Idealisten an der Macht - Deutschlands desorientierte Wertepolitik

Außenministerin Annalena Baerbock mahnt Bundeskanzler Olaf Scholz vor dessen China-Reise, seine Gesprächspartner in Peking an die Einhaltung der Menschenrechte zu erinnern. Pikant ist nur, dass sie sich zu diesem gesinnungsethischen Gipfel ausgerechnet von Usbekistan aus aufschwingt.

Verloren in der Fremde: Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Usbekistan / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Wer immer die Trübsal und die unendlichen Laster in die Welt gebracht hat – seinen Namen wird man wohl nie mehr in Erfahrung bringen. Eines nur ist ganz gewiss: Annalena Baerbock war es nicht. Die deutsche Außenministerin und Spitzen-Grüne, die sich schon in ihrem gescheiterten Promotionsvorhaben ganz der unverfälschten humanitären Hilfe zuwenden wollte, folgt ohne Umweg dem unbedingt Guten: „Frau. Leben. Freiheit“. Auf diese von der PKK und dieser Tage von den iranischen Frauenprotesten aufgegriffene Trias brachte sie jüngst den moralischen Wohlklang ihrer Politik. Und – so fügte die Erfinderin der feministischen Außenpolitik beim Grünen Bundesparteitag noch hinzu – es müsse dies der Maßstab für „alle Regierungen weltweit sein“. Gehet also hin und machet zu freien Menschen alle Völker, so der inhaltlich ganz sicher nachvollziehbare Missionsdrang vom Werderschen Markt.

Wohl dem, der klare Kante hat und der diese bei Gelegenheit auch zu zeigen weiß. Der nämlich kann nichts dafür, wenn der Geist, der stets nur Gutes will, gelegentlich dann auch mal Böses schafft. „Shit happens!“, wie man in Baerbocks niedersächsischen Heimatstädtchen Pattensen im Angesicht eines derartigen dialektischen Dilemmas vielleicht ausrufen würde. Oder in den Worten Max Webers: „Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt dem Gesinnungsethiker nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so schuf.“

Wohlan also, wird sich da die gegenwärtige deutsche Chefdiplomatin Annalena Baerbock gedacht haben, als sie vor zwei Tagen während ihrer Zentralasienreise durch die kasachische Hauptstadt Astana kam und ihrem dortigen Kollegen Muchtar Tleuberdi Teile jener 300 EU-Milliarden aus der Initiative „Global Gateway“ in Aussicht stellte, mit der Brüssel und Berlin in den kommenden Jahren in die Infrastruktur verschiedenster Länder investieren möchten, um so Pekings Neuer Seidenstraße Konkurrenz zu machen. Warum nicht also auch in das rohstoffreiche Kasachstan investieren – solange es nur „fair, auf Augenhöhe, ohne Knebelkredite und ohne versteckte Agenda“ zugeht. Will heißen: Solange man beim Dealen reinen Herzens ist inmitten einer Welt, in der bösere Länder ihren Einfluss „mit militärischer Gewalt und durch wirtschaftliche Deals, hinter denen sich ein Netz von Abhängigkeiten verbirgt“, durchzusetzen versuchen. Ein Gedanke, der von Baerbock als unverhohlener Seitenhieb gegen Russland und China gedacht war – den beiden so Big wie leider auch Bad Playern in der begehrten Region um das Kaspische Meer. 

Miserable Menschenrechtslage

Doch was immer auch geschieht auf diesem sonst ja eher gottverlassenen Globus, eine Frau mit klarer Haltung – mithin eine Idealistin, die schnurstracks auf ihre höchsten Ziele zuläuft – watet stets trockenen Fußes durch jeden Schlamassel. Und der Schlamassel ist bei allen Reformbemühungen noch immer groß im fernen Kasachstan. Laut dem letzten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International etwa waren Versammlungs- und Meinungsfreiheit in dem 19-Millionen-Einwohnerland, das sich auf gewaltigen Flächen zwischen Russland und China erstreckt, stark eingeschränkt; und Folter und Misshandlungen waren trotz aller Bemühungen zum Besseren noch immer weit verbreitet. Journalisten und namhafte Oppositionelle sitzen in Haft, Kinderarbeit und die Misshandlung von Lesben und Schwulen sind an der Tagesordnung. 

Doch was soll es. Wenn es um das Höchste geht, dann fühlt sich der Gesinnungsethiker laut Max Weber letztlich nur dafür verantwortlich, dass „die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlöscht“. Auch Baerbock geht es in diesem Sinne ja nicht um die Asche – etwa die von Protestlern, die in diesem Jahr bei Demonstrationen gegen hohe Energiepreise getötet wurden –, es geht um das Weitertragen der Flamme: Frau – Leben – Freiheit! Das hat Baerbock in den zurückliegenden Monaten so oder ähnlich des Öfteren formuliert. So etwa auch während einer Rede vor dem Deutschen Bundestag, wo sie Anfang Juni erklärte, dass sie nicht zwischen Uiguren in China, Ukrainerinnen und verfolgten russischen Journalisten unterscheide: Deutschland übernehme Verantwortung „auf Basis von Werten und Entschlossenheit“.

Orientierungslose Werteorientierung

Eine sicherlich erstrebenswerte, wenn auch eben nicht ganz einfache Mission. Schließlich ist Europas Global Gateway ebenso schmal und verschlungen wie die Straße zum Guten. Da gibt es auch mal Fehltritte – man denke nur an den neuen Rüstungsdeal mit Saudi-Arabien oder an Habecks Gas-Suche in Katar. Und dennoch: Erst gestern wieder versuchte Annalena Baerbock die Fährte erneut aufzunehmen. Die Außenministerin nämlich war weitergereist zum südlichen kasachischen Nachbarn Usbekistan. Die selbe Region, eine recht vergleichbare Ausgangslage: Auch Usbekistan, das bevölkerungsreichste Land in Zentralasien, ist reich an Rohstoffen und seltenen Erden, die die deutsche Industrie seit den Sanktionen gegen Russland so dringend benötigt. Und ebenso wie Kasachstan ist das Land beileibe kein demokratischer Rechtsstaat, sondern noch immer autoritär regiert. Zwar macht das Usbekistan, das von 1991 bis 2016 mit harter Hand von Präsident Islam Karimow regiert wurde, kleine Öffnungsschritte, doch laut der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) ist es noch immer „eines der repressivsten Regime der Welt“. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in Usbekistan stark eingeschränkt, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten werden schikaniert, geschlagen und inhaftiert. Folter und andere Misshandlungen werden laut ECCHR in der Strafjustiz systematisch eingesetzt. Kinderarbeit ist trauriger Alltag.

Sollte die neue werteorientierte deutsche Außenpolitik also bereits wieder stark orientierungslos durch die Welt schlittern, kaum dass die Flugbereitschaft Russland umflogen und noch weit vor China notbetankt werden musste? Weit gefehlt! Denn ausgerechnet von Usbekistan aus schwang sich Annalena Baerbock jetzt zu jenen höchsten gesinnungsethischen Gipfeln auf, die Max Weber einst wohl den „kosmischethischen Realismus“ genannt hätte: In einer Welt tiefer werdender Gräben, so sagte Baerbock gestern in Taschkent, sei es „wichtig, dass wir enger zusammenrücken“. 

Mahnende Worte in Richtung Berlin

So weit, so richtig. Wer sich indes in dieses „zusammenrückende Wir“ inkludiert und wer sich eher ausgeschlossen fühlen darf, daraus machte sie kaum einen Gedanken später keinen Hehl. Mit Blick auf die bevorstehende China-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nämlich hob die deutsche Außenministerin ihren mahnenden Finger in Richtung Bundeskanzleramt und verkündete, „dass wir als Bundesregierung eine neue China-Strategie schreiben, weil das chinesische Politiksystem sich in den letzten Jahren massiv verändert hat und sich damit auch unsere China-Politik verändern muss“. Und als wäre das des verkrampften Schraubensaltos der erfahrenen Trampolinturnerin noch nicht genug, fügte sie noch hinzu, dass die Frage von Menschenrechten und die Frage der Anerkennung des internationalen Rechts unsere Grundlage der internationalen Kooperation sein müssten.

Um also nicht mit dem Teufel an einem Tisch Platz nehmen zu müssen – einem Teufel zudem, der laut Export-/Importbilanz des Statistischen Bundesamtes noch immer Deutschlands wichtigster Handelspartner ist –, begnügt sich die Außenministerin einer in eine Rezession abgleitenden Wirtschaftsnation mit den nicht weniger diabolischen Unterteufeln, nur um dann auf Grünen Parteitagen den Willen jenes Gottes zu verfluchen, der die Welt nun einmal so schuf, wie sie gottverdammtnochmal ist. Der Gesinnungsethiker aber, so schrieb schon Max Weber in „Politik als Beruf", erträgt diese ethische Irrationalität der Welt einfach nicht. In seinem Streben nach dem unbedingt Guten ist er radikal und gnadenlos. Und gerade das kann ihn am Ende, der Dialektik und den Göttern sei es geklagt, sogar ein Stück weit gefährlich machen.

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