Baschar al Assad - Mit brutaler Macht

Seit dem US-Truppenabzug aus der Kurdenregion hat Syriens Präsident Baschar al Assad wieder Oberwasser – doch der Westen hält an seiner Fehleinschätzung fest. Während die Welt sich neu sortiert und neue Machtzentren entstehen, darunter Russland und China, nutzt Europa die Krise nicht als Chance

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Mit naiver Weltsicht hat der Westen in Syrien verloren / picture alliance
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Autoreninfo

Michael Lüders ist einer der profiliertesten deutschen Nahostexperten. Der promovierte Islamwissenschaftler war viele Jahre Redakteur bei der Zeit und ist heute freier Publizist und Politikberater. Lüders, geboren 1959 in Bremen, hat zahlreiche Bücher über den Nahen Osten verfasst, zuletzt „Armageddon im Orient“ (C. H. Beck, München 2018)

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Wer hatte sich denn noch für den Krieg in Syrien interessiert? Längst war die politische und mediale Karawane weitergezogen, bis – ja, bis die türkische Armee im Oktober in Nordsyrien einmarschierte. Mit dem Ziel, die dortigen Autonomiegebiete der Kurden vollständig zu zerschlagen. Derselben Kurden, die zuvor als Juniorpartner der USA den „Islamischen Staat“ in Syrien erfolgreich bekämpft hatten. Doch kaum hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan, konnte er gehen. Die USA zogen sich militärisch aus Nordsyrien zurück, woraufhin der türkische Präsident Erdogan das entstehende Vakuum umgehend für sich nutzte. Die Kurden wandten sich nun an die Zentralregierung, an Machthaber Baschar al Assad, mit der Bitte, syrische Truppen in die Grenzregion zu entsenden, wider die türkischen Besatzer.

Damaskus hatte sich mit Kriegsbeginn 2011 aus den syrischen Kurdengebieten zurückgezogen und sich auf die Verteidigung des arabischen „Kernlands“ konzentriert. Assad kam der Aufforderung allzu gerne nach, auch wenn seine Armee Kämpfe mit den militärisch überlegenen Türken nach Möglichkeit vermeiden wird. In den hiesigen Medien aber zeigte sich durchaus Erstaunen: Die Kurden paktieren mit dem Teufel selbst, dem „Schlächter von Damaskus“?

Der Verrat an den eigenen Werten

Unabhängig davon, dass die Kurden in Nordsyrien gar keine andere Wahl hatten, verweisen solche und ähnliche Empörungsrituale auf ein grundlegendes Problem, das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit nämlich: Nehme ich gegebene politische Verhältnisse zur Kenntnis oder beurteile ich sie, unabhängig von der Faktenlage, an den Maßstäben meiner eigenen Moralität, eines normativen, als untadelig verstandenen Weltbilds? Daran, was der jeweilige westlich-politische Diskurs für richtig und geboten hält? Wenn ich doch weiß, dass Assad „das Tier“ (Donald Trump) ist, sind wir im Westen dann nicht gehalten, die Syrer von dieser Bestie zu erlösen?

Leider lässt sich jede vermeintlich „werteorientierte“ Gesinnung leicht als Kriegspropaganda instrumentalisieren. Als die zunächst friedlichen Demonstrationen gegen Assad 2011, im Zuge des Arabischen Frühlings, in einen Bürgerkrieg mündeten, entstand das folgende, in westlichen Staaten dominante Narrativ, die öffentlichkeitswirksame Erzählung über den Krieg in Syrien. Sie ist bis heute gültig und geht etwa wie folgt: Die gesamte syrische Bevölkerung oder wenigstens doch die überwältigende Mehrheit hätte sich gegen Assad erhoben. Mit brutaler Gewalt verteidigt der seither seine Macht und führt Krieg gegen das eigene Volk. Wir im Westen, in der Politik wie auch den Medien, haben gar keine andere Wahl, als diesem verzweifelten Schrei nach Freiheit nachzukommen, wollen wir denn unsere eigenen Werte nicht verraten.

Kaum Realitätsbezug

Wir also sind die Guten, die sich abgrenzen vom absolut Bösen, verkörpert von Assad und denen, die ihn unterstützen, allen voran Moskau und Teheran.

Leider hat diese (Selbst-)Wahrnehmung wenig bis gar nichts mit der Realität zu tun. Gewiss hat Assad die Unruhen im Land brutal niederschlagen lassen, wobei auch Artillerie und Kampfflugzeuge eingesetzt, ganze Städte belagert und bombardiert worden sind. Zehntausende Gefangene hat er umbringen lassen. Nichts gilt es daran zu beschönigen oder zu relativieren.

Jedoch: Alle arabischen Herrscher sind mehr oder weniger Stammes- oder Clanführer. Die arabische Welt hat ihre Industrialisierung und Modernisierung erst teilweise durchlaufen, Demokratie und gesellschaftliche Pluralität gibt es erst in Ansätzen. Deswegen sind westliche Forderungen, etwa die syrische „Zivilgesellschaft“ zu unterstützen, sicherlich gut gemeint, aber Ausdruck einer projektiven Wahrnehmung. In arabischen Gesellschaften gibt es eine „Zivilgesellschaft“ (was auch immer dieser Begriff konkret bezeichnen mag) erst in Ansätzen, eine politische Kraft ist sie nirgendwo. Assad stammt aus den Reihen einer religiösen Minderheit, der Alawiten, die keine 10 Prozent der syrischen Gesellschaft ausmachen. Mithilfe der Armee und der Geheimdienste regiert der Assad-Clan seit 1970 (erst Vater Hafis, seit dessen Tod 2000 sein Sohn Baschar) über die Mehrheit der Sunniten, etwa 60 Prozent der Bevölkerung, sowie diverse religiöse Minderheiten, darunter Christen und Drusen. Jede Demokratisierung würde bedeuten, dass die Alawiten ihre Macht an die Sunniten verlören.

Keine Sanktionen zu befürchten

Wie also eine Clan- und Stammesgesellschaft demokratisch reformieren und öffnen? Im Grunde geht das nicht – jedwede Pluralität gefährdet die Alleinherrschaft der jeweils herrschenden Dynastie. Deswegen ist auch die arabische Revolte 2011 erst einmal gescheitert – es fehlt die gesellschaftliche Basis, ein starkes Bürgertum, das die Macht der überkommenen Feudalordnung brechen könnte.

Assad, der einst in London Augenheilkunde studierte, hat das getan, was jeder arabische Herrscher an seiner Stelle auch getan hätte: die eigene Macht mit allen Mitteln zu verteidigen, und sei es auf Kosten der Zerstörung des eigenen Landes. Auch Sisi in Ägypten oder Kronprinz Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien etwa sind brutale Alleinherrscher, die ihrerseits keine Sekunde zögern, ihre Widersacher auszuschalten, egal um welchen Preis. Nur stehen sie meist nicht am Pranger (bin Salman erst seit der Ermordung des Exiljournalisten Khashoggi im vorigen Jahr). Geschweige denn, dass gegen sie oder ihre Länder Sanktionen verhängt würden. Menschenrechte werden im Kontext arabischer oder islamischer Machthaber dann (und nur dann) zum Maß aller Dinge „werteorientierter“ Politik, wenn diese nicht prowestlich sind.

Vom Bürger- zum Stellvertreterkrieg

Das westliche Narrativ, dem zufolge sich ein Großteil der Bevölkerung am Aufstand gegen Assad beteiligt hätte, ist schlichtweg falsch. Ungeachtet aller Brutalität haben sich bis heute, von Ausnahmen abgesehen, weder die religiösen Minderheiten noch die einflussreichen sunnitischen Händler dem Aufstand angeschlossen. Dessen soziale Basis sind in erster Linie verarmte Sunniten, das Prekariat in den Großstädten. Auch ohne gesicherte Zahlen ist die Annahme realistisch, dass rund die Hälfte der Syrer noch immer hinter Assad steht. Nicht aus Liebe zum Diktator, sondern aus Abwägung: Wer würde ihm denn nachfolgen? Im Zweifel Dschihadisten.

Rechtfertigt das die Brutalität Assads? Selbstverständlich nicht. „Liberale Interventionisten“ jedoch verwechseln ihre moralische Selbsterhöhung gerne mit Analysefähigkeit. Dabei übersehen sie geopolitische Zusammenhänge ebenso wie die Zusammensetzung der mal „Opposition“, mal „Rebellen“ genannten Aufständischen. Spätestens seit 2012 waren die einzigen ernst zu nehmenden Kriegsgegner Assads Dschihadisten, entweder vom „Islamischen Staat“, aus dem Irak eingesickert, oder aber von Al Qaida. Waffen und Geld erhielten sie aus den USA, der Türkei und den Golfstaaten. Gleichzeitig wurde aus dem Bürger- ein Stellvertreterkrieg, in dem sich zwei Seiten gegenüberstanden: hier die USA und die EU, die Assad gestürzt sehen wollten. Nicht wegen seiner Brutalität, sondern wegen seiner politischen Nähe zu Russland und dem Iran. Entsprechend stellten sich Moskau und Teheran hinter Assad. Vor allem das russische Eingreifen in den Krieg seit 2015 sorgte sukzessive für die Niederlage der dschihadistischen Aufständischen.

Die ersten, die die Zeichen der Zeit richtig erkannten, waren die Türken. Standen sie zunächst aufseiten der westlichen Assad-Gegner, wechselten sie 2016 zu den Russen. Mit dem Ziel, ein autonomes kurdisches Siedlungsgebiet im Norden Syriens um jeden Preis zu verhindern. Darum der jetzige Einmarsch der Türkei.

Verloren mit einem naiven Weltbild

„Das Tier“ Assad konnte sich an der Macht halten, weil Syrien aufgrund seiner Lage, der Schnittstelle von Verkehrswegen und Pipelines zwischen der arabischen Halbinsel und der Türkei sowie Europa, geopolitisch von größter Bedeutung ist. Auch deswegen waren Moskau und Teheran entschlossen, ihrem Verbündeten militärisch beizustehen, Syrien nicht dem Westen zu überlassen. Dabei haben Russen und Iraner die Gegebenheiten in Syrien realistischer eingeschätzt als die westliche Assad-muss-weg-Fraktion. Deren Weltbild – hier die Guten, da die Bösen – war nie etwas anderes als naiv, erst recht unter Kriegsbedingungen. Die Feinde von heute können die Verbündeten von morgen sein, wie die kurdische Wiederannäherung an Assad zeigt. Erst kommt bekanntlich das Fressen (in diesem Fall das Überleben), dann die Moral.

Politiker wie Assad, Erdogan oder Putin sind keine Vorbilder. Und doch kann man von ihnen lernen. Sie handeln skrupellos, aber durchaus rational. Ein Gegenentwurf wäre etwa das deutsche Modell. Die Bundesregierung hat sich ohne Not 2011 der von Washington initiierten Koalition zum Sturz Assads angeschlossen, obwohl Berlin über sehr gute Beziehungen zu Assad verfügte, Syrien ein Schwerpunktland deutscher Entwicklungshilfe war. Anders gesagt: Die Bundesregierung hätte auch als Vermittler in der Krise auftreten können. Was hat sie stattdessen für ihre Willfährigkeit erhalten? Das fragwürdige Privileg, die Scherben des verfehlten Projekts „Regimewechsel in Damaskus“ aufkehren zu dürfen und mit rund 800 000 Flüchtlingen das größte Kontingent entwurzelter Syrer in Europa aufzunehmen. Die innenpolitischen Folgen sind bekannt. Bis 2011 war Syrien einer der am meisten entwickelten, säkular orientierten Staaten in der arabischen Welt. Heute ist das Land ein Trümmerfeld, eine Hochburg von Dschihadisten.

Die breite Spur der US-amerikanischen Zerstörung

Demokratie lässt sich nicht mit Waffengewalt exportieren. Überall dort, wo die USA seit 9/11 interveniert haben, von Afghanistan über Irak und Syrien bis nach Libyen und im Jemen, ist das Ergebnis eine Katastrophe für Millionen Menschen. Perspektivlosigkeit und endemische Gewalt wiederum befeuern radikale islamistische Bewegungen. Dennoch starrt deutsche wie auch europäische Politik nach wie vor gebannt auf mögliche Regieanweisungen aus Washington. Der „wohlwollende Hegemon“, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Dutzenden Ländern weltweit Regimewechsel zugunsten brutaler Herrscher herbeigeführt hat, mithilfe des Militärs und der Geheimdienste, gilt in Europa noch immer als „unverzichtbar“. Die breite Spur der Zerstörung wird dabei meist wohlwollend übersehen. Trump gilt auch unter Trans­atlantikern als Katastrophe. Allerdings erliegen sie dem Irrglauben, unter einem neuen, einem Präsidenten der Demokraten, werde alles wieder irgendwie gut.

Das ist ein Irrtum. Die Welt sortiert sich neu, neue Machtzentren entstehen, darunter Russland und China. Europa nutzt bislang die Krise nicht als Chance, um sich neu zu erfinden, eigene Interessen auch unabhängig von Washington zu benennen und zu verfolgen. Über allem thront der Gutmensch, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt und noch immer auf das Monster Assad starrt, während andere aktiv Geopolitik gestalten. Mit „Werteorientierung“ hat das nichts zu tun, wie die Lage der Kurden in Nordsyrien einmal mehr unterstreicht.

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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