Die Grünen zum Nahen Osten - Gedämmte Prosa

Das Kapitel zum Nahostkonflikt im Wahlprogramm der Grünen ist jetzt schon von der Wirklichkeit eingeholt worden. Denn das zentrale Wort für die deutsche Verantwortung gegenüber Israel – die Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsraison – fällt dort nicht. Baerbock versucht daher eine 180-Grad-Wende.

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bei einer DGB-Kundgebung / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Gut, Wahlkampfprogramme sind eine ganz besondere Prosa. Aber wenn es ansteht, dass die Grünen erstmals die Kanzlerin stellen können, gilt es, die Worte genauer zu wiegen. Wie auch der Blick in die Partei die Lücke zwischen Anspruch und Zuspruch ermessen muss.

Das gilt umso mehr, wenn es nicht um Programmziele geht, die in Koalitionsgesprächen an einigen Stellen poliert und an anderen rasiert werden. Sondern wenn es um eine Lage geht, in der es auf die Kanzlerin ankommt. Wenn sich Krise und Gewalt zu einem internationalen Konflikt steigern und internationale Abstimmung unter Zeitdruck erforderlich werden kann. Wie derzeit im Nahen Osten.

Schmückende Schlagworte

Was steht im Grünen-Wahlprogramm über diesen Konflikt? Ein eigenes Kapitel gibt es, ebenso ausführlich wie zu China, Russland, Afrika. Es ist gedämmte Prosa, die von den Äußerungen der vergangenen Tage inzwischen eingeholt ist. Denn das zentrale Wort für die deutsche Verantwortung gegenüber Israel – die Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsraison – fällt dort nicht. Schlagworte wie Verantwortung, Frieden, Stabilität, multilateraler Friedensprozess und langfristiger Frieden umschmücken die zentrale Forderung: Für Frieden und Sicherheit braucht es eine Zweistaatenregelung mit zwei souveränen, lebensfähigen und demokratischen Staaten für Israelis und Palästinenser*innen. Israels Siedlungsbau und Annexion besetzter Gebiete verhindern nach Ansicht der Grünen dieses Ziel.

Klingt danach, als wüssten auch die Grünen besser, was die demokratische israelische Gesellschaft wollen sollte. Damit stehen sie aber nicht allein. Vor allem aber liegt dieses Ziel politisch im Himmel, und keiner weiß einen Weg dorthin. Baerbocks erste Reaktion auf die neu aufgeflammte Gewalt ging sogleich am Thema Krisenmanagement vorbei. Sie verurteilte die Raketenangriffe der Hamas „aufs Schärfste“. Und folgerte: „Die Gewaltspirale zeigt, wie dringend die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen ist.“

Omid Nouripour, der außenpolitische Kopf der Grünen, wies parallel darauf hin, dass es freilich mit der Hamas – die von der EU als Terrororganisation eingestuft wird – keine Verhandlungen geben könne. Insofern war Baerbocks Reaktion mit Blick auf den außenpolitischen Konsens in Deutschland nicht falsch. Sie hatte nur mit der Lage in Israel nichts zu tun. Denn die Fatah, mit der Verhandlungen geführt werden, ist in Gaza und gegenüber der Hamas und anderen islamistischen Gruppen machtlos.

Auch Maas muss seine Reaktion kassieren

Baerbock korrigierte diese Einschätzung um 180 Grad, ganz ähnlich wie auch Außenminister Maas seine erste Reaktion kassieren musste. Sie schwenkten auf die Linie ein, die als erster Antony Blinken geäußert hatte: Deeskalation von beiden Seiten fordern, aber Israels Recht auf Verteidigung betonen. Das ist etwas ganz anderes. Denn damit wird festgestellt, wer der Aggressor ist: die Hamas. Nun betonte auch Baerbock Israels Recht auf Selbstverteidigung und schloss an, dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsraison sei.

So wie es Bundeskanzlerin Merkel 2008 in der Knesset formuliert hat, ohne in den darauffolgenden dreizehn Jahren zu erläutern, was dieser Satz denn eigentlich heißt. Selbst als Wolfgang Ischinger 2012 angesichts der Spannungen mit Iran Merkel indirekt aufforderte, das zu klären, blieb die Antwort aus. Baerbock macht es Merkel gleich, auch in diesem Fall. Nur eine „belastbare Friedenslösung“ könnte den Konflikt lösen. Das ist dann nicht mehr Prosa, sondern Lyrik.

Die große Frage ist, welche Positionen die grüne Partei mitträgt. Wegen ihres Einflusses auf junge (und nicht mehr so junge) Grüne war ja das erste Erschrecken über Greta Thunbergs Solidarisierung mit der palästinensischen Seite so groß. Sie wurde bestärkt durch die Unterstützung der BDS-Kampagne durch Fridays for Future. Solche Stimmen müsste eine zukünftige grüne Kanzlerin ernst nehmen. Ebenso, dass es auch in der Bundestagsfraktion keine einheitliche Verurteilung der BDS-Kampagne gibt. Der Bundestag hatte sie 2019 mit großer Mehrheit (Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne) als antisemitisch bezeichnet.

BDS-Kampagne nicht einheitlich verurteilt

Eine „große Minderheit“ in der Fraktion um Jürgen Trittin lehnte dies ab. Er fügte an: „Ich glaube, dass die Zustimmung bei vielen von dem Motiv geleitet war, sich nicht selbst dem unberechtigten Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen.“ Das ist in der Partei eine feste Grenze, wie gerade die Grüne Jugend vielfach belegt. Das Engagement gegen Antisemitismus ist stark. Aber Antisemitismus zu bekämpfen und Israel in sicherheitsbedrohenden Lagen beizustehen, können, wie man sieht, unterschiedliche Fragen aufwerfen und Haltungen hervorbringen.

Es wird jedoch weit eher das Verhältnis der Grünen zur Anwendung von Gewalt sein, das eine Kanzlerin aus dieser Partei in ihrer internationalen Handlungsfähigkeit einengt. Denn sicherheitspolitisch sind die Grünen, nimmt man ihr Wahlprogramm ernst, weit weg von der Wirklichkeit bestehender Sicherheitsgefahren.

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