Der BND und das Debakel von Kabul - Hat der deutsche Auslandsgeheimdienst versagt?

Der Bundesnachrichtendienst muss sich harte Vorwürfe gefallen lassen, weil er angeblich die Lage in Kabul völlig falsch eingeschätzt hat. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Tatsächlich geht es um ein Schwarze-Peter-Spiel, und insbesondere das Auswärtige Amt hat sich nicht mit Ruhm bekleckert.

Hat der Bundesnachrichtendienst wirklich versagt? / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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In Afghanistan herrschen wieder die Taliban, und Kabul bildet keine Ausnahme. Aber während die Rückeroberung praktisch des gesamten Landes durch die islamistischen Milizen vom Rest der Welt schon beinahe schulterzuckend zur Kenntnis genommen wird, ist die rasche Einnahme auch der Hauptstadt zu einem Politikum erster Güte geworden. Was zum einen natürlich daran liegt, dass Kabul als Regierungssitz und als Standort ausländischer Botschaften einen besonders hohen Symbolwert hat. Zum anderen an den Fehleinschätzungen der Geheimdienste, wie lange die Metropole mit ihren mehr als vier Millionen Einwohnern dem Druck der Taliban standhalten könne.

Dass mit dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte vom Hindukusch ein Rollback stattfinden würde, war seit langem allen klar. Ebenso, dass damit auch Kabul früher oder später an die Taliban zurückfällt. Die entscheidende Frage war eben nur: wie schnell? Eine Rückeroberung binnen weniger Tage erschien offenbar allen vor Ort stationierten Nachrichtendiensten unplausibel; auch der Bundesnachrichtendienst (BND) war da keine Ausnahme. Dennoch steht jetzt insbesondere der BND am Prager – beinahe so, als ob dessen Mitarbeiter mit ihrer vermeintlichen Ignoranz das Afghanistan-Debakel allein zu verantworten hätten. Wie das halt so ist, wenn nach einem Sündenbock gesucht wird. Und dann kommt auch noch der Bundestagswahlkampf dazu. Das Setting für eine politische Schlammschlacht war mithin bereitet.

BND-Chef Kahl muss sich rechtfertigen

Dass dem BND Fehler bei der Lageeinschätzung unterlaufen sind, wird nicht einmal von ihm selbst bestritten. Das war jedenfalls der Tenor nach den Auftritten von BND-Chef Bruno Kahl am Mittwoch vor dem Verteidigungsausschuss sowie an diesem Donnerstag vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr). Dem Vernehmen nach verliefen beide Sitzungen in einer weitgehend konstruktiven und sachlichen Atmosphäre; Kahl habe eine erste Fehleranalyse abgeliefert und deutlich gemacht, dass man Konsequenzen aus der Fehleinschätzung im Hinblick auf die Einnahme Kabuls durch die Taliban ziehen werde.

Gleichwohl lohnt es sich, ein bisschen genauer hinzuschauen. Schon die Tatsache, dass weder die Vertreter von CDU/CSU noch der Grünen oder der Linkspartei im PKGr auf einen Rücktritt Kahls drängten, könnte auf ein gewisses Verständnis gegenüber dem BND in Sachen Kabul hinweisen. Das Gremium sieht zwar „erheblichen Aufklärungsbedraf“ und wird sich nächste Woche abermals mit den Vorgängen befassen. Aber ein Scherbengericht, wie man es nach den öffentlichen Vorwürfen (nicht zuletzt auch aus dem Munde von Außenminister Heiko Maas) gegenüber dem BND hätte erwarten können, blieb vorerst aus. Dafür gibt es Gründe.

Auslöser des aktuellen Schwarze-Peter-Spiels ist das interne Protokoll einer Krisenstabssitzung vom vergangenen Freitag, aus dem zunächst die Bild-Zeitung zitiert hatte und an dessen Authentizität inzwischen kein Zweifel mehr besteht. Bei der Sitzung, an der neben Regierungsvertretern auch die BND-Vizepräsidentin Tania Freiin von Uslar-Gleichen teilgenommen hatte, ging es um eine aktuelle Einschätzung der Situation in Kabul und nicht zuletzt um das daraus erwachsende Bedrohungspotenzial für die Mitarbeiter der deutschen Botschaft und andere Bundesbürger vor Ort, etwa Mitarbeiter von NGOs. Etliche von ihnen sind wegen des raschen Vorrückens der Taliban in die afghanische Hauptstadt auch aktuell noch in Bedrängnis.

Entsprechende Fehleinschätzungen durch den Bundesnachrichtendienst waren also potenziell lebensbedrohend für die Deutschen vor Ort. Vor diesem Hintergrund wirken die im Protokoll wiedergegebenen Einschätzungen des BND vom vergangenen Freitag geradezu skandalös: „Übernahme Kabuls durch TLB [Taliban, Anm. d. Red.] vor 11.9 eher unwahrscheinlich“, heißt es darin, und dass die Taliban an einer militärischen Einnahme Kabuls aktuell „kein Interesse“ hätten. Inzwischen weiß man es besser, der BND gibt sich denn auch reichlich zerknirscht.

Nationalarmee ohne Kampfeswillen

Dennoch sollte zur zumindest partiellen Ehrenrettung des Bundesnachrichtendienstes angemerkt werden, dass die Taliban die afghanische Hauptstadt überhaupt nicht „militärisch“ eingenommen haben. Das war nämlich gar nicht nötig, weil die dortige Nationalarmee keinerlei Widerstand leistete und praktisch nicht in Erscheinung trat. Dass die Nationalarmee nicht wirklich kampfbereit war, wussten natürlich auch die BND-Leute vor Ort. Es war schließlich kein Geheimnis, dass die Moral der Truppe wegen ausbleibender Soldzahlungen schon lange gegen null tendierte. Und nachdem zuvor die Einschätzung amerikanischer Dienste publik geworden war, dass Kabul spätestens 90 Tage nach Abzug des US-Militärs ohnehin von den Taliban eingenommen werden würde, sah die Afghanische Nationalarmee erst recht keinen Grund, sich militärisch zu verausgaben.

Als ein wesentlicher Kipp-Punkt gilt inzwischen aber die Verlegung des amerikanischen Botschaftspersonals aus Kabuls „Grüner Zone“ an den nahegelegenen Flughafen. Dies geschah allerdings erst einen Tag nach der inzwischen berühmten Lageeinschätzung durch den BND vom vorigen Freitag – und wurde von den regulären afghanischen Streitkräften zu Recht als Signal dafür gewertet, dass die Amerikaner Hals über Kopf auch die Hauptstadt verlassen wollten. Für den ohnehin kaum vorhandenen Kampfeswillen war das gewissermaßen der Nullpunkt, die Taliban hatten von dem Moment an freie Bahn. Laut Protokoll hatte der BND nicht zuletzt darauf aufmerksam gemacht, dass eine Ausreise der afghanischen Eliten den „Prozess“, also die Einnahme Kabuls „beschleunigen“ würde. Mit der Flucht von Afghanistans Präsidenten Ashraf Ghani ist genau das passiert.

War die Dynamik absehbar?

Es ist also nicht so, dass der Bundesnachrichtendienst komplett blauäugig gewesen wäre, zumal die Behörde schon im vergangenen Dezember und dann erneut im Juli keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass nach dem Abzug der alliierten Streitkräfte in Afghanistan ein „Emirat 2.0“ entstehen und Kabul früher oder später ohnehin an die Taliban fallen würde. Vorgeworfen werden kann dem BND also lediglich seine Fehleinschätzung hinsichtlich des Tempos beim Einmarsch der Taliban in die Hauptstadt. Und ob diese Dynamik wirklich absehbar war, ist zumindest fraglich.

Womöglich hat deshalb insbesondere das Auswärtige Amt ein Interesse daran, den Fokus auf den BND zu lenken. Denn die deutsche Botschaft in Kabul hatte einem Bericht des ARD-Hauptstadtstudios zufolge das Auswärtige Amt offenbar schon wochenlang vergeblich vor einer möglichen Gefährdung ihres Personals gewarnt. In einem Lagebericht des stellvertretenden deutsche Botschafter Jan Hendrik van Thiel nach Berlin war demnach die Rede davon, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden seien.

Für Heiko Maas ist das alles kein Ruhmesblatt. Zumal Vorwürfe des Außenministers in Richtung BND ohnehin teilweise auf dessen eigene Behörde zurückfallen. Die bei der Lageeinschätzung vom vergangenen Freitag anwesende BND-Vizepräsidentin von Uslar-Gleichen ist nämlich als langjährige Karrierediplomatin vom Auswärtigen Amt selbst an den Bundesnachrichtendienst abgestellt worden. Zu gewinnen gibt es in diesem blame game wegen des Debakels von Kabul also wahrlich für niemanden etwas.

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