Bidens Rede vor den Vereinten Nationen - Die Selbsttäuschung der EU

US-Präsident Joe Biden hat in seiner Rede vor den Vereinten Nationen die EU ein wichtiges Bündnis genannt. Doch warum berücksichtigt er ihre Interessen dann nicht stärker? Ganz einfach: Weil er es nicht muss. Die EU-Staaten haben sich durch eine aktive Verweigerungspolitik selbst aus dem Spiel genommen.

Joe Biden, Präsident der USA, spricht während der Generaldebatte der UN-Vollversammlung in New York / dpa
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Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Die Entscheidung, die amerikanischen Streitkräfte rascher aus Afghanistan abzuziehen, traf Präsident Biden ohne Konsultationen mit den Verbündeten aus der EU. In die Gründung der Sicherheitsallianz Aukus (Australien, Großbritannien [UK] und USA) waren sie ebenfalls nicht eingebunden. Beides hat große Verärgerung ausgelöst.

Warum geht die amerikanische Regierung so vor, wo die Verbesserung der Beziehungen zu den Allianzpartnern doch erklärtermaßen eines der vorrangigen Interessen der Regierung Biden ist? Warum berücksichtigt Präsident Biden die Interessen der EU-Staaten nicht stärker, wenn er – wie gestern vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen – die Nato und die EU als wichtige Bündnisse erwähnt? Die Antwort ist schlicht: Weil er es kann. Und weil die EU-Staaten andererseits keine Alternative zum Bündnis mit den USA haben, wollen sie nicht unter chinesischen und russischen Einfluss geraten. Die EU-Staaten tun zwar immer noch so, als wären sie ein eigenständiger internationaler Akteur, der Einfluss nehmen kann. Aber das Fundament dieser Selbsttäuschung wird gerade zermahlen.

Präsident Biden hat in seiner Rede vor den Vereinten Nationen die zentralen Interessen der USA und deren Beurteilung der internationalen Lage ausgeführt. Das zentrale Interesse ist, weiterhin die dominierende Weltmacht zu sein. Das werden die USA nicht mehr alleine sein können, weil Chinas Aufstieg die Lage verändert hat. Aber Chinas Griff nach der Weltmacht soll eingedämmt werden. Hierzu streben die USA Bündnisse mit den demokratischen Staaten an, einstweilen im pazifischen Raum, den Biden als wichtigste Region benannt hat, und in Europa. Es ist absehbar, dass Lateinamerika und Afrika folgen werden, weil auch hier China wirtschaftlich und politisch engagiert ist.

Wer setzt die Regeln?

Gleichzeitig bleiben die USA offen für Kooperationen bei internationalen Herausforderungen, wobei Biden die Bekämpfung von Corona, die bessere Vorbereitung auf künftige Pandemien, die Eindämmung des Klimawandels und die Verhinderung von Proliferation als wichtige Beispiele nannte. Dass die chinesische Regierung mittlerweile die Kooperation in der Klimapolitik an politische Bedingungen in den bilateralen Beziehungen geknüpft hat, überging der amerikanische Präsident.

Beide Themen – Pandemie und Klimapolitik – waren auch an sein heimisches Publikum gerichtet, denn die amerikanische Gesellschaft ist tief gespalten. Dass diese Spaltung überwunden werden muss, um als Demokratie eine ebenso verlässliche wie kraftvolle Außenpolitik führen zu können, weiß die amerikanische Regierung. Sie weiß allerdings (noch) nicht, wie sie dies erreichen soll.

Die internationale Kooperation für eine nachhaltige und faire Globalisierung führt aber sogleich in die Frage hinein: Was ist fair und wer setzt die Regeln? Für die amerikanische Regierung ist auch hier die Antwort eindeutig: Die Demokratien sollen die Regeln setzen, weil sie mit der Orientierung auf die individuellen Menschenrechte und Freiheit das politische Modell vertreten, das die meisten Menschen anstreben – auch wenn sie von den autokratischen Regierungen noch davon abgehalten werden. Dass Biden an dieser Stelle China und den Sudan in einem Atemzug nannte, war mehr als eine diplomatische Spitze. Doch soll die Auseinandersetzung zwischen den Demokratien und Autokratien, der neue internationale Systemkonflikt, nicht in Blöcken enden, die gegeneinanderstehen wie einst der Westen um die USA gegen den Osten um die Sowjetunion. Wie das zu erreichen sein wird, ist die entscheidende Frage für die Neugestaltung der internationalen Beziehungen.

Nur eine Randerscheinung

Welche Rolle spielen die europäischen Verbündeten dabei? Leider – aus europäischer Sicht – keine eigenständige. Die EU-Staaten haben sich durch eine aktive Verweigerungspolitik, sich als international handlungsfähigen Akteur zu konstituieren, aus dem Spiel genommen. Sie verfügen weder über die Entscheidungsprozesse noch über die materielle Ausstattung für eine wahrnehmbare Außenpolitik. Das ist das Ergebnis der vergangenen 20 Jahre, für das vor allem die deutsche und französische Regierung verantwortlich sind.

Deshalb ist die Wut in Paris über das geplatzte U-Boot-Geschäft aus amerikanischer Sicht auch nur eine Randerscheinung, die vorübergeht wie heftiger Wind. Denn Frankreich wie die gesamte EU sind ohne ordnungspolitische Alternative. Wenn die europäischen Gesellschaften meinen, sich aus den Konflikten der Welt und dem amerikanisch-chinesischen Antagonismus heraushalten zu können, sitzen sie einem Trugbild auf. Allerdings einer Blendung, die ihnen von den Regierungen jahrelang vorgemacht wurde. Diese Position ist nicht realitätstüchtig. Und das amerikanische Vorgehen reißt die Phantasien gerade Stück für Stück ein.

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