Streit der Großmächte - Kasachstan lässt Putin um sich werben

Auf seiner heutigen Auslandsreise nach Kasachstan versucht Putin, sein bröckelndes Imperium wieder in den Griff zu bekommen. Dem zentralasiatischen Land kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Allerdings spielen auch andere Großmächte mit.

Wladimir Putin und Kassim-Jomart Tokajew in Astana, 09.11.2023 / picture alliance
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Shantanu Patni studiert Osteuropa-Studien an der Freien Universität Berlin. 

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Russlands Machthaber Wladimir Putin hatte seit März dieses Jahres nur zwei Länder besucht, Kirgistan und China. Heute ist mit Kasachstan ein drittes hinzugekommen. Es sind sicher nicht zufällig Staaten, die das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichthofs (IStGH) nicht ratifiziert haben. Denn die Vertragsstaaten des IStGH sind seit März verpflichtet, Putin zu verhaften.

Die Beziehungen zwischen Russland und Kasachstan sind harmonisch. Sie beruhen auf gegenseitiger Wertschätzung ihrer historischen, kulturellen, geografischen und wirtschaftlichen Bindungen, die auf das Zarenreich und der Sowjetunion zurückgehen, zu denen auch Kasachstan gehörte. Allerdings handelt es sich um ein grundsätzlich asymmetrisches Verhältnis. Etwa fünfundneunzig Prozent aller Öl- und Gasexporte Kasachstans fließen durch russisches Territorium, achtzig Prozent davon durch die Rohre des Kaspischen Pipeline-Konsortiumn (engl. CPC), an dem Russland einen Anteil von einunddreißig Prozent hält. Für grundlegende Güter wie Lebensmittel und Kleidung ist die kasachische Wirtschaft auf Russland angewiesen. Mehr als vierzig Prozent des Marktbedarfs werden durch Importe aus Russland gedeckt, während ein Fünftel der Exporte auf Russland entfällt. Würde Russland die CPC abschalten, würde dies dem kasachischen Staat vierzig Prozent seiner Einnahmen entziehen.

Dennoch hat der Präsident Kassim-Jomart Tokajew sich getraut, nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Haltung zu zeigen. Auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg letztes Jahr widersprach er Putin öffentlich auf der Bühne und weigerte sich, den Einmarsch in die Ukraine zu billigen. Die kasachischen Behörden – die nicht dafür bekannt sind, politische Kundgebungen auf den Straßen zu tolerieren – ließen Demonstrationen zu, die Solidarität mit der Ukraine zeigten. Dazu gingen sie hart gegen explizite Zeichen der Unterstützung Russlands und seines Krieges vor, beispielsweise mit der Einführung von Geldstrafen gegen das Zeigen des „Z“-Symbol, das auf den Militärfahrzeugen Russlands in der Ukraine prangt.

Der große Bruder eilt zu Hilfe

Gerade einen Monat vor dem Beginn der russischen Invasion sah die Situation zwischen den beiden Ländern ganz anders aus. Anfang 2022 wurde Kasachstan durch gewaltsame Proteste erschüttert. Auslöser war eine Ölpreiserhöhung. Ausgehend vom Westen des Landes verbreiteten sich die Proteste schnell über das ganze Land. Es ging nicht mehr nur um die Ölpreise, sondern Forderungen zum Regime-Wechsel wurden laut. Mehr als 200 Menschen kamen ums Leben, knapp 10 000 wurden verhaftet.

Präsident Tokajew sah sich gezwungen, externe Hilfe anzufordern, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS, engl. CSTO), ein von Russland geführtes postsowjetisches Militärbündnis, marschierte auf Tokajews Einladung ins Land ein. Einen solchen Einsatz hatte das Militärbündnis noch nie ausgeführt. Innerhalb von zwei Wochen nach dem Eintreffen im Gastland waren die Truppen wieder weg. Die Operation wurde erfolgreich abgeschlossen ohne Zwischenfälle. Zu dieser Zeit zog man noch den Schluss, Russland habe seinen Status als „älterer Bruder“ und regionale Großmacht zementiert.

Die außenpolitische Doktrin Kasachstans

Angesichts dieser vorangegangenen Ereignisse war Kasachstans distanzierte Haltung zum Ukrainekrieg umso bemerkenswerter. In der Tat verfolgt Kasachstan seit seiner Unabhängigkeit 1991 eine Außenpolitik, die auf Pragmatismus und Gleichgewicht ausgerichtet ist. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde vom damaligen Außenminister und heutigen Präsidenten Tokajew die Doktrin des „Multivektorismus“ entworfen, um dieser Flexibilität und Offenheit einen offiziellen Ausdruck zu verleihen.

Die Doktrin des „Multivektorismus“ besteht darin, freundschaftliche Beziehungen mit allen Staaten zu pflegen, ohne einen Partner gegenüber dem anderen zu bevorzugen. Es ging darum, die Unabhängigkeit Kasachstans zu behaupten und der Hegemonie Russlands entgegenzuwirken. In der Praxis diente diese seltsame Wortschöpfung aber dazu, von der Tatsache abzulenken, dass am Ende des Tages, Russland eben doch eine zwangsläufig privilegierte Stellung im außenpolitischen Gefüge Kasachstans einnehmen muss.

Die Ankunft des Drachens

Als Gründungmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion und der obengenannten OVKS (engl. CSTO), zählt Kasachstan neben Belarus zu den engsten Verbündeten Russlands. Das Land ist bei allen post-sowjetischen Initiativen Russlands mitgegangen. Jedoch hat sich im Laufe der Zeit die regionale Machtbalance allmählich zugunsten Chinas verschoben. Das „Neue-Seidenstraße“-Projekt der von Xi Jinping geführten chinesischen Regierung wurde nicht bei einem Forum der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ, engl. SCO) verkündet, sondern in der kasachischen Hauptstadt Astana.

 

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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die daraus resultierende Isolierung Russlands wirkten wie einen Katalysator für das Wiederaufflammen des „Multivektorismus“. Unter den veränderten Umständen zeigte Kasachstan ein neues Maß an geopolitischer Autonomie und strategischer Unabhängigkeit. Bei einem Besuch in Astana im September letzten Jahres, betätigte der chinesische Staatschef Xi Jinping eine Aussage, die dem Kreml keinen Interpretationsraum zuließ. „Unabhängig davon, wie sich die internationale Lage entwickelt ...“, so Jinping, „wird China Kasachstan bei der Verteidigung seiner Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität weiterhin unterstützen (…) und sich der Einmischung jeglicher Kräfte in die inneren Angelegenheiten des Landes widersetzen“.

Von allen Seiten umworben

All das bedeutet allerdings nicht, dass Kasachstan im Begriff sei, sich von Russland abzuwenden. Noch im Monat nach dem Kriegsbeginn hatte Tokajew betont, dass „es zwischen unseren Ländern keine andere Beziehung als Freundschaft und Zusammenarbeit geben kann“. Das Land wird nach wie vor ein Verbündeter Russlands sein, aber seine Beziehungen mit anderen Machtzentren vertiefen, auch wenn dies im konkreten Fall gegen die Wünsche des Kremls sein sollte.

Zentralasien im Allgemeinen, aber Kasachstan im Besonderen, ist erneut zu einem geopolitischen Schauplatz des Großmachtkampfes geworden. Das Land wird von allen Seiten umworben. Kasachstan ist nicht nur wichtiger Lieferant fossiler Energieträger (siebzig Prozent seiner Ölexporte gehen in die EU), sondern auch der größte Uranproduzent der Welt. Nach Angaben der Europäischen Atomgemeinschaft entfielen im Jahr 2022 knapp siebenundzwanzig Prozent der Uraneinfuhren der EU auf Kasachstan. Neben Uran produziert Kasachstan sechzehn von dreißig der Seltenen Erden, die für die EU wichtig sind, und deckt siebzig Prozent der europäischen Phosphornachfrage ab.

Wichtiger Energielieferant

In jüngster Zeit zeigten EU-Spitzenpolitiker großes Interesse an Kasachstan. Gerade vor einer Woche war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Astana. Nach dem Putsch in Niger (auch eine wichtige Uranquelle) hat sich seine Sorge um die Energiesicherheit verschärft. Unter anderem ließ sich Macron von Tokajew versichern, dass Kasachstan seine Rohölexporte nach Frankreich steigern wolle. Im Oktober war EU-Ratspräsident Charles Michel dort. Ein zweites Treffen ist für Juni 2024 geplant. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission Josep Borrell war bereits im November letzten Jahres da.

Deutschlands Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier war im Juni in Kasachstan. Kanzler Olaf Scholz traf alle fünf zentralasiatischen Regierungschef Ende September in Berlin. In der gemeinsamen Erklärung würde das Ziel vorgelegt, „die Energiesicherheit zu stärken und alternative Energieversorgungsrouten zu schaffen“. Zu beachten ist hier der sogenannte „Mittlere Korridor“, ein Transportweg, der über das Kaspische Meer, Aserbaidschan, Georgien und Türkei nach Europa führt. Damit wird russisches Territorium gänzlich umgangen und eine Alternative zu der Seidenstraße-Initiative der chinesischen Regierung geschaffen. Die über den Mittleren Korridor beförderte Fracht erreichte Anfang 2023 eine Million Tonnen, was einem Anstieg von vierundsechzig Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr entspricht.

All das zeigt: Ein Zurück zu einer exklusiven Beziehung zu Moskau wird es für Kasachstan nicht geben. Putin wird klar sein, er muss um Kasachstan konkurrieren. Das gilt allerdings auch für die EU. Und ebenso für China und die Türkei.

 

 

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