Angela Ghayour im Porträt - Die Unerschrockene

Weil ihr als junger Afghanin einst die Teilnahme am Schulunterricht verwehrt wurde, gründete Angela Ghayour später die Herat Online School – und riskiert so ihr Leben.

Angela Ghayour / Foto: Andrea Artz
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Es war der 12. August 2021, der das Leben von Angela Ghayour erschütterte. An diesem Tag nahmen Taliban-Milizen ihre im Westen Afghanistans gelegene Heimatstadt Herat ein. All die in den zwei Jahrzehnten zuvor so hart erkämpften Fortschritte für Frauen waren plötzlich bedroht. Vor allem das Schicksal der Mädchen, die ihre Schule nicht länger besuchen durften, bewegte die inzwischen in England lebende ­Ghayour zutiefst. „Um der eigenen Ohnmacht zu entkommen, sah ich mich in diesem Moment gezwungen zu handeln.“ 

Ghayour wandte sich bei der Suche nach erfahrenen Lehrern auf Instagram an ihre Community. Der Hilferuf breitete sich rasend schnell aus, und Hunderte Freiwillige meldeten sich in wenigen Tagen bei ihr. Die Herat Online School für afghanische Mädchen war geboren. Über Telegram und Skype konnten seither 3300 Schülerinnen in 84 unterschiedlichen Fächern wie Mathematik, kreatives Schreiben und Englisch unterrichtet werden. „Es berührt mich jeden Tag, sehen zu können, mit welcher Leidenschaft die Mädchen an den digitalen Klassen teilnehmen“, erzählt Ghayour sichtlich stolz. Seit wenigen Monaten bietet die Herat Online School den Mädchen auch Präsenzunterricht in fünf versteckten Schulen in Afghanistan an.

Der Bürgerkrieg erschüttert ihre Kindheit

Für Ghayour ist es ein Herzensthema, denn als Kind musste sie die gleichen Erfahrungen erleiden. Als sie acht Jahre alt war, erschütterte der Bürgerkrieg Afghanistan. Um der Gewalt zu entkommen, floh ihre Familie 1992 in den Westen des Irans. Dem wissbegierigen Flüchtlingsmädchen sollte der Schulbesuch für die kommenden fünf Jahre verwehrt bleiben. „Wie eine Befreiung fühlte es sich damals an, als mein Vater die notwendigen Dokumente einreichen konnte und mich schließlich eine iranische Schule aufnahm“, sagt Ghayour.
 

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Doch Ghayour schmerzte es, dass dieses Grundrecht vielen afghanischen Flüchtlingen weiterhin vorenthalten blieb. Das 13-jährige Schulmädchen unterrichtete fortan jeden Abend 14 afghanische Flüchtlinge in ihrem kleinen Garten und brachte ihnen die Grundlagen des Lesens, Schreibens und der Mathematik bei. „In dieser Zeit habe ich entdeckt, was die wahre Berufung in meinem Leben ist“, erzählt sie. Nachdem die Taliban Jahre später von den USA und deren Verbündeten gestürzt wurden, kehrte Ghayour nach Afghanistan zurück und arbeitete als Lehrerin, bevor sie 2010 aus Angst vor islamistischen Attentaten mit ihren Kindern in die Niederlande und schließlich nach Großbritannien auswanderte.

Die Frau mit den kräftigen schwarzen Haaren wirkt im Gespräch unprätentiös, das Interesse an ihrer Person ist ihr sichtbar unangenehm. Im ersten Moment würde es einem nicht in den Sinn kommen, dass man es mit einem Menschen zu tun hat, der es 2021 auf die BBC-Liste der 100 einflussreichsten Frauen der Welt schaffte. Doch wenn Ghayour über ihre afghanischen Schülerinnen zu reden beginnt, ist dieser erste Eindruck vergessen. Dann strotzt sie vor Tatkraft und Leidenschaft. Und man versteht, warum ihre besten Freundinnen sie Gordafarid nennen, in Anlehnung an die mutige und unerschrockene Heldin im iranischen Nationalepos „Schahname“.

„Der Schmerz lässt mein Herz bluten“

Seit die Taliban wieder an der Macht sind, pflegen sie auf dem internationalen Parkett ein betont friedliches Image. Doch das für die Weltöffentlichkeit inszenierte Bild stünde im krassen Gegensatz zur täglichen Lebensrealität der Frauen in Afghanistan, sagt Ghayour. Frauen dürften nicht länger reisen und auf öffentliche Plätze gehen. Zwangsehen und Vergewaltigungen trieben viele Afghaninnen in den Suizid. Ghayour habe unzählige Nachrichten von verzweifelten Mädchen erhalten, die in ihrer Not nicht mehr weiterwussten. „Der Schmerz und die Hilflosigkeit vieler junger Afghaninnen lässt mein Herz bluten“, sagt sie.

Angela Ghayour zahlt einen hohen Preis für ihr Engagement. Fast wöchentlich sieht sie sich fern ihrer Heimat Morddrohungen durch die Taliban ausgesetzt. Aus Angst vor möglichen Angriffen gegen ihre Familie hält Angela Ghayour ihren Wohnort geheim. Die Gefahr ist sehr real, denn England ist ein zentraler Hotspot der islamistischen Szene in Europa. „Die Taliban möchten mich töten, doch das wird mich nicht davon abbringen, afghanische Mädchen weiterhin zu unterrichten“, sagt die dreifache Familienmutter.

Wie viele Afghanen fühlte sich auch Ghayour durch den Truppenabzug der USA 2021 verraten. Den Glauben an den Westen und die Vereinten Nationen hat die Frauenrechtsaktivistin längst verloren. Die Afghanen müssten ihr Schicksal nun selbst in die Hand nehmen, sagt sie. „Meine größte und einzige Hoffnung für Afghanistan liegt auf all den Mädchen, die mich mit ihrer Neugierde und Toleranz in unseren Unterrichtsstunden jeden Tag inspirieren.“ Ghayour ist überzeugt: Ihnen gehört die Zukunft des Landes – und nicht den Kämpfern der Taliban.

 

 

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