Aufregung um Orbáns Provokation - „Territoriale Forderungen sind absolut inakzeptabel“

Ungarns Präsident Viktor Orbán hat bei seinen Nachbarn für Aufregung gesorgt, weil er bei einem Fußballspiel einen Schal trug, auf dem die ungarische Nationalflagge die Umrisse des Landes in den Grenzen von 1919 zeigt. Steckt eine gezielte Botschaft dahinter?

Viktor Orbán mit dem Schal des Anstoßes: Vielleicht wäre er lieber König als Ministerpräsident? / Screenshot
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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War es eine gezielte Provokation? Gar ein Versuch, die weitgehend geschlossene Front der EU-Länder gegen Moskau zu sprengen? Oder war es nur ein für Fußballfans typisches Hantieren mit nationalen Symbolen? Eines ist sicher: Wieder einmal hat der ungarische Regierungschef Viktor Orbán für viel Aufregung bei den Nachbarn gesorgt, als er einen Clip von seinem Besuch bei einem Fußballspiel über Instagram verbreiten ließ. Er trägt in der kurzen Szene einen Fanschal, auf dem die ungarische Nationalflagge die Umrisse des Landes in den Grenzen von 1919 hat. Es umfasste damals Gebiete, die heute zu Österreich, der Slowakei, Kroatien, Serbien, Rumänien sowie der Ukraine gehören.

Besonders in Kiew war die Aufregung groß. Das ukrainische Außenministerium kündigte die Einbestellung des ungarischen Botschafters an. „Die Förderung revisionistischer Ideen in Ungarn entspricht nicht den Grundsätzen der Nachbarschaftspolitik in Europa“, hieß es in einer Erklärung des Ministeriums. Man erwarte eine Entschuldigung und überdies eine Erklärung, dass Ungarn keinerlei Ansprüche auf Teile des ukrainischen Staatsgebiets erhebe.

Auch aus mehreren EU-Ländern kam scharfe Kritik. Orbán wurde vorgeworfen, mit seinem Schal liege er auf der Linie der Kremlpropaganda, die den Spaltpilz in die Europäische Union bringen wolle. Seit längerer Zeit wird ihm vorgeworfen, als „Putinversteher“ die EU lähmen zu wollen. So hat er Hilfspakete für die angegriffene Ukraine abgelehnt, sich gegen Sanktionen gegen Russland ausgesprochen und überdies in Brüssel eine Ausnahmeregelung für das Rohstoffembargo erstritten.

„Ausdruck von Nostalgie“

Von russischen Politikern der zweiten Reihe kamen immer wieder Vorschläge über die Teilung der Ukraine: Der Westen solle wieder zu Polen kommen, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, während der Löwenanteil einschließlich der Hauptstadt Kiew und der Schwarzmeermetropole Odessa wieder dem Herrschaftsbereich Moskaus zugeschlagen werde, so wie es ja auch jahrhundertelang der Fall gewesen war.

In Österreich fand der Schal, auf dem ein Teil des Bundeslandes Burgenland rot-weiß-grün eingefärbt ist, ein politisches Echo. Es reichte von harschem Protest bei den Grünen bis zum Abwiegeln bei der konservativen Volkspartei, die traditionell wie die CSU in München gute Beziehungen zu Orbán pflegt. Der Schal sei Ausdruck von Nostalgie, einer Erinnerung an vergangene Größe, wie sie nun einmal in jeder Gesellschaft gepflegt werde, befanden Kommentatoren. In Wien fiel auch das Stichwort Trianon.
 

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Im Lustschloss Grand Trianon, erbaut auf Geheiß des Sonnenkönigs Ludwig XIV. im Park des gewaltigen Schlosses von Versailles, unterzeichnete eine ungarische Delegation 1920 unter Protest einen Vertrag über die künftigen Staatsgrenzen der Region. Zwei Jahre zuvor hatten sich die Ungarn von Österreich getrennt, somit war mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch der Untergang der k.u.k. Monarchie besiegelt. Das zweite K stand ja für das Königreich Ungarn, dessen Herrscher mit dem Titel „Apostolischer König“ in Personalunion zuletzt die Kaiser aus dem Hause Habsburg gewesen waren. Doch die Konferenz von Versailles hatte beschlossen, dieses Ungarn zu verkleinern. Denn dazu gehörten viele Gebiete, die die Habsburger erobert oder durch Eheschließungen erworben hatten, in denen aber ethnische Ungarn nur eine Minderheit bildeten.

Das Trauma von Bern

Die Grenzen, die im Vertrag von Trianon festgelegt wurden, entsprachen allerdings nicht genau diesen Vorgaben, viele Ungarn wurden nun nämlich gegen ihren Willen Bürger anderer Staaten. Das „Trauma von Trianon“ wurde ein beherrschendes Motiv der Politik Budapests in der Zwischenkriegszeit. Das Gefühl, in Versailles grob ungerecht behandelt worden zu sein, war auch einer der Gründe, warum die Ungarn an der Seite der Deutschen, des zweiten großen Verlierers von Versailles, in den Zweiten Weltkrieg zogen. Denn sie bekamen so einen Teil der verlorenen Gebiete zurück, vor allem auf Kosten Rumäniens, das den Nordteil Siebenbürgens abtreten musste. Bis heute lebt dort die größte ungarische Minderheit, ein Sprecher der rumänischen Regierung protestierte denn auch gegen die „revisionistische Manifestation“ Orbáns.

In Kiew erinnerte man nun daran, dass ungarische Truppen auch am Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 beteiligt waren. In Kiew wurde damals auch ein ungarisches Kontingent stationiert, zwei ungarische Armeemannschaften nahmen dort an der von den Deutschen organisierten Fußballstadtmeisterschaft 1942 teil.

Mit Fußball hat ein weiteres großes nationales Trauma der Ungarn zu tun: Die Niederlage gegen die „Helden von Bern“, nämlich die deutsche Elf um Fritz Walter, im Finale der Weltmeisterschaft 1954. Sie war ein schwerer Schlag nicht nur für die damals in Budapest regierenden Stalinisten, die die Überlegenheit des kommunistischen Systems auch auf dem Feld des Sports beweisen wollten, sondern auch für alle Gegner des Regimes, die sich von einem Sieg Schwung für ihren Kampf um die Unabhängigkeit erhofft hatten.

„Territoriale Forderungen sind absolut inakzeptabel“

Kommentatoren der hinter Orbán stehenden Medien in Budapest meinten denn auch, der Schal stehe schlicht für Tradition und Nostalgie. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass niemand in anderen Ländern sich aufrege, wenn bei Länderspielen auf Fanschals und auf Transparenten historische Konflikte thematisiert würden. In der Tat belustigen sich die deutschen Medien, wenn in Karikaturen der englischen Presse vor Länderspielen die DFB-Auswahl mit Stahlhelmen der Wehrmacht antritt und überdies Stukas oder V-1-Raketen durch die Luft fliegen. Allerdings hielten Vertreter der Opposition in Budapest derartigen Kommentaren entgegen, dass Orbán nun mal kein einfacher Fußballfan sei, sondern Regierungschef, der eine besondere Verantwortung für das Ansehen des Landes trage.

Mit Humor reagierte indes das österreichische Außenministerium in Wien. Man werde Budapest gern informieren, dass die auf dem Schal abgebildeten Grenzen schon seit mehr als 100 Jahren nicht mehr gelten, und gern mit aktuellem Kartenmaterial aushelfen. Geteilt waren die Reaktionen in Kroatien angesichts der Tatsache, dass das Ungarn auf dem Schal auch einen Teil der Adriaküste des Landes umfasst. Premierminister Andrej Plenković erklärte, er müsse jegliche territorialen Forderungen als „absolut inakzeptabel“ zurückweisen. Staatspräsident Zoran Milanović aber nahm es locker: Er gehe davon aus, dass Orbáns Absichten betreffend Kroatien sich einzig und allein darauf beschränkten, im Sommer einen Monat lang auf der Adria herumzukreuzen und dann in den Präsidentenpalast in Zagreb zum Abendessen eingeladen zu werden.

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