigen Monaten erlebte das Vereinigte Königreich eine Verdopplung der Energiepreise. Lag die garantierte Obergrenze für die Energieversorgung eines durchschnittlichen Haushalts im März noch bei 1.270 Pfund, stieg die Rechnung im April auf fast 2000 Pfund. Für panische Kommentare sorgte zuletzt die Nachricht, der Aufwärtstrend der Weltmarktpreise veranlasse die Regulierungsbehörde für den Energiemarkt, Ofgem, der dringenden Bitte der Lieferanten nachzukommen und für Oktober beim Standardtarif einer höheren Obergrenze von 3.550 Pfund zuzustimmen – eine Steigerung um 80 Prozent. Diesem Schock ließ Cornwall Insight, eine namhafte Firma für Marktanalyse, die Ankündigung folgen, der Betrag werde im Januar sogar auf 4.260 Pfund angehoben werden müssen.

Truss wird den Preisdruck nicht ändern

In ihrer Not folgten Privatpersonen einem Boykott-Aufruf und kündigten an, die Zahlung derart astronomischer Preise zu verweigern. Doch auch bei den Energieversorgern gab es vor allem Verlierer. In den vergangenen Monaten meldeten 31 Unternehmen Insolvenz an, die ihre Einkaufskosten auf dem Weltmarkt nicht rasch genug an die Privatkunden weitergeben konnten und ihre Rücklagen aufgezehrt hatten. Gleichzeitig meldeten sich immer häufiger die Sprecher der Industrieverbände mit unfassbaren Zahlen und der inständigen Bitte an die Regierung um Hilfe: Ungezählte Unternehmen mit hohen Energieausgaben sähen sich vor dem Aus, denn ihre Kosten sind von Ofgem nicht künstlich gedeckelt. Geschäftsführungen hofften längst auf die Intervention der Regierung angesichts eines 424-prozentigen Anstiegs des Gaspreises im Vergleich zu 2021 und Ausgaben für Elektrizität, die sich des Berechnungsschlüssels wegen am Gaspreis orientieren und um 349 Prozent nach oben schossen. Doch Johnson hielt sich zurück. So kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt wollte er seinem Nachfolger nicht mit einer weitreichenden Entscheidung vorgreifen. Die Regierung vertröstet die besorgte Öffentlichkeit auf September. Die Opposition prangert Woche um Woche an, der Premierminister schlafe am Steuer, während das Land auf ein Desaster zusteuere.
 

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Derweil bemühten sich Analysten um eine Antwort auf die Frage, weshalb der rasant steigende Weltmarktpreis für Gas die Budgets der Privathaushalte in Großbritannien besonders hart trifft. Vor allem hat das damit zu tun, dass auf der Insel 40 Prozent der Elektrizität mit Gas erzeugt wird. In Deutschland liegt nach einer Erhebung des Think Tanks Ember der Anteil von Gas an der Stromerzeugung nur bei sechs Prozent. Allerdings deckt das Vereinigte Königreich nur drei Prozent seines Verbrauchs mit Hilfe Russlands und versorgt sich vor allem aus Vorkommen, die seit den 1960er Jahren vor der Küste Schottlands und Englands erschlossen werden. Lieferungen von dort decken die Hälfte des britischen Erdgasbedarfs. Doch die Unternehmen, die das Öl- und Gasgeschäft in der Nordsee betreiben, verlangen von ihren Kunden Weltmarktpreise und die steigen als Folge des Konflikts mit Russland. An den Weltmarktpreisen orientieren sich auch die Lieferverträge zwischen Briten und Norwegern, von denen die Briten ein Drittel ihres Bedarfs beziehen. An diesem unerbittlichen Preisdruck wird die Zusage von Liz Truss, hunderte neue Lizenzen für Bohrungen in der Nordsee zu vergeben, nichts ändern.

Wärmedämmung am Bau wurde über Jahre versäumt

Wer die Energierechnung wirkungsvoll drücken will, der senkt seinen Energiebedarf, indem er Wände und Dächer von Gebäuden isoliert. Was Skandinavier und Deutsche in den vergangenen Jahrzehnten systematisch betrieben hatten, wurde in Großbritannien vernachlässigt. Staatliche Fördermittel zur Wärmedämmung am Bau wurden nicht abgerufen und Pläne zur Finanzierung von Nullenergiehäusern von der Regierung aufgegeben. Gerade ältere Häuser haben auch heute oft noch keine mehrfach verglasten Fenster. Die Folgen dieser Versäumnisse hat die Denkfabrik E3G in einer Untersuchung beziffert. Bei vergleichbarem Rückgang der Außentemperatur fällt die Innentemperatur bei Häusern in Großbritannien um drei Grad, während Gebäude in Deutschland durchschnittlich einen Rückgang um ein Grad verzeichnen.

Was über Jahre versäumt wurde, kann die Regierung nicht rechtzeitig zum Winter aufholen. Auch die Ankündigung der neuen Regierungschefin, das Fracking-Verfahren zur Gasgewinnung nun doch zuzulassen, verspricht keine kurzfristige Entlastung. Finanzielle Hilfen für die Verbraucher sind für die Wintermonate die einzig wirksame Politik. Das hatte schon Boris Johnson erkannt und bereits im Frühjahr eine Einmalzahlung von 400 Pfund für alle Bürger zugesagt. Dazu kommen noch einmal 650 Pfund für acht Millionen Menschen, die von Sozialhilfe leben oder nur geringe Löhne beziehen. Doch erst der jetzt von Liz Truss verkündete gewaltige Rettungsplan reicht aus, um den Kostentsunami aufzuhalten, der dem Land droht. Darin ist vorgesehen, dass der Normaltarif für den durchschnittlichen Haushalt von aktuell 1.971 auf höchstens 2.500 Pfund ansteigen wird. Unternehmen erhalten für sechs Monate vergleichbare Garantien und danach maßgeschneiderte Hilfsangebote. Ob damit die Energiekrise „ein für alle Mal“ beendet ist, wie die Premierministerin im Unterhaus verkündete, gilt aber schon jetzt als fraglich. Denn die Maßnahmen sind zunächst auf zwei Jahre befristet.

Keine Übergewinnsteuer mit Truss

Eine längere Laufzeit wäre kaum finanzierbar. Schon jetzt könnten die Kosten für das Programm der Regierung den Schuldenstand von derzeit 85 auf 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochschnellen lassen. Die oppositionelle Labour-Partei hält das für unverantwortlich der nächsten Generation gegenüber. Auch unter den Wählern der Tories gibt es Zweifel an der Finanzierung über Schulden. Nur 13 Prozent halten das für den besten Weg. Dagegen haben 74 Prozent der konservativen Wähler Sympathie für eine Einmalsteuer auf die Gewinne der Energieförderer, die nach Berechnungen der Opposition in nächsten zwei Jahren Profite in Höhe von 170 Milliarden Pfund erwarten.

Auf eine Übergewinnsteuer kann sich Truss nicht einlassen, nachdem sie sich in den Sommermonaten als Nachfolgerin Margaret Thatchers präsentiert hat und an der Senkung von Steuern und Abgaben gemessen werden will. Von teuren Hilfspaketen und finanziellen Geschenken, die kurzfristig soziale und ökonomische Probleme überdecken, hält sie zwar ebenfalls nichts, muss sich der bitteren Umstände wegen dennoch jetzt darauf einlassen. Die enormen Schulden für den Rettungsplan werden künftig die Steuerzahler begleichen. So wird die Energiepreiskrise und ihre finanziellen Folgen die britische Politik noch auf Jahre hinweg beschäftigen, auch wenn derzeit das Schlimmste für diesen Winter abgewendet scheint.

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