Deutsche Außenpolitik - Ohne Kompass

In der internationalen Politik ist Deutschland ein Zwerg. Denn die Regierungen unter Angela Merkel hatten keine Vorstellung davon, welchen Platz die Bundesrepublik einnehmen soll. Es fehlt jegliche Strategie.

Seit über zehn Jahren fehlt der deutschen Außenpolitik eine Strategie / Matthias Seifarth
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Der Wahlkampf hat es erneut offenbart: Zwischen innenpolitischer Nabelschau und Weltretten klafft im politischen Diskurs ein großes Loch. Dort, wo sich Gesellschaften vergewissern, welche Interessen sie international verfolgen und in welcher globalen Ordnung sie leben möchten, herrscht eisiges Schweigen, untermalt von Floskeln, die als politische Aufzugsmusik die konzeptionelle Leere untermalen. 

Dabei ist Deutschland die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und der dominante Staat in der Europäischen Union. Das Land gehört zu den herausgehobenen Klubs der G 7 und G 20 und ist in vielen internationalen Organisationen einer der größten Geldgeber. Damit ist Deutschland eigentlich prädestiniert, um in der internationalen Politik eine herausgehobene, zumindest eine hörbare Rolle zu spielen, einflussreich zu sein und wichtige Weichenstellungen beeinflussen zu können. Offenkundig ist das nicht der Fall.

Es könnte daran liegen, dass alle vier Grundlagen der Stellung Deutschlands in der Welt leicht relativiert werden können. So entspricht die deutsche Volkswirtschaft gerade einmal 18 Prozent der amerikanischen, ist die EU ein Klub zerstrittener Staaten mit sehr unterschiedlichen Präferenzen und sitzen bei G 7 und G 20 weitaus stärkere Staaten am Tisch. Schließlich lässt sich Geld nicht kontextfrei in politischen Einfluss konvertieren, beispielsweise weil andere dagegenhalten. Aber selbst dann müsste Deutschland bei der Neugestaltung der internationalen Ordnung spürbaren Einfluss entfalten können. Das ist nicht zu sehen. Woran liegt das? 

Scheinriese

Der Hauptgrund ist, dass die Bundesregierungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht realitätstüchtig definiert haben, welche internationale Ordnung sie anstreben, und deshalb auch keine außenpolitische Strategie ausgebildet haben. Freilich, schöne Worte fanden sie in ihren Amtszeiten genug. Aber da hinter ihnen weder Zwecke noch Strategien und Fähigkeiten standen, waren sie nicht mehr als ungedeckte Verbalschecks. Sie werden weltweit als wohlfeil angesehen, als Ansprüche, die nicht ausreichend unterlegt sind. <p>%paywall%</p>

Deutschland ist weiterhin ein wirtschaftlicher (Schein-)Riese und gleichzeitig politisch ein Zwerg. Das Neue daran ist: Dieser Zustand ist seit vielen Jahren selbst verschuldet. Denn anders als zu Zeiten der Ost-West-Teilung wären seit 20 Jahren andere Entscheidungen möglich gewesen. Sie scheiterten an vielen Ursachen, vor allem aber daran, dass die politische Führung ihre Amtsstellung nicht durch ordnungspolitisches Handeln gefährden wollte.

Es geht auch anders

Das war früher anders. Insbesondere drei Kanzler hatten klare Vorstellungen davon, welche Stellung Deutschlands in der internationalen Ordnung sie für richtig ansahen, welche Rollen das Land einnehmen sollte und wie sie diese gegen Widerstände durchsetzen wollten. Die innenpolitischen Lagen und internationalen Umstände waren in allen drei Fällen äußerst unterschiedlich. Gemeinsam war der Politik Konrad Adenauers, Willy Brandts und Egon Bahrs sowie Helmut Kohls, dass sie eine Richtungsentscheidung trafen und das außenpolitische Handeln koordiniert daran ausrichteten.

Die Westintegration wurde in den fünfziger Jahren ebenso wie die Ostpolitik in den siebziger Jahren gegen starke innenpolitische Opposition durchgesetzt und musste mit scharfem Gegenhandeln anderer Staaten umgehen. Die deutsche Einheit war ebenfalls kein selbstlaufender Prozess, als der sie heute manchem erscheinen mag, sondern erfuhr von London bis Warschau ebenso Gegenwind wie aus den beiden deutschen Gesellschaften. Adenauer, Brandt und Kohl gingen mit ihren politischen Entscheidungen Risiken ein, weil sie wussten, was sie erreichen wollten. Das hat sich geändert.

Moralische Weltmacht

Dabei war nach den Turbulenzen der neunziger Jahre und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 doch offensichtlich, dass sich Regierungen mit den Grundlagen ihrer Außenpolitik befassen müssen. Die Trennung innerer und äußerer Sicherheit war endgültig aufgehoben, militärische und zivile Aufgaben gingen ineinander über. Die Globalisierung erforderte zwingend ordnungspolitische Antworten. Denn die Gewissheiten der internationalen Zweiteilung sackten nun endgültig in die Unsicherheit prekärer Ordnungsstrukturen ab. 

Das unipolare Moment der USA schlug hohe Wellen, unter denen die Vereinigten Staaten dann selbst an Gestaltungskraft verloren. Es wäre sinnvoll gewesen, die eigenen Vorstellungen darüber, wie die internationale Ordnung gestaltet werden und welche Interessen Deutschland darin verfolgen sollte, in dieser Zeit zu definieren. Das geschah aber nur in den Sphären politischer Poesie, indem Europa zur moralischen Weltmacht gekürt wurde. 

Realitätsferner Behördenegoismus

Der Mühe, Deutschlands ordnungspolitische Präferenzen und Interessen in einem Dokument zu veröffentlichen, es alle zwei Jahre zu aktualisieren und international zu kommunizieren, unterzogen sich die Regierungen nicht. In vielen anderen Staaten münden diese Überlegungen in einer nationalen Sicherheitsstrategie. Deutschland kennt ein solches Dokument nicht. Es gibt zwar Regionalstrategien und ein Gestaltungsmächtekonzept, in dem das hohe Lied der Vagheit gesungen wird. Aber erstens meinten manche in Berlin, eine nationale Sicherheitsstrategie sei nicht nötig, weil die Europäische Union eine solche ausgearbeitet habe. Dabei schwanken diese Dokumente zwischen dem kleinsten gemeinsamen Nenner und der typischen EU-Hybris, sich auf Augenhöhe mit den Weltmächten zu verorten. Eine multipolare Ordnung strebe man an, die EU (und Deutschland darin vorneweg) als global einflussreicher Akteur. Welche Fallhöhe zur realen Lage! 

Der Versuch, eine nationale Sicherheitsstrategie auszuarbeiten, scheiterte zweitens an Behördenkonkurrenz. Und aus dem Bundeskanzleramt gab es keinen ausreichenden Druck, um diese Egoismen zu überwinden. 
Selten wurde es so offensichtlich wie bei dem fast 20-jährigen Einsatz in Afghanistan, dass sich das Auswärtige Amt, das Bundesministerium der Verteidigung und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – die alle drei konstruktiv zusammenarbeiten sollten – gegenseitig als Widersacher betrachten, denen nicht zu trauen sei. Während die Reden davon handelten, dass die deutsche Außenpolitik behördengemeinsam und europäisch-multilateral ausgerichtet sein sollte, war das Handeln in Wirklichkeit behördenegoistisch und kooperationsneutral. 

Kohls Antizipation

In der EU spielte die deutsche Außenpolitik ihre auf wirtschaftlicher Stärke beruhende Dominanz zwar immer wieder aus. Gegen die Widerstände anderer EU-Staaten wurde die Politik gegenüber Griechenland geformt, Nord Stream 2 realisiert und die Migrationspolitik geprägt. Für eine gemeinsame EU-Außenpolitik, insbesondere auch eine EU-Sicherheitspolitik, unternahmen die Bundesregierungen hingegen keine Anstrengungen, die ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprochen hätten. Sowohl die europäische Integration als auch die transatlantischen Beziehungen litten unter dieser deutschen Verweigerung – so stark, dass Altbundeskanzler Kohl 2011 zu deutlichen Worten griff. Weil jede dieser Einsichten auch heute, zehn Jahre später, noch Gültigkeit beanspruchen kann, sei er ausführlich zitiert. 

Helmut Kohl erklärte 2011 im Interview mit der Zeitschrift Internationale Politik: „Deutschland ist schon seit einigen Jahren keine berechenbare Größe mehr – weder nach innen noch nach außen.“ Er fuhr fort: „Wenn ich (…) die Entwicklung der vergangenen Jahre betrachte (…), dann frage ich mich schon, wo Deutschland heute eigentlich steht und wo es hinwill. Und diese Frage stellen sich andere natürlich auch, auch unsere Freunde und Verbündeten im Ausland.“ Er sah die Gefahr, dass Deutschland international an Einfluss verliere, weil es keine klare außenpolitische Ausrichtung habe, und benannte auch den aus seiner Einschätzung wichtigsten Grund. „Wenn man keinen Kompass hat, wenn man also nicht weiß, wo man steht und wo man hinwill, und daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen, dann hängt man auch nicht an dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach weil man keinen Sinn dafür hat.“

Strategieloses Jahrzehnt

Der Dreiklang aus Westintegration, Ostpolitik (die Kohl nicht betonte, aber das hatte parteipolitische Gründe) und der deutschen Einheit in europäischer Integration schien ihm in Gefahr. „Um es auf den Punkt zu bringen: Die enormen Veränderungen in der Welt können keine Entschuldigung dafür sein, wenn man keinen Standpunkt oder keine Idee hat, wo man hingehört und wo man hinwill. Das Gegenteil ist der Fall: Die enormen Veränderungen rufen geradezu nach festen und klaren Standortbestimmungen, nach Konstanten und Verlässlichkeit. Je komplexer die Welt ist, desto wichtiger ist es, dass die Entscheidungsträger (…) ihre Verantwortung wahrnehmen, Führung zeigen, Antworten geben und in ihren Standpunkten und Prinzipien klar und nachvollziehbar bleiben.“ 

Zum damaligen Zeitpunkt war Angela Merkel seit sechs Jahren Bundeskanzlerin. An Kohls Diagnose sollte sich allerdings auch in den nächsten zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft nichts ändern. Außenpolitik wurde ohne ordnungspolitischen Zweck, ohne klare Zielsetzungen und ohne ausreichende Fähigkeiten betrieben – so, als gelte es nur, die Tagesgefahren abzuwenden. Es war eine Art Konflikt-Surfen. Die jeweils nächsten Landtagswahlen schienen den Horizont dieses Ansatzes zu definieren.
In Deutschland sind die Minister für ihr eigenes Ressort verantwortlich und gewöhnlich gut darin, Übergriffe von außen abzuwehren. Die außenpolitischen Grundsatzentscheidungen fallen jedoch im Kanzleramt, das von Beginn an die zentralen außenpolitischen Handlungsfelder für sich reklamierte – bei Adenauer (zu Anfang selbst sein Außenminister) wie Schmidt und Merkel. Aus dem Bundeskanzleramt fehlte in den letzten 20 Jahren allerdings jede außenpolitische Führung, die über das Tagesgeschäft hinausging. 

Stattdessen Hin und Her

Das Bundesministerium der Verteidigung wurde in diesen Jahren vornehmlich verwaltet, und an den unterschiedlichen Weißbüchern – aus den Jahren 2006 und 2016 – lässt sich wenig Substanzielles ablesen. Aus dem Auswärtigen Amt gab es verschiedene Konzepte, die jedoch alle nicht trugen. Außenminister Westerwelle (FDP) versuchte, eine „Kultur der (militärischen) Zurückhaltung“ umzusetzen, was in das Dilemma führte, dass Deutschland, das die Schutzverantwortung international mit durchsetzen wollte, bei ihrer bisher einzigen Anwendung im UN-Sicherheitsrat mit Stimmenthaltung beiseitestand. In Libyen war Deutschland 2011 deshalb nicht beteiligt, sondern stieß die Verbündeten vor den Kopf. Die Beziehungen zu diesen aber sollten, so der nächste Außenminister Steinmeier (SPD), die „Grundkoordinaten der deutschen Außenpolitik sein“, wobei allein die EU der international relevante Handlungsrahmen sei. 

Das ist richtig, aber dann stellt sich doch die Frage, warum dafür nicht mehr getan wurde. Der Anspruch, den Bundespräsident Gauck auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz formulierte, dass sich die deutsche Außenpolitik „früher, entschiedener und substanzieller einbringen“ müsse, und den Steinmeier übernahm, blieb effektiv unerfüllt. Die von Außenminister Maas gebetsmühlenhaft verwendete Formel, dass es der deutschen Außenpolitik um die Verwirklichung einer regelbasierten internationalen Ordnung gehe, legt das mangelnde Verständnis von internationaler Politik und seine mangelnde Urteilskraft schonungslos offen. Denn in der internationalen Politik gibt es keine zentrale regelsetzende Instanz, die über die Einhaltung von Verabredungen wacht und Fehlverhalten sanktioniert, wenn sich – insbesondere die großen – Staaten dem entziehen wollen. 

Naive Vorstellung

Diese geben sich die Regeln und halten sie ein, solange sie wollen. Und wenn sie sich entscheiden, Regeln zu missachten, dann gibt es keine Organisation, die als Polizei auftritt und für die Einhaltung derselben sorgt. Maas’ Hinweis ist also nicht mehr als die Bitte um Selbstdisziplinierung im kollektiven Rahmen. Denn wer wollte China dazu anhalten, das Urteil des Internationalen Schiedsgerichts von 2016 einzuhalten und das Südchinesische Meer nicht als eigenes Gebiet anzusehen? Die Vorstellung der kollektiven Selbstbescheidung von Staaten in einer anarchischen Umwelt, in der jeder für seine eigene Sicherheit sorgen muss, ist ebenso romantisch wie naiv. 

Wie konnte es zu diesem Inseldasein des Auswärtigen Amtes kommen? Und warum gingen vom Amt nicht Impulse für eine strategische Ausrichtung deutscher Außenpolitik aus?

Einer der Gründe kann darin gesehen werden, dass das Auswärtige Amt seit der Amtszeit von Gerhard Schröder (dem früheren!) immer von Parteien beschickt wurde, die nicht den Kanzler stellten. Bundeskanzleramt und Auswärtiges Amt waren deshalb mit unterschiedlichen parteipolitischen Prämissen auf der Leitungsebene ausgestattet. Da die Außenpolitik wesentlich im Bundeskanzleramt gefertigt wurde und alle Bundeskanzler sich die Prärogative trotz Ressortzuständigkeit der Minister nahmen, baute sich das zum Problem aus. 

Wegen Passivität am Seitenrand

Denn in den 55 Jahren seit 1966 tickten Bundeskanzler und Außenminister verschieden. Und die Parteien hinterließen, auch wenn die Leitungs­ebene wechselte, doch ihren ideologischen Fußabdruck auf den Arbeitsebenen des Amtes. Zuerst lange Zeit die FDP, später Grüne und die SPD. Im Bundeskanzleramt wurde parallel nicht die Notwendigkeit gesehen, eine vorausschauende und kohärente Außenpolitik anzulegen. Warum sollte sich Bundeskanzlerin Merkel also in den 16 Jahren ihrer Amtszeit in die Ausarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie und die Entwicklung einer strategischen Außenpolitik verkämpfen, bei der sie nichts für ihr Image und die nächsten Wahlen zu gewinnen hatte? Deshalb unterließ sie es.

Die Folgen dieser Passivität zeigen sich derzeit im Prozess der Neugestaltung der internationalen Ordnung. Die EU steht mit großen Augen am Seitenrand. Es verfestigt sich eine Struktur, die gebrochen bipolar ist, indem zwei Weltmächte – die USA und China – sich gegenseitig als Rivalen um die Gestaltung dieser Ordnung ansehen. Und es auch wirklich sind. Eine Reihe dritter Staaten – Russland an erster Stelle – sind in diese Zweiteilung nicht fest einzureihen, weil sie sich strategische Autonomie erarbeitet haben, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Andere Staaten, insbesondere die kleineren, stehen vor der Frage, wie sie sich gegenüber den Weltmächten positionieren sollen. Das betrifft auch die europäischen Staaten, die jeder für sich zu unbedeutend sind, um Einfluss auf die Gestalt der internationalen Beziehungen nehmen zu können. 

Außenpolitischer Zwerg EU

Das ist den EU-Staaten bewusst und sie sehen in der Zusammenlegung von Fähigkeiten – ganz abstrakt und politisch bisher ohne Substanz – eine Möglichkeit, internationale Mitsprache zu reklamieren. Doch fällt die EU als Resonanzboden und Verstärker von internationaler Handlungsfähigkeit aus. Weil kein Staat die Führung übernahm, eine gemeinsame Außenpolitik auszuarbeiten, gibt es sie nicht. Der EU-Außenbeauftragte Borrell verkörpert die tragikomische Lage der EU in seinem Auftreten noch stärker als seine völlig unmaßgeblichen Vorgängerinnen in den zehn Jahren zuvor. 

Dabei verstört die Einsicht, dass die EU-Staaten nicht befähigt sind, die grundlegenden Aufgaben von Staaten zu erfüllen – und diesen Zustand mit stoischer Ruhe aussitzen. Die EU-Staaten sind nicht in der Lage, sich militärisch selbst zu verteidigen oder dritte Staaten abzuschrecken. Sie sind nicht in der Lage, in ihrem geografischen Umfeld für Stabilität zu sorgen, und müssen hinnehmen, dass im Umfeld der EU mehrere Staaten zerbröseln, Clanstrukturen dominant werden, Söldner und Terroristen sich festsetzen – oder dritte Staaten wie China, Russland und die Türkei an Einfluss gewinnen. Die wichtige Frage der Migration beispielsweise ist hier direkt mit sicherheitspolitischen Fähigkeiten verknüpft, denn ohne politisch stabile Staaten wird deren Einhegung, die an den Grenzen nicht gelingt, die EU erpressbar halten. 

Die EU-Staaten sind auch nicht in der Lage, einen Beitrag zur Sicherheit der Meere und der Schifffahrt zu leisten, die den internationalen Handel trägt. Das heißt aber nicht, dass sie sich das auf dem Papier nicht vornehmen und damit prahlen. Zuletzt in der indopazifischen Strategie der EU, in der die Aufgabe definiert wird, die maritime Präsenz weltweit zu erhöhen, um sichere Seeverkehrsverbindungen herzustellen. Deutschland gelang es unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte, eine Fregatte, die „Bayern“, in den Pazifik zu entsenden, was noch nicht einmal als symbolischer Beitrag durchgeht, sondern ein Symbol für Unvermögen ist. 

Chinas Einfluss wächst

In allen Fragen der Sicherheit ist die EU auf die USA angewiesen, die als einzig militärisch handlungsfähige Demokratie zu globaler Kräfteprojektion in der Lage ist. Dass dies einen Preis kosten wird, ist inzwischen allgemein bekannt. Doch selbst hier sträubt sich die EU und handelt noch so, als wäre das sicherheitspolitische Trittbrettfahren weiterhin möglich. Indessen fordern die USA zunehmend gemeinsame Haltungen ein. Insbesondere Deutschland steht hier im Mittelpunkt, weil die intensiven Beziehungen deutscher Unternehmen zu China und die Nord-Stream-2-Pipeline deutsche Alleinstellungsmerkmale in Europa sind. Denn auf eine gemeinsame Politik gegenüber diesen beiden Großmächten können sich die EU-Staaten nicht einigen.

Bundeskanzlerin Merkel bemerkte vor längerem, dass China doch bitte eine „Eine-EU-Politik“ betreiben solle, wo doch die EU-Staaten auch eine „Ein-China-­Politik“ umsetzen. Das war allerdings nicht als Drohung zu verstehen, die Beziehungen zu Taiwan zu intensivieren und die Volksrepublik unter Druck zu setzen, sondern eher als Bitte, die Spaltung der EU nicht noch weiter zu treiben. Denn China hat die Beziehungen zu einigen, insbesondere süd- und osteuropäischen Staaten in Europa schon lange institutionalisiert. In der G 17+1, die China 2012 ins Leben rief und in der auch elf EU-Staaten vertreten sind, werden gemeinsame Projekte verabredet, finanziert und umgesetzt. Regierungen und Wirtschaftsverbände in der EU befürchten hieraus spaltende Wirkungen. Denn zweifelsohne ist Chinas Einfluss in einigen Staaten gewachsen.

Streitfrage Russland

Gegenüber Deutschland bestand aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung parallel ein spürbarer politischer Einfluss, denn deutsche Unternehmen würden ohne ihre Geschäfte in China erhebliche Profite einbüßen. Sie gehören schon in den engeren Zirkel der chinesischen Wirtschaft, die ihre Abhängigkeit von globalen Wirtschaftsbeziehungen abbauen, die Exportquote jedoch ausbauen möchte. Die USA drängen inzwischen europäische Staaten zu einer kohärenten, auf die Eindämmung Chinas ausgerichteten Politik. Dass die EU auf deutsches Drängen kurz vor Amtsantritt Präsident Bidens und gegen dessen expliziten Wunsch noch ein Investitionsschutzabkommen mit China abschloss, wurde in den USA als Affront angesehen.

Sowenig es eine einheitliche EU-Chinapolitik gibt, gibt es eine gemeinsame Haltung gegenüber Russland. Hier gehen die strategischen Interessen sogar noch weiter auseinander. Denn auf der einen Seite stehen Polen und die baltischen Staaten, die Russland als direkte Bedrohung ansehen. Ungarn hingegen intensiviert die Beziehungen zu Russland und strebt ein besonders gutes Verhältnis an. Frankreich sieht in Russland sogar einen strategischen Partner, mit dem das beiderseitige Verhältnis völlig neu aufgelegt werden müsse. Deutschland steht auf einer schwankenden Position, die einerseits Sanktionen befürwortet und andererseits intensivere Energiebeziehungen pflegt.

Ebenso wie in Peking lässt sich auch in Moskau erkennen, dass sich ausreichend viele Risse zwischen den Positionen der EU-Staaten auftun, in denen politische Hebel angesetzt werden können – einerseits, um direkte Ziele zu erreichen, andererseits, um die EU strukturell zu schwächen. 

Selbstbeschäftigung

Die Aufgabe, unterschiedliche EU-Interessen zu koordinieren, um zu einer einheitlichen EU-Politik zu gelangen, also Führung in der EU auf dem Gebiet der Außenpolitik zu übernehmen, hat bisher kein Staat übernommen. Alle verfolgen ihre jeweiligen nationalen Interessen. Von der EU-Kommission ist nicht zu erwarten, dass sie ein derartiges Projekt bewältigen kann, dazu fehlt es ihr in jeder Hinsicht an Kompetenz. So bleibt nur, dass es die dominanten Staaten in der EU anpacken, also Deutschland und Frankreich. Die Weigerung der Bundesregierungen in den letzten 20 Jahren, allein schon die eigenen Interessen zu definieren, geschweige denn die europäischen Interessen zu vermitteln, schwächt die EU in der internationalen Politik enorm. 

Christoph Heusgen, von 2005 bis 2017 außenpolitischer Berater von Angela Merkel im Bundeskanzleramt, wurde kürzlich gefragt, ob es Deutschland besonders schwerfällt, eine vorausschauende, strategische Außenpolitik zu betreiben. Seine Antwort: Deutschland sei immer noch dabei, die Teilung zu überwinden und zu einem wiedervereinigten Land zu werden. Man solle davon wegkommen, zuerst zu fragen, was andere wollen. Denn von Deutschland werde eine Führungsrolle erwartet.

Beantwortet das die Frage, warum es keine außenpolitische Strategie gibt? Eher nicht. Denn die Unterschiede zwischen Ost und West, die sich in Parteien und Wahlergebnissen wiederfinden, haben keinen Einfluss auf die außenpolitische Willensbildung (außer wenn der Ministerpräsident Sachsens intensivere wirtschaftliche Beziehungen zu Russland fordert). Dass Deutschland vor allem schaue, was andere wollen, trifft die Lage der letzten zwei Jahrzehnte auch nicht, wie Griechenland, Spanien, Italien und Frankreich ebenso beteuern werden wie die USA. 

Immer noch abhängig 

Und die Führungsrolle hat Deutschland nicht angenommen, als es möglich war. Aber die Phase einer gegenüber der EU wohlmeinenden Dominanz der USA in der internationalen Politik ist vorüber. Mit dem Aufstieg Chinas und seinem Griff nach der Weltmacht haben sich die Koordinaten verschoben, in denen deutsche Außenpolitik erfolgreich sein kann. Besonders aber überrascht doch, dass der langjährige außenpolitische Berater von Bundeskanzlerin Merkel, der in den letzten vier Jahren Botschafter bei den Vereinten Nationen war, auf die Frage, warum es keine vorausschauende, strategische Außenpolitik gebe, nicht antwortet: „Aber die gibt es doch!“ Sondern unumwunden zugibt, dass es an ihr mangelt. Kann man sich vorstellen, dass der Nationale Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten öffentlich ausführt, dass es keine strategische Außenpolitik der USA gebe? Und lässt sich ausmalen, dass Präsidenten vier Amtszeiten hintereinander diese Aufgabe missachten?

Weder aus der politischen Kaste noch aus der deutschen Öffentlichkeit wird eingefordert, die Frage zu beantworten, welche internationale Ordnung angestrebt wird und welche Interessen darin umgesetzt werden sollen. Merkels Satz, mit dem sie sich am weitesten aus dem Fenster lehnte, war: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. (…) Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.“ Das war 2017. 

Bemerkenswert ist, dass die Bundeskanzlerin sich zwölf Jahre lang anscheinend „völlig“ auf andere Staaten verlassen hat, wenn man ihre Ausführungen wörtlich nimmt. Und dass diese Zeit „ein Stück (weit)“ (was immer das heißen mag: unwiederbringlich?) vorbei sei. Aber sei’s drum, die politische Aussage schimmert ja durch die hohlen Sätze hindurch: Die EU muss nun in Fragen vitaler Interessen tätig werden. Vier Jahre später sei die Frage erlaubt, was denn von dieser Erkenntnis ausgehend erreicht wurde. Und die Antwort ist: Nichts. 

„Ertüchtigung“ anderer Staaten

Die Neugestaltung der internationalen Ordnung wird in den nächsten Jahren über die Chancen auf politische Mitsprache, auf wirtschaftlichen Wohlstand und die Freiheit zu Eigenentscheidung als Grundlage der politischen Kultur in Deutschland entscheiden. Die Bundesregierungen haben sich zwei Jahrzehnte lang der Aufgabe entzogen, das Land, für das sie Verantwortung übernommen haben, dafür zu ertüchtigen. Ein Vakuum, in dem die Inseln der Glücklichen ankern, kennt die internationale Politik nicht. Entschieden wird deshalb gleichwohl darüber, wer welche Sicherheit, welchen Wohlstand, welche Freiheit hat. Nur eben anderswo. 

Wenn es in vier Amtszeiten so etwas gab wie eine außenpolitische Idee, die Bundeskanzlerin Merkel zeitweise verfolgt hat, dann war es die „Ertüchtigung“ anderer Staaten, ihre eigenen Interessen vertreten zu können. Hierzu sollten sie Hilfe aus Deutschland erhalten. Die deutsche Politik zu ertüchtigen, war hingegen nie ein erkennbares Ziel der Außenpolitik der Kabinette Merkel. Die unterschiedlichen Ansätze – Kultur der Zurückhaltung, mehr Verantwortung übernehmen und die regelbasierte internationale Ordnung gestalten – haben bei allen Unterschieden zwei Aspekte gemeinsam. 

Hypermoral ist kein Fundament

Erstens sind sie im sozialen Raum der internationalen Politik nicht realitätstüchtig, weil die Weltbilder ihrer Vertreter nicht zur Welt passen. Sie transferieren Sozialverhalten aus anderen Beziehungsgefügen in die internationale Sphäre, wo die Vorbedingungen ihrer Realisierbarkeit fehlen. Denn die internationalen Beziehungen sind ein Raum der Selbsthilfe, in dem man sich auf andere und die Regeleinhaltung durch andere eben nicht völlig verlassen kann.

Stattdessen brüsten sie sich zweitens mit einer Hypermoral, so als sei Deutschland moralisch gereifter als andere Staaten, warte die Welt auf deutsches Engagement und sei die deutsche Politik der Geburtshelfer einer neuartigen Form von Staatenbeziehungen. Diese Hybris setzt auf ebenso schwankenden wie hohlen Zwecken und Fähigkeiten auf. Das ist für eine erfolgreiche Außenpolitik kein Fundament.

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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