Der Grenzkonflikt in Belarus - „Europa baut sich zur Festung aus“

In Belarus muss die EU den Spagat schaffen, die Grenze zu verteidigen, ohne ihre Werte zu verraten. Im Interview erklärt der Soziologe Steffen Mau, warum befestigte Grenzen im Zeitalter der Globalisierung boomen und wie die Digitalisierung den Regierungen helfen wird, noch besser zwischen willkommenen und nicht willkommenen Einreisenden zu unterscheiden.

„Die Grenze sortiert zwischen willkommen und nicht willkommen“ / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Im September ist sein neues Buch erschienen: „Sortiermaschinen – die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert

Herr Mau, zwischen Belarus und Polen entsteht gerade für 350 Millionen Euro ein Zaun aus Nato-Stacheldraht, der die EU-Außengrenze schützen soll. Letzte Woche erlebte man, wie Migranten Löcher in den Zaun schnitten und auf die andere Seite gelangten. Was haben Sie gedacht, als Sie diese Bilder gesehen haben?  

Das war ein sehr symbolisches Bild für das neue Mauerbaufieber. Polen und Belarus sind kein Einzelfall. Es gibt weltweit immer mehr fortifizierte Grenzen und Mauern. Es geht nicht mehr darum, das Territorium gegen äußere Feinde zu verteidigen, sondern darum, bestimmte Migrationsbewegungen zu verhindern.

Der Grenzkonflikt in Osteuropa ist nur ein Beispiel für viele andere? 

Genau, die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist ein berühmtes Beispiel. Es gibt aber auch viele Beispiele auf dem asiatischen Kontinent. Selbst afrikanische Staaten wie Botswana oder Südafrika schotten sich heute gegen Migration ab.

Zeigen die Bilder nicht auch, dass so eine Grenze im Grunde genommen nur noch eine symbolische Funktion hat, da sie ja unterlaufen werden kann?

Diese Meinung gibt es. Ich würde trotzdem sagen, dass die meisten dieser Grenzen dennoch eine stark einschränkende Wirkung auf die Bewegung von Menschen haben, auch wenn sie ein Territorium nicht vollständig versiegeln können. Also, sie halten die Bewegungen auf, das sieht man schon daran, dass viele Flüchtlingslager vor Grenzen entstehen. Die kontrafaktische These müsste lauten: Was würde eigentlich passieren, wenn es diese Grenzbefestigung gar nicht gäbe? Dann würde man sie frei überwinden können. Die Zahl der Grenzüberquerer wäre deutlich höher.    

Aber wer für sich in seiner Heimat keine Zukunft sieht, den wird doch auch eine Mauer kaum abschrecken.

Nein, Not, Verfolgung und Verzweiflung sind starke Antriebe. Deswegen werden die sozialen und politischen Kosten harter Grenzen auch immer höher. Wenn solch eine stark gesicherte Grenze zu Ende denkt, dann wäre das eine Grenze, wie wir sie zwischen 1961 bis 1989 in Deutschland hatten – nämlich eine Grenze mit Schießbefehl. Eine Grenze, die man nur unter Inkaufnahme hoher Lebensrisiken überqueren könnte.

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Heißt das, je größer der Wille, sie zu überwinden, desto dicker die Mauer?

Genau, man gerät in einen Wettbewerb um immer stärkere Grenzbewehrung, wobei sich die meisten migrationspolitischen Fragen an der Grenze selbst gar nicht lösen lassen. Für Europa gilt, dass wir eine bestimmte Vorstellung von Asyl und Schutzrechten haben. Je stärker wir versuchen, Migration abzuwehren, desto stärker werden wir die Werte kompromittieren, von denen wir meinen, dass sie uns ausmachen. Das ist eine Form von doppelter Moral, mit der wir zunehmend konfrontiert werden. Einerseits wollen wir eine auch moralisch vertretbare Grenze haben, andererseits beinhaltet konsequenter Grenzschutz auch Formen der Zurückweisung, die auf keine Weise mit Schutzrechten und humanitärer Behandlung vereinbar sind.

Wie kommt die EU aus diesem Dilemma heraus?

Eine Alternative wäre es, Kontingentierungen zu schaffen oder Möglichkeiten des regelhaften Zugangs. Das wird zwar nicht für alle gelten, aber es würde Menschen aus vielen Regionen der Welt die Möglichkeit eröffnen, auf sicheren Wegen einzuwandern. Wir haben einen hohen Fachkräftebedarf in Bereichen wie der Pflege. Wir müssen Wege finden, wie Menschen über Kontingente oder Losverfahren nach Europa kommen können, ohne staatliche Schleuserkriminalität wie im Falle von Belarus.

Sie reden von Zuwanderung, aber was ist mit dem Asylrecht?

Dieses prämiert derzeit diejenigen, die es bis an die Grenzen schaffen, denn es basiert auf dem Prinzip der territorialen Ankunft. Man könnte den Zugang zu Asylverfahren auch so gestalten, dass Anträge schon im Herkunftsland gestellt werden können, obwohl da auch viele rechtliche Fragen offen wären. Viele der Menschen an der EU-Außengrenze sind Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, denen wir einen Zugang zu Asylverfahren schulden, den Zugang zu medizinischer Versorgung und Lebensmitteln sowieso. 

Ohne das Visum von Lukaschenko hätten sie es nie so weit geschafft. 

Stimmt. Im Moment ist es so, dass sich Europa durch die grenz- und migrationspolitische Zusammenarbeit mit häufig nichtdemokratischen Anrainerstaaten in eine Situation gebracht hat, dass niemand auf dem Landwege mehr nach Europa kommen kann. Lukaschenko ist aber nicht der einzige Diktator, der uns mit Flüchtlingen unter Druck setzt, auch für andere sind sie zur Verhandlungsmasse geworden.

Sie spielen auf den türkischen Präsidenten Erdogan an und den EU-Türkei-Deal?

Ja, aber auch Länder wie Niger, Libyen oder Marokko werden in das europäische Grenzmanagement mit eingebunden. Mit ganz vielen Ländern kooperiert die Europäische Union ja, um sie dazu zu bringen, dass sie ihre Grenzen dichtmachen und Flüchtlingsrouten austrocknen. Das heißt, wir spannen andere Länder dazu ein, dafür zu sorgen, dass sie als Transitländer nicht in Frage kommen oder ihre eigene Bevölkerung nicht nach Europa weiterzieht. Lukaschenko hat den Spieß jetzt umgedreht, weil er gesehen hat, dass die EU stark irritierbar ist durch ein paar tausend Migranten.

Steffen Mau / dpa 

2015 bekam die Kanzlerin Applaus dafür, dass sie Flüchtlinge einfach durchwinkte, die über Ungarn und Österreich nach Deutschland gekommen waren. Jetzt geht die Meinung eher dahin, dass der Zaun an der EU-Außengrenze gar nicht hoch genug sein kann. Ist die Willkommenspolitik in der EU einer Abschottung gewichen?

Ja, in gewisser Weise baut sich die EU zu einer Festung aus. Das ist in den letzten Jahren noch einmal forciert worden. Dazu dienen Mauern und Zäune, aber auch Kooperationen mit Herkunfts-und Transitländern. Wir sprechen von der Exterritorialisierung von Grenzkontrolle. 

 Produzieren Zäune oder Mauern auch Zäune oder Mauern im Kopf?

Ja, das ist sogar nachgewiesen worden. Wenn man so etwas hat wie einen Raumtrenner, haben viele Leute das Gefühl, dass es ein Dieseits und ein Jenseits gibt, ein Wir und ein Sie. Bei Mauern kommt dazu, dass sie ein bestimmtes Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit mitproduzieren: Jenseits der Mauer befindet sich das Unzivilisierte und Gefährliche, und diesseits der Mauer ist der Schutzraum.

Welche Folgen hat das?

Das führt häufig dazu, dass auch diejenigen, die auf der anderen Seite der Grenze sind, gar nicht in ihrem ganzen Menschsein erkannt und verstanden werden. An der polnischen Grenze stehen aber nun einige tausend Menschen, für die man schnell eine humanitäre Lösung finden muss.  

Aber die Bilder zeigen doch auch, dass das alte Freund-Feind-Schema an der EU-Außengrenze nicht mehr greift. Man sieht Menschen, die von belarussischen oder polnischen Polizisten verprügelt werden.

Wir haben eine Explosion der Bilder, mit der Brutalität der belarussischen Militärs, aber auch mit dem Säbelrasseln der polnischen Seite. Man sieht auch einzelne Migranten, die verzweifelt versuchen, den Zaun zu überklettern oder zu zerstören. Die Situation ist außer Kontrolle geraten, mittendrin Menschen mit ihren Ängsten, in ihrer Not. Es besteht jetzt sogar die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Polen und Belarus – oder, wenn man geopolitisch denkt, zwischen Russland und der Nato.

Interessanterweise sprechen Politiker heute lieber von „physischen Barrieren“ als von Grenzen oder Grenzkontrollen. Warum trauen sie sich nicht mehr, das Kind beim Namen zu nennen?

Weil es nicht in unser Bild von Globalisierung und der eigenen Liberalität passt, dass man in einem ummauerten Europa lebt. Wir sprechen von einer offenen Weltgesellschaft, auch das Reisen ist sehr normal für uns geworden. Gleichzeitig müssen wir aber erkennen, dass wir Mitglieder eines sehr exklusiven Clubs sind, weil das auf den größten Teil der Menschen nicht zutrifft. Dieser Teil wird mit stark militarisierten Grenzen an der Bewegung gehindert, ist im Zuge der Globalisierung sogar immobiler geworden. In Deutschland leben wir in einer Paradoxie ungleicher normativer Standards.

Was meinen Sie damit?

Wir haben im Sommer den 60. Jahrestag des Mauerbaus gehabt. Über 300 Todesopfer forderte die innerdeutsche Grenze. Wir wissen aber, dass jedes Jahr an den europäischen Grenzen deutlich mehr Menschen ums Leben kommen, deren Leben nicht weniger wert ist.  

Interessanterweise reagieren dieselben Deutschen, die einen hohen Zaun an der EU-Außengrenze fordern, sehr empfindlich, wenn man ihre eigene Mobilität jetzt mit der 2G-Regel beschränkt.  

Dabei ist das eine Erfahrung, die ein großer Teil der Weltbevölkerung permanent macht. Selbst diejenigen, die nationalistisch argumentieren, wollen auch nach Mallorca in den Urlaub fahren. Globalisierung heißt hier, dass man nur die eigene Mobilität für richtig hält.

In Ihrem Buch „Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert“ widerlegen Sie die Vorstellung, dass im Zeitalter der Globalisierung grenzenloser Reiseverkehr herrscht. Tatsächlich nehmen die Grenzen seit den 90er-Jahren zu.  

Ja, in den 80er-Jahren waren fünf Prozent aller Landgrenzen weltweit stark befestigt, bis heute hat sich diese Zahl vervierfacht. Anfang der 1990er, nach dem Kollaps des Ostblocks, hatten wir zwölf davon, heute sind es über 70.   

Was schließen Sie daraus?

Häufig sind dieses Grenzen da zu finden, wo es Wohlstandsgefälle gibt oder wo verschiedene politische Regime aufeinandertreffen.  

Sie sind selbst ein Kind der DDR. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Mauer, und was hat Sie motiviert, jetzt zu erforschen, ob die Welt wirklich so grenzenlos ist, wie sie uns erscheint?

Natürlich hat die Grenze in meinem Leben eine große Rolle gespielt. Ich hab 21 Jahre in einer eingegrenzten Gesellschaft gelebt. Die DDR-Grenze war spezifisch, weil sie sich nach innen gerichtet hat und nicht nach außen. Die eigene Bevölkerung wurde kaserniert. Der Wunsch nach Reisefreiheit war ein zentraler Antrieb der Proteste von 1989. Mich hat die Frage der Grenze und der die sie produzierten Ein- und Ausschlüsse immer interessiert.

Sie klingen ernüchtert.

Irgendwann merkt man: Da kommen Grenzen wieder. Und sie werden immer selektiver. Es gibt viele Leute, die von diesen Reisemöglichkeiten ausgeschlossen werden. Und daran sieht man eben, dass sich über die Reorganisation der Grenze in digitaler oder physischer Hinsicht ein starkes Regime der Mobilitätshierarchie gebildet hat. Einige können überall hinreisen. Anderen gelingt es nie, aus ihrem Herkunftsland herauszukommen.  

Sind die virtuellen Mauern nicht viel höher als die sichtbaren?

Ja, es gibt natürlich auch eine Verschiebung zu den sogenannten Smart Borders. Das bezieht sich nicht nur auf die Grenzraumbewachung durch akustische Sensoren und durch neue Formen der Bilderfassung, sondern auch durch die Nutzung großer Datensätze für die Klassifizierung von Individuen als risikoreich oder risikoarm. In den vergangenen fünf Jahren wurden viele Grenzübergänge zu automatisierten Schleusen umgebaut. Da spielen auch biometrische Systeme der Identifikation eine große Rolle.

Wenn wir an die Grenze kommen, dann kennt uns die Grenze schon?

Genau, die Grenze der Zukunft wird am Ende funktionieren wie eine gläserne Kaufhaustür. Wir gehen darauf zu, und wenn uns die Grenze am Iris-Scan oder an der Gesichtsvermessung erkennt, öffnet sie sich. Für diejenigen, die willkommen sind, wird sie eigentlich nicht mehr spürbar werden.

Und für die anderen?

Wird sie unüberwindbar.

Aber wenn die Digitalisierung auf den gläsernen Menschen abzielt, kann man den ja überall erkennen. Werden Grenzen dann nicht überflüssig?

Die Kontrolle kann in den öffentlichen Raum diffundieren. Man definiert Grenze dann anders. Die Grenze ist da, wo Kontrolle stattfindet. Das kann in jeder Bahnstation passieren. Aber die Grenze als physischer Ort bleibt dennoch wichtig

Sie schreiben, „Mauern sind die Kollateralbauwerke der Öffnungsglobalisierung, mit deren Hilfe die Ungleichsschwellen stabilisiert werden“. Ist Ihr Buch ein Appell, die Globalisierungsverlierer nicht aus dem Blick zu verlieren?

Ja, ich will weg von dem Narrativ, dass Globalisierung immer Entgrenzung oder Öffnung bedeutet oder Integration in eine Weltgesellschaft. Die Globalisierungsdividende ist extrem ungleich verteilt. Es geht um die Frage: Wer darf unter welchen Bedingungen welches Territorium betreten? Die Grenze ist nicht für alle gleich. Sie sortiert zwischen willkommenen und unwillkommenen Personen.

Unwillkommen sind Menschen wie die, die jetzt im Niemandsland zwischen Belarus und Polen festsitzen. In ihrem Buch schreiben Sie, hätten sie mehr Geld, könnten sie sich ein Visum für den Schengen-Raum einfach kaufen – ohne gefährlichen Umweg über die belarussische Grenze. Ist es wirklich so leicht?

Ja, über „Citizen by Investment“-Programme kann sich jeder einfach einbürgern lassen oder einen Aufenthaltstitel bekommen. Es ist ja jetzt schon so, dass die Staatsbürgerschaft käuflich zu erwerben ist. Europäische Länder wie Portugal, Österreich oder Malta bieten solche Programme an. Für sechsstellige Geldbeträge bekommt man dort ein Aufenthaltsrecht, ein Residenzrecht oder sogar eine Staatsbürgerschaft. Die Zugehörigkeit zur Klasse der sehr Wohlhabenden erlaubt es, Grenzen zu überschreiten.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.

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