USA: Bürgerrechte und Demokratie - „Gesetze sollten demokratisch beschlossen werden“

Die Bürgerrechtsgesetzgebung der 1960er habe eine Art zweiter Verfassung hervorgebracht, die Gerichten zu viel Macht gibt, meint der amerikanische Journalist Christopher Caldwell. Im Cicero-Interview führt er aus, wie Gesetze, die einst die Rassentrennung beenden sollten, dazu missbraucht werden, demokratische Prozesse zu umgehen. Ein Beispiel: das Abtreibungsrecht.

„Rivalisierendes System mit verfassungsmäßigen Ansprüchen“: der Supreme Court in Washingtin / dpa
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Autoreninfo

Gregor Baszak ist freier Journalist und lebt in Chicago. Er publizierte unter anderem in The American Conservative, Makroskop und UnHerd.

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Christopher Caldwell ist Fellow beim konservativen Claremont Institute. Seine Artikel sind u.a. in der New York Times, der Financial Times und dem Weekly Standard erschienen. Im Jahr 2020 kam sein Buch „The Age of Entitlement: America Since the Sixties“ heraus. Darin geht er den Ursachen der politischen Spaltungen in den USA auf den Grund. Seine These ist provokant und wurde seither auch in den Meinungsspalten der New York Times und der Washington Post kontrovers diskutiert: Die Bürgerrechtsgesetzgebung der 1960er habe eine Art zweiter Verfassung hervorgebracht, die Richter ermächtigt und demokratische Prozesse ausgehebelt habe. Der erzkonservative Supreme-Court-Richter Samuel Alito scheint ähnlicher Meinung zu sein, denn er argumentierte kürzlich im Mehrheitsurteil Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, dass das Grundsatzurteil Roe vs. Wade, das Frauen das Recht auf Abtreibung zusprach, am Volkswillen vorbei beschlossen worden sei. Was motiviert einen einflussreichen Denker wie Caldwell, die rechtlichen Grundlagen von mehr als 60 Jahren Bürgerrechtsrevolution zu hinterfragen?  

Herr Caldwell, Sie argumentieren in „The Age of Entitlement“, dass die USA quasi zwei rivalisierende Verfassungen habe. Was meinen Sie damit? 

Der Civil Rights Act von 1964 [also das unter Präsident Lyndon B. Johnson erlassene Bürgerrechtsgesetz, G.B.] wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten so interpretiert, dass er sich zu einem rivalisierenden System mit verfassungsmäßigen Ansprüchen herangebildet hat. Jetzt können Richter einfach mit Verweis auf den Civil Rights Act Gesetze aushebeln, die auf dem üblichen legislativen Wege erlassen worden sind. Mein Buch handelt davon, wie dieses Gesetz, das auf etwas ganz Bestimmtes abgezielt hatte, nämlich die Beendigung der Rassentrennung im Süden, jetzt jeden Bereich des amerikanischen Lebens abdeckt. So wie die amerikanischen Bürger Mitte der 60er-Jahre es verstanden, sollte der Civil Rights Act bestimmte Ungerechtigkeiten, die damals die TV-Nachrichten dominierten, beenden. Aber so wie das Gesetz seither ausgelegt worden ist, ist es weitaus einschneidender, als viele es erwartet hatten, und es gibt der Bundesregierung neue Zuständigkeiten, die Möglichkeit Gelder vorzuenthalten, Klagen einzuleiten usw. 

Und Sie meinen, diese Zuständigkeiten würden mittlerweile so weit ausgelegt, dass die Regierung sich auch in Angelegenheiten einmischt, die mit der ursprünglichen Intention des Gesetzes wenig zu tun hätten. Zum Beispiel? 

In Kalifornien setzten sich 1994 in einem Volksentscheid die Befürworter der sogenannten Proposition 187 durch. Sie forderten, dass der Staat illegalen Einwanderern Zugriff auf bestimmte staatliche Wohlfahrtsmaßnahmen verweigern solle. Wie gesagt, der Volksentscheid war erfolgreich und gewann Gesetzeskraft — bis ein Richter ihn wieder aufhob, nämlich auf Grundlage des Bürgerrechtsgesetzes. Genau das ist die Natur des Konflikts. Sehen wir uns einen anderen Fall an. Es gibt einen Supreme-Court-Fall aus dem Jahr 1974 namens Lau vs. Nichols. Darin ging es um das Recht auf bilingualen Unterricht an öffentlichen Schulen für Einwandererkinder. Und das spielte sich in den folgenden Jahren so ab: Regierungsbehörden formulierten Regulierungen, die verlangten, dass Kinder zum Beispiel auf Spanisch unterrichtet werden sollten. Richter wiederum urteilten zur Vernünftigkeit dieser Regulierungen, woraufhin die Behörden weitere Regulierungen ausarbeiteten. Es gab also einen Kreislauf zwischen den Gerichten und den Regulierungsbehörden, aber die Legislative war dabei stets außen vor. Mit anderen Worten, ich behaupte, dass es ein neues System an Gesetzen gibt, das den demokratischen Teil unseres gemischten Verfassungswesens umgeht. 

Und Ihr Argument ist, dass dieses neue System neue Rechte entdecken kann — wie z.B. dass Transsexuelle sich ihre öffentlichen Toiletten aussuchen können — auf der Grundlage eines Gesetzes, das die Rassentrennung in den Südstaaten beenden sollte? 

Genau. Als Präsidentschaftskandidat sagte Joe Biden 2020, dass Diskriminierung gegenüber Transsexuellen „das Bürgerrechtsthema unserer Zeit schlechthin“ sei. 

Aber um zum Auslöser der Bürgerrechtsrevolution zurückzukehren: Sie lassen außer Acht, dass der Eingriff durch die Bundesregierung Mitte des letzten Jahrhunderts deswegen vonnöten war, da viele Menschen in den Südstaaten sich weigerten, die Bürgerrechte ihrer schwarzen Mitmenschen zu respektieren. Es gab eine sogenannte „massive resistance“ („massiver Widerstand“) durch weiße Rassisten, die sich in Lynchjustiz, Bombenanschlägen und Attentaten auf Bürgerrechtsaktivisten äußerte. Sich in den 60ern darauf zu verlassen, dass lokale Institutionen Rechtssprüche wie Brown vs. Board of Education, der die Integration öffentlicher Einrichtungen forderte, einfach so folge leisten würden, wäre doch naiv gewesen, oder? 

Die „massive resistance“ folgte auf das Brown-Urteil und war auf den Bundesstaat Virginia konzentriert. Es war also eine Art Anti-Bürgerrechtsbewegung. Aber sie war auch im Laufe der Eisenhower-Regierung abgeklungen, und als John F. Kennedy Präsident wurde, war sie gescheitert. Es gab unter anderem den spektakulären Mord an dem schwarzen Teenager Emmett Till Mitte der 50er. Aber so schlimm wie zum Beispiel in den 1920er-Jahren war die Lage in den 60ern bei weitem nicht mehr. Ich rede in meinem Buch von den 60er-Jahren und den Folgen. 

Okay vielleicht war es nicht so schlimm wie in den 20ern, aber es war trotzdem noch schlimm. Die US-Regierung hätte doch nicht einfach nichtstuend zusehen sollen, oder? 

Christopher Caldwell / 
Erin Schaff/The New York Times/Redux

Das ist eine interessante Frage. Mein Buch schlägt keine Reformen vor oder ist gar ein Manifest. Es ist Geschichtsschreibung. Wahrscheinlich hätte sich Washington irgendwie einmischen müssen. Aber das Problem ist, dass sich der Civil Rights Act nicht auf das Problem der Rassentrennung beschränkte, sondern der Bundesregierung allerlei Abkürzungen verschaffte, um damit andere Probleme zu umgehen. Und diese nutzte sie. Ein Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes begann Präsident Johnson mit den ersten „Affirmative Action“-Maßnahmen [also Regulierungen, um via Quoten und andere Vorschriften die Zahl von Frauen und Schwarzen in Bildungs-, Regierungs- und anderen Institutionen zu vergrößern, G.B.]. Dann gab es da noch einige bundesgerichtliche Entscheidungen, die das „busing“ kreierten [wodurch Schulbehörden Kinder aus unterprivilegierten und ausgegrenzten Nachbarschaften per Schulbus in umliegende Bezirke transportierte, um die Rassenintegration voranzutreiben, G.B.]. Und das geschah nicht nur im tiefen Süden, sondern auch in Städten wie Louisville, Boston und vielen anderen Teilen des Landes. Also fanden die Heilmittel, die das Rassismusproblem adressieren sollten, weitaus intensiver und geografisch expansiver statt, als vielen Menschen erwartet hatten. 

 

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Hier könnte man einwenden: Na und? Wenn denn nun die Bürgerrechte amerikanischer Bürger eingeschränkt werden, ist es doch egal, wo sie leben und weswegen sie diskriminiert werden. Die Notwendigkeit, seine Bürgerrechte beschützt zu sehen, endet doch nicht an der Grenze der Südstaaten. 

Nein, aber man hat schon seit Thomas Hobbes verstanden, dass der Schutz mancher Rechte die Einschränkung anderer bedeutete. Es war Absicht, dass die Bürgerrechtsgesetze einen gewaltigen Eingriff auf die privaten Arrangements und geschätzten Traditionen der Südstaatler bedeuten würden. Nun können wir uns wohl einig sein, dass, aus der heutigen Perspektive betrachtet, die verschiedenen demokratischen Systeme der einzelnen südlichen Bundesstaaten mangelhaft waren. Aber das Problem ist, dass alle Demokratien stets Mängel haben. Und sehr schnell wurden auch Staaten außerhalb des Südens diesen Gesetzen unterworfen. Und das war ein Schock für viele Amerikaner, nämlich als Richter den Civil Rights Act heranzogen, um sich in Dinge einzumischen, die nichts mit der Rassentrennung zu tun hatten, wie wir es vorhin ansprachen. Mit anderen Worten, dieses Gesetz weitete die Demokratie in den Südstaaten aus und beschränkte sie überall sonst. 

Eine weitere These Ihres Buches ist die, dass die Bürgerrechtsrevolution der 60er praktisch die Grundlage des modernen Kulturkriegs, der derzeit die USA beherrscht, herstellte. Können Sie dieses Argument ausführen? 

Ich glaube nicht, dass sie den Kulturkrieg einleitete, aber sie intensivierte ihn definitiv. Die Bürgerrechtsgesetzgebung war praktisch ein Notstandsgesetz. So wie sie formuliert worden war, ging es darum, bestimmten Gruppen besondere Berücksichtigung zu schenken, um dem Gleichheitsanspruch des 14. Verfassungszusatzes gerecht zu werden. Aber eigentlich widerspricht das dann ja auch demselben Verfassungszusatz, wenn man dadurch Menschen anders behandelt. Ich glaube, in den Bürgerrechtsgesetzen schwang immer implizit mit, dass der Bedarf für sie irgendwann mal enden würde. Im Supreme-Court-Urteil Grutter v. Bollinger aus dem Jahr 2003 wird auch explizit gesagt, dass die Affirmative-Action-Quoten auch irgendwann auslaufen müssten. 

Der Verfassungsrichter Samuel Alito scheint Ihrer These zuzustimmen, ob er nun Ihr Buch gelesen hat oder nicht. Er verteidigte die Rücknahme von Roe vs. Wade damit, dass das damalige Urteil zum Abtreibungsrecht die Spannungen innerhalb der US-Gesellschaft nicht beigelegt, sondern sie vielmehr verstärkt habe. Darum müsse das Recht, Schwangerschaftsabbrüche zu regulieren, wieder an die bundesstaatlichen Parlamente zurückgegeben werden. Aber wie man den wütenden Reaktionen von Frauenrechtsaktivistinnen entlesen kann, hat Alito damit genau das Gegenteil bewirkt. Sein Kollege Brett Kavanaugh musste kürzlich sogar aus einem Restaurant in Washington D.C. fliehen, weil er von Aktivisten bedrängt wurde. Ging Alito also einem Fehlschluss auf den Leim? 

Ich finde, es gibt einen sehr wichtigen Unterschied zwischen den Bürgerrechten und dem Recht auf Abtreibung. Jene nämlich entsprangen einem Gesetzesvorschlag, genau so, wie Gesetze eben gemacht werden müssen. Es gab intensive Debatten. Dann stimmten beide Kammern des Kongresses ab. Der Präsident verlieh ihm schließlich seine Unterschrift, und es wurde zum Gesetz. Das Abtreibungsrecht ist ganz anders. In den 1960ern fingen mehrere Bundesstaaten an, den Schwangerschaftsabbruch anders zu regulieren. Und nachdem bereits etwa 20 Staaten dies getan hatten, schritt auf einmal der Supreme Court ein und erklärte, es gebe ein Recht auf Abtreibung, das sich implizit in der amerikanischen Verfassung des Jahres 1788 finden ließe. Genau das meint Alito damit, dass der Supreme Court die demokratisch ablaufende Debatte unterbunden habe. Die meisten europäischen Staaten verabschiedeten zwischen Mitte der 60er- und Mitte der 70er-Jahre Gesetze zum Abtreibungsrecht. In den USA hatten wir das nicht, auch nicht bis vor einem Monat. Es gibt kein nationales Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch, bloß ein Gerichtsurteil.  

Konservative Kritiker führen stets gerne an, dass selbst die vor zwei Jahren verstorbene liberale Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg darin die Schwäche von Roe vs. Wade erkannt habe. Nämlich, dass dieses Grundsatzurteil ein zu schwaches Fundament für das Abtreibungsrecht hergestellt habe. Aber es steht doch komplett außer Frage, dass sie, wäre sie heute noch am Leben, für den Erhalt von Roe und dessen Nachfolgeurteil Casey vs. Planned Parenthood gestimmt hätte. 

Der Punkt, den ich machen will, ist der, dass es quer durch das amerikanische politische Spektrum hindurch das Verständnis gibt, dass Gesetze demokratisch beschlossen werden sollten. Klar stand Ginsburg auf der einen Seite der Debatte, ob Abtreibung an sich richtig oder falsch ist, und Alito steht auf der anderen. Aber ich glaube, sie stimmten darin überein, dass man Gesetze durch öffentliche Debatten und Abstimmungen im Kongress erlässt — und nicht durch richterliche Dekrete. 

Das Gespräch führte Gregor Baszak.

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