Diskussion über Ukrainekrieg bei Anne Will - Frustrierend und verlogen

In der sonntäglichen Diskussion mit Anne Will kommt nicht nur die Verteidigungsministerin in Erklärungsnot – auch Christoph Heusgen, der ehemalige Berater von Angela Merkel, laviert sich durch die Debatte. Dass man der Ukraine beistehen sollte, darüber herrscht zwar Einigkeit. Aber wie das konkret zu geschehen hat und um welchen Preis, das ist die Frage des Abends: deutsche Ratlosigkeit in tugendhaftem Gewand.

Die Talkrunde von Anne Will an diesem Sonntagabend / screenshot
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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„Wir stehen selbst enttäuscht und seh’n betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen“: Bertolt Brechts berühmtes Zitat ist zwar leidlich überstrapaziert, eignet sich aber gleichwohl perfekt als Zusammenfassung für die Talkshow von Anne Will an diesem Sonntagabend. „Krieg ohne Ende?“, so der Titel für die Diskussionsrunde, bei der natürlich „Putins Angriff“ (so hieß es ebenfalls in der Überschrift) gemeint war. Wobei schon das zu hinterfragen wäre, denn der russische Präsident ist ja kein einsamer Feldherr und genießt offenbar auch den Rückhalt eines Großteils seiner Bevölkerung – Staatspropaganda hin oder her.

Die Teilnehmerschaft bei Will war trotz unterschiedlicher Sichtweisen in einzelnen Punkten weitgehend einer Meinung, nämlich dahingehend, dass Russlands Invasion ins Nachbarland zur Selbstisolation führe, die regelbasierte Weltordnung unterminiere (wenn diese denn je wirklich Bestand hatte) und durch wirtschaftliche Sanktionen zumindest erschwert werden müsse. Was man eben so sagt, wenn die Not groß ist und guter Ratschlag billig. Die Ehre gaben sich: Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff, Christoph Heusgen als Chef der Münchener Sicherheitskonferenz und langjähriger außenpolitischer Berater Angela Merkels, die ehemalige Nato-Planungsstabschefin und jetzige Beraterin Stefanie Babst. Sowie Marina Weisband, die aus Kiew stammt, einst in der Piratenpartei aktiv war und nun als „Publizistin“ vorgestellt wird.

Den Auftakt machte Lambrecht, die von Will mit der peinlichen Tagesordnung des Deutschen Bundestags im Nachgang zur dortigen Rede von Wolodimir Selenskij am vorigen Donnerstag konfrontiert wurde. Die Idee, so die Verteidigungsministerin, sei es gewesen, die Worte des ukrainischen Präsidenten „für sich stehen zu lassen“. Was ja nicht heißen muss, dass Katrin Göring-Eckardt als Bundestagsvizepräsidentin im Anschluss daran banale Geburtstagsglückwünsche für einzelne Abgeordnete verliest und ansonsten zum Tagesgeschäft überwechselt. Das hat sich – wohl aber nur wegen des negativen Medienechos – inzwischen auch in der Bundesregierung herumgesprochen, weshalb Lambrecht kleinlaut einräumte, man habe gespürt, dass das Prozedere „nicht hält in dieser besonderen Situation“. Auch Lambsdorff sprach von einer „Reihe falscher Entscheidungen“.

Heusgen laviert herum

Auftritt Heusgen, dessen diplomatisches Geschick offensichtlich stets mehr mit Herumlavieren und Opportunismus zu tun hat, auch wenn er inzwischen von der Merkel-Fron befreit ist. Er verteidigte jedenfalls das beredte Schweigen des Bundeskanzlers nach dem Selenskij-Auftritt damit, Scholz agiere „hinter den Kulissen“ (was niemand bezweifelt hatte), außerdem unterstütze Deutschland die Ukraine (was auch niemand bezweifelt hatte; ist halt nur die Frage, wie und womit). Und ohnehin sei man hinterher immer schlauer als vorher. Was insbesondere auf Heusgen selbst zutrifft, wie sich im Laufe der Sendung zeigen sollte.

Ex-Nato-Mitarbeiterin Babst kündigte zuvor aber noch an, der „militärische Konflikt“ (mit dem Wort „Krieg“ schien sie seltsamerweise ein Problem zu haben) um die Ukraine werde noch lang anhalten, Putin könne jetzt nicht mehr zurückrudern und wolle das Nachbarland zu einem Rumpfstaat mit Pufferfunktion degradieren. Ein Energieembargo gegenüber Russland werde die Bundesrepublik übrigens über kurz oder lang mittragen müssen, auch wenn dies am Kriegsverlauf kurzfristig nichts ändern werde.

Das mögliche Energieembargo entwickelte sich dann zu einem der Leitthemen – und zwar schon aufgrund der Tatsache, dass erstens allein aus Deutschland jeden Tag 200 Millionen Euro für russische Energieträger in Richtung des Putin-Regimes fließen. Und zweitens, weil die Bundesrepublik schlichtweg auf entsprechende Lieferungen angewiesen ist, wenn sie nicht die einzige Macht aufs Spiel setzen will, die ihr überhaupt noch zur Verfügung steht, nämlich die Wirtschaft. Es geht also durchaus ans Eingemachte, und ob Weisbands hehres Angebot, sie wäre bereit „auf zwei bis drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu verzichten“, auch für den Großteil der Bevölkerung gilt, steht auf einem anderen Blatt. Als „virtue signalling“ funktionieren solche Sprüche jedenfalls immer, in der praktischen Umsetzung wird es dann meist etwas schwieriger.

Putin „falsch eingeschätzt“

Dass die jetzige Misere auch und vor allem das Ergebnis der zumindest kurzfristig faktisch alternativlosen Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieträgern ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Insofern war es naheliegend, dass die Moderatorin von Heusgen wissen wollte, wie es denn so weit überhaupt habe kommen können. Na ja, so der langjährige Ex-Merkel-Berater, man habe halt daran geglaubt, „Wandel durch Handel“ herbeiführen zu können und Putin dabei „falsch eingeschätzt“. Die wenigsten hätten gedacht, dass der Machthaber im Kreml einfach mal ein anderes Land überfallen werde. Nach den Erlebnissen in Georgien (2008) und auf der Krim (2014) klingen solche Worte, gelinde gesagt, naiv. Man könnte auch sagen: Aus dem Mundes eines Mannes wie Heusgen, der die deutsche Außenpolitik wesentlich mit beeinflusst hat, sind sie regelrecht verheerend. Jedenfalls ist dieser nun erkennbar darum bemüht, die Invasion der Ukraine als ein singuläres Ereignis zu bewerten, das wirklich niemand habe vorhersehen können.

Wenn man also auf Öl und Gas aus Russland schon nicht verzichten kann, wie steht es dann um die versprochenen Waffenlieferungen an die Ukraine? Anne Will wollte das von der Bundesverteidigungsministerin Lambrecht nicht nur wissen, sondern konfrontierte sie zudem mit der jüngsten Nachricht, dass von den 2700 versprochenen Strela-Raketen aus alten NVA-Beständen bisher nur 500 an der Zahl geliefert worden seien. Wie das denn wohl sein könne? Offenbar ein wunder Punkt, denn Lambrecht reagierte einigermaßen pikiert und sprach davon, dass man „aus Sicherheitsgründen“ nicht öffentlich darüber kommunizieren wolle, um die ganze Aktion nicht zu gefährden. Fakt sei: „Wir liefern Waffen“ (wann und wie viele behielt Lambrecht für sich), außerdem stelle Deutschland als „Drehscheibe für Truppenverlegungen“ ja auch seine Infrastruktur zur Verfügung. Und der Zusammenhalt innerhalb der Nato sei ohnehin das Allerwichtigste. Das klang fast so, als müsse der Westen den Deutschen dankbar dafür sein, dass sie bündnispolitisch nicht ausscheren.

Zeitenwenden und Stilblüten

Lambsdorff von der Regierungspartei FDP wiederum gab sich alle Mühe, koalitionspolitisch nicht aus der Ampel auszuscheren und lobte Bundeskanzler Scholz dafür, dieser habe mit seiner „Zeitenwende“ in Sachen Verteidigung (Stichwort 100 Milliarden Sondervermögen) auch andere Länder (Italien, Niederlande) unter Druck gesetzt, es Deutschland gleichzutun. Nach jahrzehntelangem Ausblutenlassen der Bundeswehr und verteidigungspolitischem Trittbrettfahrertum soll also neuerdings offenbar der Rest Europas an bundesrepublikanischer Schnell-Aufrüstung genesen. Es ist schon erstaunlich, welche Stilblüten die eine oder andere Zeitenwende hervorbringt. Wenn jetzt noch die Wirtschaftsminister befreundeter EU-Staaten Habeck-mäßig nach Katar pilgern, um dort neue Gaslieferungen auszuhandeln, hat das vorbildhafte Deutschland am Ende mal wieder Recht behalten. Und das ist ja bekanntlich das Wichtigste.

Noch ein paar Sätze zur immer wieder diskutierten Flugverbotszone für die Ukraine: Dass man damit faktisch Kriegspartei werden würde, war einhellige Meinung – weshalb sich sogar Weisband, die private Verbindungen in das Land hat und deshalb weniger abstrakt involviert ist als ihre Mitdiskutanten, sich dagegen aussprach. Nato-Expertin Babst gab außerdem zu bedenken, dass ein solches Flugverbot technisch kaum durchsetzbar wäre. Es existiere allerdings, daran erinnerte Lambsdorff mehrmals, eine klare rote Linie für die Nato: nämlich die Grenzen des Bündnisgebiets. Dies habe man Putin ebenso unmissverständlich klar gemacht wie die Tatsache, dass die Nato ansonsten keine eigenen Truppen schicken werde. Der Fachbegriff lautet übrigens „messaging“.

Die Diskussion, so Marina Weisband am Ende der Sendung, sei doch einigermaßen frustrierend. Da kann man ihr nicht widersprechen. Und auch ihrer Forderung nach einer „neuen Sicherheitsordnung für die Welt“ möchte man sich gern anschließen. Bleibt nur die Frage, wie diese Ordnung aussehen und vor allem wer sie erlassen soll. Und ob sich hinterher auch alle daran halten.

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