Brexit - Ein Königreich zerfällt

Boris Johnson erweist sich als schlechter Krisenmanager. Das Vereinigte Königreich, die britische Gesellschaft, das Parlament und die konservative Tory-Partei sind immer tiefer in Brexit-Gegner und EU-Feinde gespalten. Auch moderate Minister drohen nun mit Meuterei

Wie weit wird Boris Johnson für den Brexit gehen? / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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„Wir haben nicht zwei Weltkriege gewonnen, um uns jetzt von einem Kraut gängeln zu lassen“, stand in dem Tweet und daneben war Angela Merkel abgebildet. „Kraut“ ist eine abfällige Bezeichnung der Briten für die Deutschen, der im Zweiten Weltkrieg gebräuchlich war. Der Tweet der EU-feindlichen „Leave.EU-Kampagne“ löste in London eine Welle an Empörung aus und wurde am Mittwoch gelöscht. Der Gründer und Sponsor der Brexit-Kampagne Aaron Banks entschuldigte sich: „Das Leave.EU-Team ist zu weit gegangen.“

Die Entgleisung ist ein weiteres Symptom dafür, wie sehr der Brexit an den Nerven diesseits und jenseits des Ärmelkanals zerrt. Innerhalb der EU gilt die deutsche Kanzlerin als ausgleichende Kraft, die gesamteuropäische Interessen, aber auch jene der deutschen Autoindustrie im Auge behält. Deshalb sucht sie einen Kompromiss – einen sanften Brexit, der für keine Seite allzu schädlich wäre. Derzeit aber gibt es keine ernsthaften Verhandlungen zwischen London und Brüssel mehr. Bei einem Treffen am Donnerstag strahlten der irische Premier Leo Varadkar und sein britischer Kollege Boris Johnson eher Resignation als Hoffnung aus. „Die Position des Vereinigten Königreichs ist, dass Nordirland mit Großbritannien aus der EU-Zollunion ausscheiden muss – egal, was die Mehrheit der Nordiren dazu zu sagen hat“, hatte Leo Varadkar am Vorabend gesagt.

Nordirland könnte in der EU bleiben

Seit Boris Johnson und sein Chefberater Dominic Cummings Ende Juli in Downing Street eingezogen sind, hat sich der Ton nicht nur in Richtung EU verschärft. Der Brexit wirkt wie ein Spaltpilz auch innerhalb des Vereinigten Königreichs. Die Engländer, die Waliser im Schlepptau, betreiben den Austritt aus der EU. Schotten und Nordiren wollen in der Mehrheit bleiben. Je schneller Boris Johnson die englischen Tories in einen harten Brexit treibt, umso leichter wird es für die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon, ein Unabhängigkeitsreferendum von Großbritannien zu fordern. In Nordirland gibt es erstmals seit dem Friedensabkommen 1998 wieder Stimmen, die ernsthaft über die Vereinigung mit der Republik Irland nachdenken. Nordirland könnte dann in der EU bleiben.

Die konservative Tory-Partei und die linke Labour-Party machen ebenfalls einen fast gespenstischen Radikalisierungsprozess durch, bei dem die moderaten und proeuropäischen Politiker an den Rand oder sogar aus der Partei gedrängt werden. Johnson selbst hat 21 Tory-Abgeordnete im September aus der Parlamentsfraktion werfen lassen, weil sie seinen radikalen Weg nicht mitgehen wollten. Damit hat er sich selbst die Mehrheit im Unterhaus genommen.

Gespaltenes Parlament

Bei Labour hat sich inzwischen auch schon das Corbinysta-Lager gespalten: Wichtige Mitarbeiter wie Schatten-Außenministerin Emily Thornberry positionieren sich inzwischen offen gegen den EU-Skeptizismus von Parteichef Jeremy Corbyn – und damit auch gleich für eine mögliche Nachfolge an der Spitze der Partei.

Das britische Parlament ist so tief gespalten, dass es sich bisher nicht zu einem gemeinsamen Vorstoß für einen geordneten Brexit – oder dessen Absage – entschließen konnte. Zumindest eines hat das Parlament Premier Johnson verboten: einen Austritt ohne Abkommen am 31. Oktober. Mit der sogenannten Benn-Verordnung wurden dem Premier die Hände gebunden. Kommt es zu keinem Deal auf dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober, dann muss Johnson in Brüssel danach um Verschiebung des Austritts bis mindestens Ende Januar 2020 ansuchen. „Die rechtliche Lage ist eindeutig: Der Brexit ohne Abkommen für den 31. Oktober ist damit abgesagt“, meint Hilary Benn, nach dem die Verordnung inoffiziell genannt wird, im Gespräch mit Cicero.

Unter „Rücktritts-Beobachtung“

Boris Johnson aber behauptet immer noch, dass Großbritannien zu Halloween „ohne wenn und aber“ austritt. Ob er bereit ist, das Gesetz zu brechen? Auch diese Option ist nicht auszuschließen. Genauso wie die schräge Idee, Boris Johnson könnte gegen sich selbst ein Misstrauensvotum im Parlament abhalten lassen, um Neuwahlen näher zu kommen. Oder dass er selbst den Brexit wieder absagt – die britische Regierung könnte dies unilateral ohne Zustimmung von Brüssel tun – nur, um in sich bei Neuwahlen ein Mandat für einen ungeordneten Brexit ohne Abkommen zu holen. Dies könnte schon im Spätherbst oder zu Jahresbeginn passieren.

Die Eskalation hat auf Grund der irrwitzigen Entwicklungen eine weitere Stufe erreicht. Der Spaltpilz hat auch schon Downing Street befallen. Um die Stimmen der radikalisierten „Brexiteers” bei den kommenden Wahlen zu ergattern, will Boris Johnson sein „No-Deal“-Szenario ins Parteiprogramm für die Neuwahlen schreiben. Das geht moderaten Ministerinnen wie Nicky Morgan zu weit. Sie hat zugestimmt, in Johnsons Regierung einzutreten, weil sie hoffte, er werde mit der Drohung von No-Deal noch ein Abkommen von der EU erzwingen können. Einen ungeordneten Austritt aus der EU aber lehnt sie ab. Noch vier weitere Minister sind unter „Rücktritts-Beobachtung“, wie es in den englischen Medien heißt.

Der härteste aller Brexits

Fünfzig Tory-Abgeordnete wollen zudem nicht mehr kandideren, wenn Johnson „No-Deal“ bei Neuwahlen ins Zentrum stellt. Der streitbare Regierungschef lässt sich davon nicht verschrecken, er hat im Gegenteil eine außerordentliche Parlamentssitzung für Samstag, den 19. Oktober einberufen. An diesem Tag soll es im Zentrum von London außerdem zur größten Anti-Brexit-Demonstration aller Zeiten kommen. Unter Umständen will Johnson in einer Serie von Abstimmungen im Unterhaus das Parlament als entscheidungsunfähig vorführen und doch noch sofort durch schnelle Neuwahlen den härtesten aller Brexits erzwingen.

„Led by Donkeys“ („Von Eseln geführt“) heisst eine satirische, privat finanzierte Gruppe von Engländern, die britischen Spitzenpolitikern auf Plakatwänden im ganzen Land Tag für Tag Aussagen in Erinnerung ruft, die sie zu Beginn des Brexit-Prozesses getätigt haben: “Wir brauchen keine Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit, weil wir ein tolles Abkommen bekommen werden“, sagte Boris Johnson im Juli 2017. Davon kann keine Rede sein. Es sind noch 22 Tage bis zum 31. Oktober.

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