Chinesische Immobilien - Das Ende eines Booms

Nach vier Jahrzehnten Wirtschaftswunder gerät Chinas Aufstieg ins Stocken. Die Menschen leiden unter Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen. Die Folgen für die Weltpolitik dürften gravierend werden.

Das Immobilienprojekt „Country Garden“ in Nantong steht kurz vor der Zahlungsunfähigkeit / laif
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Harald Maass ist Journalist und wurde für seine Arbeit im Jahr 2019 mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

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Da ist der Parfumfabrikant aus der Küstenprovinz, einst eine Wachstumsregion Chinas, der nur noch ein Drittel der Aufträge wie in der Vergangenheit erhält. Da ist der junge Pekinger Werbemanager, der früher bei jedem Jobwechsel ein besseres Gehalt bekam und heute keine Arbeit mehr findet, weil die Unternehmen ihre Budgets zusammengestrichen haben. Da ist die ehemalige Arbeiterin einer Automobilfabrik bei Schanghai, deren Gehalt um 40 Prozent gekürzt wurde, und die sich jetzt mit einem Nudelladen durchschlägt. 

Geschichten wie diese hört man derzeit viele in China. Nach vier Jahrzehnten Wirtschaftsaufschwung, der das Reich der Mitte von einem armen Agrarstaat zu einer der mächtigsten Industrienationen der Welt katapultiert und dabei 800 Millionen Menschen von Armut befreit hat, steckt Chinas Wirtschaft in der Krise. Eine Krise, die so unerwartet und wuchtig kam, dass sich im einstigen Wirtschaftswunderland plötzlich Pessimismus und Zukunftsangst breitmachen. Die Folgen der ökonomischen Misere spürt nicht nur die herrschende Kommunistische Partei, die um ihre Legitimation fürchten muss. Das Ende des chinesischen Booms dürfte auch zu globalen Verwerfungen führen. 

China kannte bislang nur den Weg nach oben

Zwar verzeichnete die Wirtschaftsmacht aus Fernost, die in den vergangenen Jahrzehnten die Zugmaschine der globalen Konjunktur war, im ersten Halbjahr noch ein Wachstum von 5,5 Prozent. Doch die Prognosen und vor allem die Stimmung im Land sind ernüchternd. Der nach der Corona-Pandemie erhoffte Aufschwung blieb aus. Die Auftragsbücher der Fabriken sind kaum gefüllt. Exporte stagnieren. Der Immobilienmarkt ist im freien Fall. Viele Städte und Gemeinden sind hoch verschuldet und haben Mühen, die Gehälter und Zinsen zu zahlen. Jeder fünfte Jugendliche oder junge Erwachsene ist arbeitslos – ein neues Rekordhoch. 

„Überall in China teilen die Menschen ein Gefühl der Unsicherheit, und das in allen Lebensbereichen“, sagte der Professor und Finanzexperte Chen Zhiwu von der Hong Kong University in einem Interview. Um gegenzusteuern, versuche Pekings Regierung deshalb mit Hochdruck über die Staatsmedien ein „positives, optimistisches Image“ zu verbreiten. Eine Maßnahme der KP-Regierung: Statistiken zur Jugendarbeitslosigkeit und zur Konsumbereitschaft dürfen vorerst nicht mehr veröffentlicht werden. 

Krise, Abschwung, Wohlstandsverlust – für die junge Generation von Chinesen waren das bisher Fremdworte. Selten zuvor hat ein Land einen so lange anhaltenden und alle Bereiche des Lebens erfassenden Aufschwung erlebt wie China. Ein Wirtschaftswunder, das die Mentalität und das Selbstbild der Chinesen geprägt hat. Wer heute in China 30 oder 40 Jahre alt ist, hat in seinem Leben bisher nur erlebt, dass alles immer besser wurde. Jahr für Jahr stiegen die Löhne und der Wohlstand.

Xi stellt Ideologie vor Wirtschaft

Chinas Wirtschaft sei ein „nicht zu stoppendes Wunder“, schwärmte noch im vergangenen Dezember die staatliche Zeitung Global Times. Eine Wohnung, ein modernes Autos, Auslandsreisen – für Millionen Chinesen wurden Konsum und Wohlstand zur Normalität. Hunger und Armut kannte man nur noch aus den Erzählungen der Großeltern über die Kulturrevolution und die Kampagnen unter Mao Zedong. Dass dieses scheinbar unendliche Wachstum plötzlich vorbei sein könnte – oder sich deutlich abschwächt –, erleben viele deshalb als Schock. „Das Erschreckendste ist, dass alle um mich herum nicht wissen, was sie als Nächstes tun sollen“, sagt ein Unternehmer. „Ich dachte immer, dass unser Land immer besser wird.“

Die Ursachen für die Wirtschaftsmisere liegen nach Ansicht von Experten an einer sich verändernden Weltwirtschaft nach der Corona-Pandemie, aber auch – und das ist neu – an Fehlern der KP in der Wirtschaftspolitik. In der Vergangenheit hatten sich Pekings Führer stets dadurch ausgezeichnet, dass sie ihr Land vergleichsweise unideologisch und mit Sachverstand durch globale Krisen führten. „Wenn man auf die Ära von Deng Xiaoping und Jiang Zemin zurückschaut: Wann immer es wirtschaftliche Probleme oder gar eine Krise gab, war die Antwort der Regierung, mehr Reformen und Öffnung der Wirtschaft“, sagt Jacob Gunter, Wirtschaftsanalyst am Mercator Institute for China Studies (Merics). 

Unter der Führung von Staats- und Parteichef Xi Jinping hat sich das geändert. Erstmals seit Mao hat Xi die Politik und die Ideologie wieder über die Wirtschaft gestellt und dabei bewusst ökonomischen Schaden in Kauf genommen. Xi stärkte die Staatsbetriebe auf Kosten der Privatwirtschaft. Er ging gegen Internetriesen wie Alibaba und Tencent vor, die früher Treiber für Innovationen und Wohlstand waren, und sorgte so für eine grundlegende Verunsicherung der Unternehmer. Für Peking stünden „Wirtschaftsentwicklung und Wachstum nicht mehr unbedingt im Zentrum“, sagt Merics-Experte Gunter.

Die elementare Bedeutung der Bauwirtschaft

„Es geht mehr darum, Ressourcen dahin zu verlagern, wo sie Peking aus geopolitischen Gründen braucht.“ Unter Xi wurden Großprojekte wie die bemannte Raumfahrt gefördert, die vor allem dem Nationalstolz dienen und das Land militärisch nach vorne bringen sollen. Unternehmen wurden darauf getrimmt, technologisch möglichst unabhängig vom Westen zu sein, um im Wettstreit mit den USA zu bestehen. All das hat Wachstum gekostet.

Das größte Versäumnis der KP liegt jedoch im Umgang mit der Immobilienkrise. Jahrelang hat Peking zugeschaut, wie sich in der Bauindustrie eine gigantische Blase entwickelt hat. Hunderte Millionen Chinesen investierten ihre Lebensersparnisse in Betonwerte, auch weil die Regierung kaum alternative Anlagemöglichkeiten zuließ. „Für eine normale Mittelschichtfamilie in China waren es immer Immobilien, mit denen man sich für das Alter und die Rente abgesichert hat“, erklärt Gunter.

 

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Ein Aufbau der Sozialsysteme wurde von Peking vernachlässigt. Gleichzeitig waren Landverkäufe, mit denen immer neues Bauland ausgewiesen wurde, die wichtigste Einnahmequelle für Städte und Kommunen. Das Ergebnis ist, dass durch die Immobilienkrise nicht nur die kommunalen Einnahmen wegbrechen. Experten zufolge steht der Immobilienmarkt für mehr als ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes. Drei Fünftel aller Privatvermögen sind in Immobilien angelegt. 

Proteste gegen Bauunternehmen

Nun droht die Blase zu platzen. „Was derzeit am chinesischen Immobilienmarkt passiert, ist beispiellos“, sagte Charles Chang von der Ratingagentur Standard & Poor’s gegenüber der New York Times. Geschätzte 65 bis 80 Millionen Wohnungen, die als reine Spekulationsobjekte gekauft wurden, stehen leer. Die Preise für bestehende Immobilien sind in den vergangenen zwei Jahren um 14 Prozent gesunken. Mehr als 50 Immobilienentwickler, darunter einige der größten Konzerne des Landes, sind seit der Pandemie bankrottgegangen oder können ihre Schulden nicht mehr bedienen. Allein das Unternehmen Ever­grande, das im August in den USA Gläubigerschutz beantragte, hat mehr als 335 Milliarden US-Dollar an Schulden angehäuft. Bei Hunderttausenden Wohnungen, die von den Käufern bereits bezahlt wurden, stehen die Bauarbeiten still. 

Die Frustration der chinesischen Mittelschicht, die durch die Immobilienkrise um ihre Lebensersparnisse fürchtet, entlädt sich vereinzelt bereits in Protesten und lokalen Unruhen. Videos auf der sozialen Plattform Douyin zeigten zuletzt protestierende Menschen vor der Pekinger Zentrale des Bauunternehmens Zhongrong. „Zahlt das Geld zurück“, skandierte die Menge. Im Februar protestierten in der zentralchinesischen Metropole Wuhan Hunderte Rentner gegen Einschnitte der lokalen Regierung bei der Krankenversicherung. Wie viele andere Städte muss Wuhan sparen, weil die Einnahmen durch Landverkäufe eingebrochen sind. Vergangenes Jahr starteten Hundertausende Hauskäufer einen Boykott ihrer Ratenzahlungen, um die Fertigstellung ihrer Appartements zu erzwingen. Dass es trotz massiver staatlicher Kontrollen überhaupt zu solchen Protesten kommt, zeigt, wie groß die Verunsicherung ist. 

Für viele US-Firmen „uninvestierbar“

Verschärft wird die Krise durch die Geopolitik. In den USA und Europa, Chinas größten Handelspartnern, wird das autoritäre Land mittlerweile nicht mehr nur als strategischer Rivale gesehen, sondern als Gefahr für eine freiheitliche und regelbasierte Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft. Auch das ist ein Ergebnis eines Politikwechsels durch Xi Jinping. Bis nach der Jahrtausendwende hatte Peking einen kooperativen und pragmatischen Kurs der Zusammenarbeit mit dem Westen verfolgt. Unter Xi ging China ideologisch in die Offensive.

Mit Initiativen wie der Neuen Seidenstraße versuchte Peking, die globale Wirtschaftsordnung einseitig zu seinen Gunsten zu verändern. Gleichzeitig zog er innenpolitisch die Zügel an und verpasste dem Reich der Mitte einen totalitären Reset: Die gesellschaftlichen Freiheiten, die in den ersten Jahrzehnten Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen Aufschwung gingen, wurden massiv beschränkt. Gesellschaftliche Debatten, auch über die Wirtschaftspolitik, wie sie früher in China normal waren, sind heute unmöglich. Als in Hongkong Studenten protestierten, antwortete Xi mit der gleichen Härte, mit der er gegen Minderheiten in Xinjiang und Tibet vorging. 

Verwaiste Shoppingmeile in einem Pekinger Einkaufszentrum, Ende Juli 2023 / dpa

All das hat nicht nur den Blick auf das einstige Wirtschaftswunderland verändert, es schlägt sich auch in den Statistiken nieder. Die Ausfuhren in die USA, Chinas wichtigstem Abnehmer von Exportgütern, schrumpften im Juli um 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Exporte in die EU sanken um ein Fünftel. Zugleich hat Washington Exportbeschränkungen für Hightech-Erzeugnisse und Halbleiter verhängt, die Chinas technologischen Fortschritt in den nächsten Jahren deutlich bremsen dürften. Durch politische Kampagnen und behördliche Willkür sei China für viele US-Firmen „uninvestierbar“ geworden, „weil es zu risikoreich ist“, warnte die US-Handelsministerin Gina Raimondo Ende August bei einem Besuch in Peking. 

Chinas Lehman-Moment?

Die Antwort der KP-Regierung ist, die Schwierigkeiten herunterzuspielen. „Eine kleine Anzahl westlicher Politiker und Medien verstärken und übertreiben die vorübergehenden Probleme, die bei der wirtschaftlichen Erholung Chinas bestehen“, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums. Manche Staatsmedien werfen dem Westen „mentale Kriegsführung“ vor, weil sie versuchten, Chinas Wirtschaft schlechtzureden. Gleichzeitig hat Peking eine Charmeoffensive gestartet, um westliche Firmen und Investoren zu umschmeicheln. Doch bislang ohne Erfolg. Im zweiten Quartal brachen die ausländischen Direktinvestitionen im Vergleich zum Vorjahr um 87 Prozent auf 4,9 Milliarden US-Dollar ein.

Internationale Firmen bringen ihre Gewinne lieber außer Landes, als sie zu reinvestieren.
Erlebt China gerade seinen „Lehman-­Moment“, wie manche Ökonomen glauben: eine tiefgreifende Wirtschaftskrise, ausgelöst durch das Platzen der Immobilienblase? Oder leidet das Land unter einer Art „ökonomischem Long Covid“, wie Adam S. Posen, der Präsident des Peterson Institute for International Economics in Washington, argumentiert? Die extreme Politik während der Pandemie, bei der viele Menschen unter haftähnlichen Bedingungen in Quarantäne-Einrichtungen leben mussten, habe den Optimismus und die Kauflaune der Chinesen gebrochen, schreibt er in Foreign Affairs

Der Aufbruchsgeist der letzten Jahre

Experten halten es durchaus für möglich, dass Peking durch eine stärkere Förderung der Privatwirtschaft und wirtschaftspolitische Korrekturen den Konjunkturmotor wieder anwerfen kann. Im Automobilbau zeigen die chinesischen Hersteller von Elektroautos gerade, dass das Land nach wie vor ganze Branchen durch Technologie- und Preisführerschaft dominieren kann. „Seit China die Öffnungspolitik gestartet hat, wurde immer wieder ein Ende des Aufschwungs vorhergesagt – und nie ist es so gekommen“, erinnert Gunter. Dennoch ist der Merics-Experte überzeugt, dass sich gerade etwas Grundlegendes in China verändert. „Ich glaube, diesmal ist die Situation anders. China tritt gerade in eine neue Entwicklungsphase ein, die durch lang anhaltendes, niedriges Wachstum gekennzeichnet ist.“ 

Es ist vor allem die Stimmung, die sich in dem Riesenland zwischen Shen­zhen und Harbin verändert hat. Wer China in den Boomjahren kennengelernt und bereist hat, erlebte Menschen, deren Optimismus nahezu grenzenlos war. In den Zügen traf man Bauern, die mit einem Bündel Habseligkeiten auf dem Rücken und einem Grinsen im Gesicht in die Städte fuhren, um dort ihr Glück zu suchen. In den Bars von Schanghai begegneten einem Unternehmer, die begeistert von ihren Geschäftsideen erzählten. Im Pekinger Universitätsviertel Haidian saß man mit jungen Studierenden in der Kantine, die sich mit Inbrunst ihrer Wissenschaft widmeten, um das Land nach vorne zu bringen. 

In Stagnation umgeschlagen

Heute herrscht – zum ersten Mal seit dem Start der Reform- und Öffnungspolitik vor einem halben Jahrhundert – bei vielen Chinesen Pessimismus. „Freunde und Kontakte, die früher grenzenlos optimistisch waren, haben ihre Zuversicht verloren“, berichtet Merics-Experte Gunter. Das geringe Vertrauen sei mittlerweile „ein großes Problem in der chinesischen Wirtschaft“, sagt Larry Hu, Chefökonom der australischen Macquarie Group. Das hat auch Peking erkannt: „Manchen Konsumenten mangelt es an Zutrauen und sie haben viele Bedenken“, sagt Li Chunli, Vizevorsitzender der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission. Ein Risiko ist, dass Chinas Wirtschaftsmisere so zu einem Teufelskreislauf werden wird: Weil die Menschen aus Unsicherheit immer mehr sparen und weniger konsumieren, leiden die Firmen – und es kommt zu Massen­entlassungen, die zu noch weniger Konsum führen. 

Möglicherweise stößt jedoch auch Chinas Entwicklungsmodell an seine Grenzen. Als billige Werkbank der Welt ist das Land zur größten Exportnation aufgestiegen, ein Land der Erfinder und der Innovation wurde es nicht. „Ein großer Teil des Wachstums der vergangenen Jahrzehnte ist durch Investments in Infrastruktur entstanden“, sagt Gunter. Quer durch die Provinzen baute man Autobahnen, Hochgeschwindigkeitszugstrecken, Neubausiedlungen, Kraftwerke, Brücken und andere Infrastrukturprojekte, finanziert auf Pump. Allein in den beiden Jahren der Pandemie hat China so viel Beton produziert wie die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Doch mittlerweile ist der Bedarf nach Infrastruktur gesättigt. Die Völkerwanderung von den Provinzen in die Städte, die jahrzehntelang neuen Wohlstand schuf, ist abgeschlossen. Der Bau eines neuen Flughafens oder einer Retortenstadt irgendwo im Hinterland bringt heute kaum noch Wachstum.

Die Angst vor der „Japanisierung“

Wenn es Peking nicht gelingt, durch Innovation und Technologieführerschaft neue Wachstumsfelder zu erschließen, könnte China eine ähnliche Entwicklung bevorstehen wie Japan. Nach Jahrzehnten des Aufschwungs war das ostasiatische Land einst auf dem Weg, die mächtigste Wirtschaftsnation der Welt zu werden. In den westlichen Firmenzentralen war es damals Mode, japanische Führungsmethoden zu lernen – so erfolgreich war Japan als Exportnation. Dass Japans kometenhafter Aufstieg schließlich in eine Krise und in Jahrzehnte der Stagnation mündete, lag nicht nur an der Überschuldung oder an der Deflation. Ein Grund war nach Ansicht von Ökonomen auch Demografie: Als das Durchschnittsalter der Japaner irgendwann zu hoch wurde, fehlte es dem Land an Dynamik. 

Eine ähnliche „Japanisierung“ könnte auch China drohen. Vergangenes Jahr ist die Bevölkerung erstmals seit 60 Jahren geschrumpft. Durch die einstige Ein-Kind-Politik und niedrige Geburtenraten altert die Gesellschaft rapide, was Auswirkungen auf die Wirtschaftsdynamik haben wird. Der Internationale Währungsfonds rechnet damit, dass Chinas Wachstum künftig unter 4 Prozent liegen wird. Andere Prognosen sehen bis 2030 sogar ein Absinken des Wachstums auf 2 Prozent. Der Unterschied ist jedoch: Als in Japan der Wirtschaftsboom zu Ende ging, lag das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt bei rund 60 Prozent von dem der USA; China steht heute bei weniger als 20 Prozent. „China ist älter geworden, bevor es reich geworden ist“, sagte Yi Fuxian, Demograf und Experte für chinesische Bevölkerungstrends an der University of Wisconsin-Madison.

Das Erbe von Covid

Am stärksten leidet Chinas Jugend unter der Misere. Allein in diesem Jahr werden 11,6 Millionen Universitäts- und Hochschulabsolventen in den Arbeitsmarkt treten. In der Vergangenheit galt in China stets das Versprechen, dass Bildung und harte Arbeit zu Wohlstand führen. Doch durch die Krise kann das Land nicht mehr genügend neue Arbeitsplätze schaffen, um all die Absolventen aufzunehmen. Viele junge Akademiker sind gezwungen, unterhalb ihrer Qualifikation zu arbeiten, wenn sie überhaupt einen Job finden. Jobs im Beamtenapparat, die früher verpönt waren, sind heute hochbegehrt.

Eine Rekordzahl von 2,6 Millionen Chinesen haben vergangenes Jahr an der Beamtenprüfung teilgenommen, um einen von 37 100 Einstiegsjobs zu ergattern. Andere steigen ganz aus: Ein unter jungen Chinesen populärer Trend heißt „tang ping“ („flach liegen“). Aus Frustration über die schlechten Aussichten und den harten Wettbewerb am Arbeitsmarkt entziehen sich die Menschen der Leistungsgesellschaft. Oft ziehen sie nach dem Studium wieder bei ihren Eltern ein, die für ihren Unterhalt aufkommen. Die Jugend müsse ihre Ansprüche runterschrauben und wieder lernen, „Bitterkeit zu essen“, erklärte Staats- und Parteichef Xi Jinping.

Doch die KP steht unter Druck. Trotz aller Indoktrination und staatlich verordnetem Patriotismus hat sich für viele der Blick auf ihre Regierung verändert. Bislang galt in der Volksrepublik stets ein unausgesprochener Pakt zwischen Herrschern und Volk: Solange die KP Wachstum und Wohlstand lieferte, akzeptierten die Menschen die Beschränkungen ihrer Freiheiten. Ein Knackpunkt war Covid: In den ersten beiden Pandemiejahren, als Peking als einziges großes Land der Erde und damals scheinbar erfolgreich eine strikte Null-Covid-Politik verfolgte, waren viele Chinesen davon überzeugt, dass ihr System dem Westen überlegen sei. Als Pekings Sonderweg später krachend scheiterte und Millionen von Chinesen sich mit dem Virus infizierten und starben, machte sich Desillusion breit. 

Schrumpfendes China ist gefährlicher als wachsendes

„In den letzten drei Jahrzehnten hat die Kommunistische Partei Chinas ihre politische Herrschaft auf den Erfolg ihrer Verwaltung gestützt – insbesondere bei der Verwaltung der Wirtschaft“, schreibt der Yale-Professor Taisu Zhang. Doch wenn die Wirtschaft nicht mehr ausreichend schnell wächst, muss sich die KP eine neue Legitimation schaffen. Das ist ein Grund, warum Peking den ideologischen Konflikt mit den USA, um Taiwan und Territorialstreits im Südchinesischen Meer in den vergangenen Jahren eskaliert hat. Künftig soll Nationalismus der Kitt sein, der das Reich der Mitte zusammenhält und das Volk hinter der KP versammelt.

Die letzte Eskalationsstufe wäre dabei ein Konflikt mit einem äußeren Gegner wie Japan, für Pekings Propaganda bis heute ein Erzfeind, oder ein „Befreiungskrieg“ für Taiwan. China sei eine „tickende Zeitbombe“, sagt US-Präsident Joe Biden mit Blick auf das einbrechende Wirtschaftswachstum des Landes. „Das ist nicht gut, denn wenn schlechte Leute Probleme haben, tun sie schlimme Dinge.“
Selbst wenn China nicht zum Aggressor wird und es dem Westen gelingt, das Riesenreich weiter als friedliche Nation in der Weltgemeinschaft zu integrieren: Grund zur Freude ist Pekings ökonomische Schwäche für niemanden. Statistiken der Weltbank zufolge war China zwischen 2008 und 2021 für mehr als 40 Prozent des globalen Wachstums verantwortlich.

Fast die Hälfte der weltweiten Armutsbekämpfung seit 1981 wurde durch den chinesischen Aufstieg erzielt. Von Sojabauern in Argentinien über Kupferminen in Südafrika bis zum mittelständischen Maschinenbauer in Schwaben – ohne die Nachfrage und den Handel mit China dürfte künftig weltweit weniger Wohlstand entstehen. „Wir sind gerade Zeugen eines Umschaltens in dem, was die dramatischste Entwicklung in der Wirtschaftsgeschichte war “, sagt Adam Tooze, Spezialist für Wirtschaftskrisen an der Columbia University. Auch im Westen wird man deshalb umdenken müssen: Die größte Gefahr für die Welt ist nicht ein wachsendes, sondern ein durch Krisen und Armut geschwächtes China.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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