Asylpolitik in Großbritannien - Der schwere Weg nach Ruanda

Die britische Regierung will Flüchtlinge nach Ruanda bringen, wo deren Asylantrag bearbeitet werden soll. Doch zunächst muss der Widerstand des Obersten Gerichts überwunden werden.

Asylbewerber-Unterkunft in der ehemaligen Napiers-Kaserne in Kent / dpa
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Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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In London entscheidet sich die Zukunft eines politischen Projekts, das als Ruanda-Modell bekannt geworden ist und auch auf dem Kontinent immer mehr Anhänger findet. Es gilt als Ausweg aus dem Flüchtlingsdilemma. Die Idee ist simpel: Asylbewerber werden in Drittstaaten gebracht, wo ihr Antrag auf Asyl bearbeitet wird. 

Die Vorzüge des Plans: Er soll Menschen von der lebensgefährlichen Überfahrt abhalten, das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler zerstören, die europäischen Staaten entlasten, eine gesteuerte und geregelte Migration zugunsten der Schwächsten ermöglichen und gleichzeitig den Antragstellern ein faires Verfahren garantieren.

Den Anfang machte Großbritannien und unterschrieb im Frühjahr 2022 ein Abkommen mit Ruanda, Asylsuchende in den zentralafrikanischen Staat auszufliegen. Italien folgte im Herbst 2023 und verkündete eine Kooperation mit Albanien. In Deutschland nimmt die CDU das Modell in ihr neues Grundsatzprogramm auf, und selbst im Koalitionsvertrag der Ampelregierung ist die Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei der Abwicklung von Asylverfahren vorgesehen.

Die Regierung in London beobachtet seit Jahren eine rasante Zunahme von Flüchtlingen, die den Ärmelkanal in Schlauchbooten überqueren. Die Zahl war drastisch angestiegen, seit der Zugang zu den Fähren sowie den Lkws und Bahnen am Tunneleingang von Calais mit Stacheldrahtzäunen und Hundestaffeln des Grenzschutzes versperrt ist. Versuchten 2019 gerade einmal 299 Flüchtlinge die Überfahrt, waren es vier Jahre später 46.000. In diesem Jahr werden es voraussichtlich 30.000 Menschen sein, vor allem aus Afghanistan, Indien, Pakistan und Bangladesch. Großbritanniens Innenminister sprachen wiederholt von einer „Invasion“ und warnten, man müsse sich für einen „Hurrikan“ wappnen.

 

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Mittlerweile türmen sich 165.000 unbearbeitete Anträge. Die Unterbringung der Asylbewerber kostet den Steuerzahler acht Millionen Pfund täglich. Nur 2500 abgelehnte Antragsteller konnten 2022 abgeschoben werden. Viele der Heimatländer kooperieren nicht. Derweil ist der Ärger über illegale Migration so laut geworden, dass die Politik es mit unkonventionellen Ideen versucht. Beamte des Innenministeriums berieten über Wellenmaschinen und Jetski-Patrouillen, und Abgeordnete der Konservativen schlugen vor, Flüchtlinge in britische Überseegebiete im Südatlantik zu deportieren. Von der Insel Sankt Helena, Napoleons letztem Exil, war die Rede. Die Innenministerin forderte sogar, die Küstenwache solle die Boote stoppen und wieder aufs offene Meer zurückschleppen. 

„... ganz gleich, was es kostet“

Im April 2022 kam dann der Durchbruch, als die britische Regierung mit Ruandas Präsident Paul Kagame eine Vereinbarung unterzeichnete. Das Abkommen sah vor, Flüchtlinge aus Großbritannien in die ruandische Hauptstadt Kigali auszufliegen. Kagames Regierung ließ sich ihre Hilfsbereitschaft mit 290 Millionen Pfund honorieren – immerhin 2,3 Prozent des ruandischen Bruttoinlandsprodukts. Zusätzlich übernimmt der britische Steuerzahler noch die Ausgaben für jeden überstellten Flüchtling. Premierminister Boris Johnson war wild entschlossen, sich mit Kagame zu einigen, „ganz gleich, was es kostet“, schreibt Johnsons Biograf Sir Anthony Seldon. Als Rishi Sunak sich im Wettbewerb um die Nachfolge Johnsons die Unterstützung des rechten Parteiflügels sichern wollte, behielt er dessen Kurs bei und versicherte: Er wolle, dass „Flüchtlinge in Kigali ankommen, nicht in King‘s Cross,“ dem Bahnhof im Londoner Norden.

Inzwischen kämpft seine Regierung um ihren Ruanda-Deal vor Gericht. Im Juni erklärte das Appellationsgericht in London den Illegal Migration Act, die gesetzliche Grundlage für das Ruanda-Abkommen, für rechtswidrig. Ein Verdikt, das der Oberste Gerichtshof jetzt bestätigte mit der Begründung, Ruanda sei für Flüchtlinge kein sicheres Land. Es gebe Zweifel an der Fairness der Asylverfahren. Richter fürchten, aus Ruanda würden Bewerber in Länder abgeschoben, etwa nach Afghanistan und Syrien, wo ihnen Lebensgefahr drohe. Außerdem müsse Asylbewerbern der Rechtsweg offenstehen. Aber ein Berufungsverfahren gegen einen Asylbescheid habe es in Ruanda noch nie gegeben. Der kritische Fokus auf das ruandische Rechtssystem erklärt sich damit, dass die Briten – anders als etwa die italienische Regierung in Albanien – das Verfahren den örtlichen Behörden in Kigali überlassen wollen und Flüchtlingen unabhängig vom Ergebnis auch später die Rückreise nach Großbritannien verwehrt bliebe.

Lord Popat, der 1971 als Flüchtling aus Idi Amins Uganda nach Großbritannien kam und heute für die Konservativen dem Oberhaus angehört, kann die Kritik nicht verstehen. Der ehemalige Handelsbeauftragte der britischen Regierung in Ruanda ist überzeugt davon, dass der ruandische Staat die Rechte von Flüchtlingen garantiert und die Regierung in Kigali Europas humanitäre Werte teilt. Tatsächlich haben hunderttausende Vertriebene in dem Land einen Zufluchtsort gefunden, und das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen betreibt in der Hauptstadt Kigali seit 2019 ein Asylzentrum. 

Vorbehalte gegenüber Ruandas Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Auch der Oberste Gerichtshof konstatierte, dass das Land seit 1994 „große Fortschritte“ gemacht habe, als rund 500.000 Tutsi von der Volksgruppe der Hutus im größten Genozid der jüngeren Geschichte massakriert wurden. Doch dann zitieren die Richter Regierungsberichte von 2021 über „Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil, Todesfälle unter Häftlingen, das Verschwinden von Menschen und Folterung“. Pikanterweise stammen die Vorwürfe aus der Feder britischer Diplomaten. Auch die Wiederwahl von Präsident Paul Kagame mit knapp 99 Prozent der Stimmen dürfte die Vorbehalte gegenüber Ruandas Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genährt haben.

Das Thema Ruanda sei nun „wahrscheinlich tot“, urteilt Lord Sumption, der bis 2018 Großbritanniens Oberstem Gerichtshof angehörte. Vermutlich wäre die Sache anderswo an dem höchstrichterlichen Urteil gescheitert. Aber die Regierung in London hat viel politisches Kapital in das Projekt investiert und steht bei ihren Wählern im Wort, die Schlauchboote mit Flüchtlingen im Ärmelkanal zu stoppen. 

Um den richterlichen Widerstand zu überwinden, stellte Premierminister Sunak in den Wochen vor Weihnachten ein neues Gesetz vor, das Ruanda kategorisch zu einem sicheren Land erklärt. In dem Text heißt es: „Jeder Entscheider muss nun eindeutig die Republik Ruanda als sicheres Land behandeln.“ Mit Entscheidern sind auch britische Gerichte gemeint. Auch auf den britischen Menschenrechtskatalog von 1998 dürfen sich Richter nicht mehr berufen, wenn sie die Rechtsgültigkeit der Ruanda-Politik überprüfen. Das Menschenrechtskomitee des Parlaments war empört und klagte, die Vorgaben der Gesetzesvorlage „zersetzen die verfassungsmäßige Rolle der Justiz und gefährden  sowohl die Gewaltenteilung als auch die Rechtsstaatlichkeit“.

Streit innerhalb der Tory-Fraktion

Ist das neue Gesetz erst einmal vom Parlament beschlossen, werden laut Berechnungen des Innenministeriums 99,5 Prozent der Flüchtlinge vor britischen Gerichten ihre Abschiebung nach Ruanda nicht mehr anfechten können. Mehreren Gruppierungen am rechten Rand der Regierungsfraktion reicht das nicht aus. Unverhohlen drohen sie dem Regierungschef. Schließe der nicht jedes rechtliche Schlupfloch in dem Gesetzestext, würden sie in der dritten Lesung Anfang nächsten Jahres gegen die Vorlage der eigenen Regierung stimmen. 

Eine weitere Verschärfung der Regeln wollen die Moderaten in der Tory-Fraktion, immerhin rund 100 Abgeordnete, unbedingt verhindern. Sie fürchten um Großbritanniens internationale Reputation als Garant der Menschenrechte. Ihr Hausjurist Lord Garnier geißelte die Politik der Regierung zuletzt öffentlich: Wer per Gesetz Ruanda zum sicheren Land erkläre, spottete Garnier, könne ebenso gut per Mehrheitsbeschluss beschließen, dass „alle Hunde Katzen sind“. 

Beth Rigby, die für den Fernsehsender Sky aus Westminster berichtet, erinnert der Streit in der Regierungsfaktion an die bitteren Brexit-Debatten. Partei- und Regierungschef Sunak warnte deshalb eindringlich seine Abgeordneten, sie hätten „die Wahl zwischen Einigkeit oder dem sicheren Tod“ bei den nächsten Wahlen. Inzwischen hat Außenminister James Cleverly in Nachverhandlungen die Zusicherung von Präsident Kagame erhalten, dass Kigali Migranten mit negativem Asylbescheid nicht in ihre Heimat abschiebe, wenn ihnen dort Gefahr drohe. Zudem verständigten sich die Partner darauf, ein Komitee zur Kontrolle der Asylverfahren einzurichten und ein eigenes Berufungstribunal zu etablieren. Das Magazin The Economist kommentierte nicht ohne Ironie, dass es Cleverly gelungen sei, innerhalb von Tagen Probleme vermeintlich zu lösen, die nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes einen langfristigen Systemwandel erforderten.  

Ein unberechenbares Hindernis

Sollte es damit der Regierung in London gelingen, den Widerstand britischer Gerichte zu überwinden, bliebe noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein unberechenbares Hindernis für Sunaks Flüchtlingspolitik. Der versprach seinen Anhängern, dass er britische Politik nicht von einem ausländischen Gericht bestimmen lasse. Bereits im Juni 2022 hatte der Gerichtshof im letzten Moment den Start des ersten Fluges mit Flüchtlingen nach Kigali gestoppt. Um eine Wiederholung zu verhindern, empfehlen die Juristen der Parteirechten, die Europäische Konvention für Menschenrechte und den Straßburger Gerichtshof künftig nicht mehr anzuerkennen. Mehr als 70 Prozent der konservativen Parteimitglieder stimmen der Forderung zu. 

Sollte die Regierung sich dem Ruf anschließen, bliebe das nicht ohne Auswirkungen auf ihre internationalen Verpflichtungen und Verträge, wie etwa dem Karfreitags-Friedensabkommen für Nordirland. Darin verpflichtet sich das Vereinigte Königreich zur Einhaltung der europäischen Konvention für Menschenrechte. In Westminster wird nun ein Kompromiss gesucht. Demnach würde die Regierung in London nur die einstweiligen Anordnungen aus Straßburg ignorieren und dann mit der raschen Abschiebung Fakten schaffen, bevor ein abschließendes Urteil verkündet werde.

Ermutigt fühlt sich die Regierung darin, dass bisher kein Gericht das Prinzip in Frage gestellt hat, Flüchtlinge zur Bearbeitung ihrer Asylanträge in ein anderes Land zu bringen und auch dort zu belassen, wenn sie Asyl erhalten. Das Modell scheint derzeit vor allem an den Schwächen des ruandischen Rechtssystem zu scheitern, das europäischen Richtern als inadäquat und reformbedürftig gilt, erklärt der Rechtsprofessor und Anwalt Adam Wagner. Vorsichtshalber schaut sich Außenminister Cleverly deshalb schon mal nach Alternativen zu Ruanda um. Die Suche nach anderen Partnern ist schon deshalb ratsam, weil die Zustimmung der zweiten Parlamentskammer, des House of Lords, als unsicher gilt. Mit Änderungsanträgen könnte das Oberhaus die Beratungen bis zu Neuwahlen des Parlaments im nächsten Jahr hinauszögern.

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