Corona in Großbritannien - Der Covid-Impfkrieg eskaliert

Die britische Regierung hat früher begonnen, große Mengen an Impfstoff gegen das Coronavirus einzukaufen. Für Vorsicht hatte der britische Regierungschef bei den derzeitigen Covid-Todeszahlen keine Zeit.

Über das Impfprogramm redet Premier Johnson deutlich lieber als über die hohen Todeszahlen. / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Gute Nachrichten aus dem Vereinigten Königreich sind derzeit selten. Doch im inoffiziellen Impfkrieg zwischen den europäischen Nationen haben die Briten eindeutig die Nase vorn. Sieben Millionen Menschen wurden bereits geimpft, bis Mitte Februar sollen fünfzehn Millionen und damit die Höchstgefährdeten – alle über 70 und das Krankenpersonal – zumindest die erste Impfdosis erhalten haben.

Warum sind die Briten so viel besser? Die britische Regierung hat früh und breit gestreut bei sechs Impfstoffentwicklern bestellt. Drei davon, Pfizer-Biontech, AstraZeneca und Moderna sind inzwischen genehmigt. Der Preis für die einzelnen Impfstoffe ist streng geheim und unterliegt Vertraulichkeitsklauseln. Ob die britische Regierung pro Impfdosis mehr gezahlt hat als die EU-Kommission, die für 27 Staaten verhandelte und sich für den Preis auch vor 27 Regierungen verantworten musste, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Der schwedisch-britische Pharmakonzern AstraZeneca hält fest, dass der Covid-Impfstoff ohne Profit für die Firma produziert wird.

Strategischer Vorteil bei AstraZeneca

AstraZeneca hat den Impfstoff in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford entwickelt. Die Briten haben daher einen strategischen Vorteil. Man kennt sich, man hat Forschungsgelder in Oxford investiert. Außerdem wurde die Zulassung des Covid-Impfstoffes in Großbritannien unter einer Notverordnung bereits im Dezember genehmigt.

In der EU steigt der Unmut, weil bisher weit weniger geimpft werden konnte. Die EU-Kommission hat für alle EU-Staaten gemeinsam bestellt und vor der Zulassung länger geprüft als etwa das Nichtmehr-Mitglied Großbritannien. Der Impfstoff von AstraZeneca etwa soll von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA überhaupt erst am 29. Januar zugelassen werden.

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich seit Tagen ein Impfstoffkrieg, der die ohnehin schon durch den Brexit getrübten Beziehungen zwischen EU und dem Vereinigten Königreich noch weiter belastet.

EU steht hinten an

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist wütend, dass AstraZeneca ihren Covid-Impfstoff nicht in der versprochenen und vertraglich zugesicherten Menge liefern können wird. Statt 80 Millionen im ersten Quartal will die Firma nur 31 Millionen liefern. Firmenchef Pascal Soriot erklärt in einem Interview mit der Welt, dass der Vertrag mit der EU keine garantierten Mengen festschreibe, sondern nur, dass AstraZeneca lediglich zugesichert hätte, „das Bestes zu geben“. Es handle sich derzeit um Probleme bei der Lieferkette. Soriot bekräftigte auch, dass die Berichte über einen niedrigen Schutzgrad seines Impfstoffes bei älteren Menschen falsch seien. Die deutsche Regierung will den Impfstoff trotzdem nicht für über 65-jährige freigeben, weil er für diese Altersgruppe zu wenig getestet wurde. Die EU-Kommission aber besteht auf Einhaltung des Vertrages und will diesen veröffentlicht sehen.

„Die EU hat Milliarden in die Entwicklung der ersten Covid-Impfstoffe weltweit investiert, die Unternehmen müssen jetzt auch liefern“, stellte von der Leyen fest. Die EU-Kommissionspräsidentin droht mit einem Ausfuhrstopp von anderen Covid-Impfstoffen aus der EU. Der Pfizer-Biontech-Impfstoff, der in Belgien produziert wird, könnte demnächst vielleicht nur unter Polizeischutz außer Landes gebracht werden.

Nerven liegen blank

Der Streit um die Verteilung des Impfstoffes zeigt vor allem eines: Die Nerven liegen überall blank. Die Coronapandemie hat gerade Europa besonders schwer getroffen. Die Pharmaindustrie hat die Covid-Impfstoffe viel schneller als sonst üblich entwickelt. Manche Erwartungen lassen sich offenbar aber nicht erfüllen.

Vor genau einem Jahr wurden in Großbritannien die ersten beiden Patienten ins Krankenhaus eingeliefert, die mit Covid-19 erkrankt waren. „Heute haben wir im Vereinigten Königreich die höchste Todesrate in Europa“, warf Oppositionsführer Keir Starmer dem Premierminister vor – er wurde per Videolink ins Unterhaus übertragen, da er gerade wieder in Selbstisolation zu Hause festsitzt – „und ich frage mich: warum?“

Großbritanniens Corona-Management

Im Vereinigten Königreich dominiert am Mittwoch die schlechte Nachricht: „Es tut mir wirklich sehr leid“, titelt das Massenblatt Daily Mail am Mittwoch. Eine Nahaufnahme von Boris Johnsons Gesicht zeigt einen tief betroffenen britischen Premierminister. „Ich übernehme die volle Verantwortung für alles, was die Regierung unternommen hat“, bekannte er fast demütig bei seiner Pressekonferenz am Dienstag. Wie aber nimmt man den Tod von 100.000 Menschen auf die eigene Kappe?

Offiziell – nach Angaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der letale Covid-Erkrankungen innerhalb von 28 Tagen zusammenzählt, hat das Vereinigte Königreich am Dienstag den dramatischen Schritt in die sechsstelligen Todeszahlen getan. Das britische „Office of National Statistics“ dagegen gab diese Zahl bereits am 7. Januar an. Ende Januar liegt man in ganz Britannien real schon bei 120.0000 Opfern der Coronapandemie.

Hinzu kommt, dass mit der britischen Virusvariante B.1.1.7 innerhalb weniger Wochen eine völlig neue Situation entstanden ist. Das Virus verbreite sich schneller, heißt es, die Annahme aber, es sei weniger tödlich kann angesichts der Opferzahlen nicht bestätigt werden. Allein am Dienstag waren wieder 1.631 Menschen am Coronavirus gestorben. David Spiegelhalter, Statistik-Professor an der Universität Cambridge, sagt: „Die Pandemie wurde in Britannien wirklich sehr schlecht gemanagt.“

Johnson redet lieber über Impfungen

Boris Johnson wollte darauf nicht eingehen, doch Starmer nahm ihm die Arbeit ab, die Parlamentarier zu informieren. Im März 2020 sei der erste Lockdown zu spät verhängt worden und konnte deshalb auch erst spät aufgehoben werden, weshalb die britische Wirtschaft viel schwerer getroffen wurde als der europäische Durchschnitt. Im November 2020 war das britische Nationalprodukt um neun Prozent geschrumpft, und das war noch vor dem dritten Lockdown, der erst am 5. Januar 2021 verhängt wurde. Doch noch immer gibt es keine richtige Maskenpflicht. Nach dem Modell von Australien will die britische Regierung jetzt doch noch für Einreisende aus Gebieten mit einer Virusvariation wie Brasilien und Südafrika eine Hotelquarantäne von zehn Tagen verhängen – auf Kosten der Reisenden. Laut Starmer kam all das zu unentschlossen und zu spät.

Um von den Todeszahlen abzulenken, verweist Boris Johnson deshalb gerne auf den Erfolg des Impfprogramms. Und das nicht zu Unrecht. Für die niedergeschlagenen Briten, die den Alltag des Covidchaos in diesen dunklen Januartagen durchstehen müssen, ist die Hoffnung auf Impfung und Rückkehr zum normalen Leben im Sommer 2021 immens wichtig. Der Premierminister kann nur hoffen, dass es wegen der schnellen Zulassung nicht zu Rückschlägen und Langzeitfolgen kommt.

Richtung EU ließ der britische Impfminister Nadhim Zahawi verlauten, man solle „Impf-Nationalismus“ auf jeden Fall vermeiden. Das sagt sich allerdings leicht, wenn man die Nase gerade vorne hat.

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