Außenpolitik-Debatte in den USA - Warnungen vor einem Engagement in der Ukraine

Im US-Kongress gibt es eine parteiübergreifende Mehrheit für eine harte Haltung gegenüber Russland im Ukraine-Konflikt. Doch in den Medien mehren sich die Stimmen - von Linken, Rechten und Liberalen -, die eine diplomatische Lösung und amerikanische Zurückhaltung fordern. Dies wird Einfluss auf die Regierungspolitik haben, zumal es in der Öffentlichkeit keine Mehrheit für ein militärisches Eingreifen gibt.

Hat er auf einer Pressekonferenz die Wahrheit ausgeplaudert? US-Präsident Joe Biden / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Muss Präsident Putin nur ein wenig mehr Geduld aufbringen, um zumindest einen Teil seiner Ziele zu erreichen? Betrachtet man die Verlautbarungen der amerikanischen Regierung, scheint ihre Position klar: Die ersten russischen Militärmaßnahmen gegen die ukrainische Souveränität würden umgehende und harte politische und wirtschaftliche Sanktionen auslösen. Nur der amerikanische Präsident selbst ist da nicht immer an Bord, wenn er in einer Pressekonferenz darüber redet, dass begrenzte Aktionen seitens Russlands ja auch begrenzte Reaktionen des Westens auslösen würden. Da hat er einen (für einige seiner Mitarbeiter viel zu) tiefen Einblick in die Diskussionen seines Sicherheitsteams gewährt, das sofort zurückruderte. Jedes russische Vorgehen, egal wie begrenzt die militärischen Handlungen seien, würden als Invasion gewertet. Es scheint, dass die Position der Administration fest ist.

Ein Blick in die politische Klasse der USA zeigt ein anderes Bild. Zwar gibt es im Kongress eine breite überparteiliche Mehrheit dafür, der Ukraine vielgestaltige Unterstützung zu gewähren – nicht nur die verbalen Solidaritätsbekundungen, die in manchen Staaten für Politik gehalten werden, sondern auch handfeste materielle Unterstützung. Die Demokraten schlagen das vor; die Republikaner ergänzen dies mit eigenen Initiativen. Gemeinsam ist ihnen im Kongress, dass sie keinen Zweifel daran lassen, auf wessen Seite sie in der Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine stehen. Die Ministerien werden aufgefordert, die Hilfe an die Ukraine zu verstärken. Es ist (neben dem außenpolitischen Konsens gegenüber China) einer der seltenen Momente, in dem die beiden verfeindeten Parteien einig sind. Beide würden lieber heute als morgen die Pipeline Nord Stream 2 im Meer versenken (wenn sie dort nicht schon wäre). Also: am liebsten für immer abschalten.

Grenzen der außenpolitischen Handlungsfähigkeit

Die Diskussion in den Medien verläuft inzwischen deutlich differenzierter. Und zwar von links und rechts. Sie bewegt sich in eine ganz andere Richtung. Aus unterschiedlichen Gründen wird geschlussfolgert, dass die USA ihre internationale Stellung überzogen haben, nunmehr auf Russland Rücksicht nehmen müssten und am besten Präsident Putin zugestehen sollten, was er als drängendste Forderung erhebt: keine Erweiterung der Nato mehr.

Es wäre verwunderlich, wenn diese differenzierteren Positionen in den nächsten Wochen nicht stärker in die politische Debatte in Washington einfließen würden, weil die USA an die Grenzen ihrer – von dieser Administration als verantwortbar angesehenen – Handlungsfähigkeit gelangen und nach einem Ausweg suchen könnten. Vielleicht sind diese Diskussionen auch schon die ersten Testballons, die aus den Parteien und ihrem Umfeld lanciert werden, um zu sehen, wie die amerikanische Öffentlichkeit reagiert. Denn nicht immer ist ein Rückzug ein Vormarsch in die andere Richtung. Manchmal hat er mehr mit Flucht zu tun – wie beispielsweise am Ende des Einsatzes in Afghanistan. Beim Abzug konnte Präsident Biden, seinen Vorgänger mit hineinziehend, hoffen, das Ende mit Schrecken zu überstehen. Es hat ihn viel Zustimmung gekostet. Gegenüber Russland kann er es derzeit nicht, ohne dass seine Außenpolitik als grundlegend gescheitert angesehen würde. „Der nächste Jimmy Carter“, würde getitelt. Deshalb müsste eine Umkehr, so graduell sie sein mag, gut vorbereitet sein.

Hinzu kommt, dass in den USA alle politischen Kräfte schon mit beiden Augen den November fest im Blick haben, wenn in den Zwischenwahlen darüber entschieden wird, ob die Demokraten ihre sehr knappen Mehrheiten in Repräsentantenhaus und Senat verteidigen können. Oder ob es den Republikanern gelingt, die Präsidentschaft Bidens effektiv nach zwei Jahren zu beenden und ihm legislativ die Flügel zu stutzen. Die Wahlauseinandersetzung genießt bei allen Beteiligten die höchste Priorität. Präsident Biden muss auf den linken Flügel seiner Partei achten, ohne dessen Enthusiasmus die Wahlen nicht zu gewinnen sind. Und er muss gleichzeitig einkalkulieren, dass er Stimmen der trumpkritischen Republikaner erhält. Deshalb kann er die folgenden Positionen nicht einfach ignorieren.  

Auch die USA brechen internationales Recht

In der Zeitschrift Jacobin, in der die Linksaußen-Positionen in der Demokratischen Partei formuliert werden, führt Branco Marcetic aus, dass Russland defensiv handelt, wenn es sich gegen die Erweiterung der Nato bis an seine Grenzen wehrt. Wörtlich heißt es: „Man muss Putin nicht für einen Heiligen halten, um zu erkennen, dass die zweidimensionale Vorstellung westlicher Beobachter von ihm als intrigantem Superschurken sie blind macht für die Art und Weise, wie diese Sicherheitsbedenken in sein Handeln einfließen. Putins Krieg mit Georgien und die Annexion der Krim werden in den Vereinigten Staaten als Expansionismus wie bei Hitler interpretiert, aber sie waren zum großen Teil durch die Angst vor einer Nato-Erweiterung bis vor seine Haustür motiviert. Ähnlich verhält es sich mit diesem jüngsten Schritt, der eher als kühnes Verteidigungsmanöver zu interpretieren ist – was, wie diese früheren Kriege zeigen, die katastrophale Möglichkeit einer Invasion nicht ausschließt.“

Zwar würde Putin internationales Recht brechen, aber die USA täten dies doch auch – sogar viel intensiver. Vom Irakkrieg bis Guantanamo, von Sanktionen gegen den Iran bis zur Zerschlagung Libyens werden amerikanische Verfehlungen beschreiben. Das Fazit: „Der Punkt ist, dass Washington in diesem Jahrhundert nach objektiven Maßstäben zunehmend kriegerisch, unberechenbar und mit wenig Rücksicht auf die ,regelbasierte internationale Ordnung‘ gehandelt hat, die es aufrechtzuerhalten vorgibt, oft mit Unterstützung der Nato – was das Voranschreiten des Bündnisses nach Osten umso bedrohlicher macht.“ Russische Angriffe auf die USA, beispielsweise von Hackern gegen SolarWinds, seien Antworten auf amerikanische Aggressionen gegen Russland. „Tatsächlich sind Putins öffentlichkeitswirksame ,Provokationen‘ gegen Washington Reaktionen auf weit weniger öffentlichkeitswirksame Aktionen der USA und umgekehrt – Teil eines Schlagabtauschs zwischen zwei verfeindeten Mächten.“

Während Russland die Ukraine bedrohe, bedrohten die USA China (wegen Taiwan) und zusammen mit Israel den Iran. Und während Russland eine Einflusszone versagt bleiben solle, reklamierten die USA sie für sich. Hinzu komme, dass jeder Konflikt zwischen den USA und Russland drohe, in einen nuklearen Krieg zu eskalieren. „Das wäre in jedem Szenario ein unverantwortliches Spiel, aber besonders in diesem Zusammenhang. Putin handelt, wenn auch auf sehr illiberale Weise, um die Grenzen Russlands gegen eine für ihn äußerst plausible Bedrohung zu sichern; die Vereinigten Staaten sind nicht verpflichtet, die Ukraine zu verteidigen, ein Land, das 9000 Meilen entfernt ist und nicht zur Nato gehört; und es gibt keine Garantie dafür, dass eine Invasion auch nur besonders gut für Putin ausgehen würde, anstatt wie eines der vielen Schlamassel zu enden, in die sich die Vereinigten Staaten in den letzten zwei Jahrzehnten verstrickt haben. Ein Krieg um die Ukraine wäre einfach Wahnsinn.“ Soweit die linke Position.

Geopolitische Selbstüberschätzung

In der New York Times fragt Ross Douthat, der dort als konservativer Kommentator regelmäßig schreibt, wie sich die USA aus der Ukraine zurückziehen könnten. Wie Staaten erfolgreich den Rückzug antreten, sei eine der härtesten geopolitischen Herausforderungen. In Afghanistan habe Präsident Biden dies erledigt. Nun stehe dasselbe für die Ukraine an. In ihrer Phase als Hypermacht hätten die USA ihre Einflusszone bis nahe an Russland ausgedehnt. Für die osteuropäischen Nato-Staaten sei dies zu halten. Das Versprechen an die Ukraine sei aber eine „törichte Selbstüberschätzung“ gewesen. Russland sei ein Aggressor, und die Ukraine verdiene eine bessere Zukunft. „Aber in der Geopolitik sind gute Absichten immer den Realitäten der Macht unterlegen. Unabhängig von ihren oder unseren Wünschen war die Regierung in der Ukraine einfach nie in der Lage, sich dem Westen vollständig anzuschließen.“ Denn Russland war stets bereit, mehr Macht zu investieren. Außerdem müssten sich die USA auf China konzentrieren. Das Beste wäre, wenn es in Europa keinen Konflikt und keine Bedrohungen gäbe. Aber wenn Russland vorprescht, müssten die USA reagieren. Dafür würde gerade eine balancierte Antwort gesucht. Es sei eben nicht mehr so, dass die Nato alleine entscheiden könne, wer zum Bündnis gehört. Russland spreche mit. Die Zeit amerikanischer Hypermacht sei vorbei. „Als amerikanischer Bürger wäre ich erleichtert, wenn unsere Politiker dies anerkennen würden, anstatt die Vorstellung zu verbreiten, dass wir eines Tages vertraglich verpflichtet sein könnten, einen Atomkrieg wegen des Donbass zu riskieren.“

Nur eine Minderheit der Amerikaner für eine militärische Unterstützung der Ukraine

Ähnlich argumentierte der Liberale Peter Beinart, der – ebenfalls in der New York Times – forderte, die USA sollten sich nicht weiter selbst belügen. „Natürlich hat die Ukraine das Recht, eine unabhängige Außenpolitik zu betreiben. Aber Außenpolitik ist keine Übung in abstrakter Moral; es geht um Machtfragen. Und die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten haben nicht die Macht, Russland ein Mitspracherecht über die Zukunft der Ukraine zu verweigern.“

Nach einer Umfrage des Economist aus dem Dezember 2021 sprachen sich 34 Prozent der US-Bürger dafür aus, der Ukraine im Konflikt mit Russland aktiv zu Hilfe zu kommen. Das sind viel zu wenige, als dass Präsident Biden eine solide öffentliche Unterstützung darauf bauen könnte. In einer Umfrage von Morning Consult vom Dezember 2021 sprachen sich 17 Prozent der US-Bürger für eine militärische Unterstützung der Ukraine aus, 34 Prozent hingegen für eine diplomatische Lösung. Das Meinungsbild ist über die Parteien nicht ganz einheitlich, aber in allen Parteien ist nur eine kleine Minderheit für die militärische Unterstützung und jeweils die deutliche Mehrheit für Diplomatie. Präsident Biden, derzeit selbst in den Umfragen unter Druck, wird dies bei der Bewertung seines Handlungsspielraums berücksichtigen.

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