Boris Johnson
Boris Johnson gegen das Parlament / picture alliance

Brexitkrise in Großbritannien - Untergang im Unterhaus

Die Brexitkrise in Großbritannien erreicht einen kritischen Punkt. Boris Johnson will den Brexit am 31. Oktober durchziehen – koste es, was es wolle. Das britische Parlament möchte ihn davon abhalten. Die konservative Partei droht dabei auseinanderzubrechen

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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In einem düsteren Konferenzraum im Keller von Downing Street sitzt Stephen Barclay auf einem mit dunkelbraunem Leder bezogenen Bürostuhl und erklärt die deprimierende Lage: „Entweder die EU hat Appetit auf kreative Lösungen – dann bringen wir detaillierte Vorschläge – oder sie bleibt unverändert bei ihrem absolutistischen Ansatz.“ Damit meint der britische Brexitminister den Standpunkt der EU, den bereits ausverhandelten Scheidungsvertrag mit Großbritannien nicht mehr aufschnüren zu wollen. In diesem Fall, sagt Barclay, „müssen wir unsere Planung für einen Austritt ohne Abkommen mit Turboaufladung betreiben.“

Im britischen Regierungssitz herrscht Bunkerstimmung. Nicht nur die EU wird als Gegner gesehen. Man verbarrikadiert sich hinter der kleinen schwarzen Tür auch vor den Demonstranten, die jetzt jeden Tag ihre blau-gelben Europafahnen schwingen und „Stoppt den Staatsstreich“ skandieren. Als Feinde gelten inzwischen sogar schon die eigenen Abgeordneten. Seit Boris Johnson Queen Elizabeth II. gebeten hat, das Parlament ab spätestens 12. September für fünf Wochen zu suspendieren, versinkt die britische Politik in einer konstitutionellen Krise. Dabei hat Großbritannien nicht einmal eine geschriebene Verfassung.

Austritt erst 2020?

Sollte die EU Neuverhandlungen ablehnen, will Boris Johnson Großbritannien in das sogenannte „No-Deal“-Szenario führen. Den Austritt der Briten ohne Abkommen hält nicht nur die EU für schädlich – für alle Beteiligten. Auch die Mehrheit der britischen Parlamentarier versucht, ihren neuen Premierminister davon abzuhalten. An diesem Dienstag wollen sie im Parlament ein Gesetz verabschieden, das genau das verhindern will. Boris Johnson soll mit dieser parteiübergreifenden Initiative gezwungen werden, statt „No Deal“ etwas ganz anderes zu veranlassen: Er müsste in Brüssel eine Verschiebung des Brexit um drei Monate beantragen. Das neue Brexitdatum wäre dann der 31. Januar 2020.

Der neue Regierungschef tritt nun die Flucht nach vorne an. Am Montagabend trat er nach einer überraschend einberufenen Kabinettssitzung vor die Presse: „Ich werde unter keinen Umständen die Verschiebung des Brexit in Brüssel beantragen“, stellte er klar. Er halte die Chancen für einen neuen Deal für immer besser. Deshalb rief er dazu auf: „Lasst die Verhandler ihre Arbeit tun!“

Es geht um die britische Wirtschaft

Um die Ernsthaftigkeit seiner Position zu unterstreichen, hatte sein Brexitminister am Montag einige europäische Korrespondenten, darunter Cicero, zum Gespräch geladen. Zwar fährt Stephen Barclay selbst diese Woche gar nicht nach Brüssel. Wie innerhalb einiger weniger Wochen das 578 Seiten starke Vertragswerk noch einmal auf- und zugeschnürt werden soll, deutet Barclay nebulos an. Als Chefverhandler aber dient sowieso ein anderer, der Johnson-Vertraute David Frost. Dieser soll beim Besuch in Brüssel ausloten, ob die EU den „Backstop“, die Notfallslösung für Nordirland, doch noch zu streichen bereit ist. Denn nur das, sagt Barclay, steht für die Regierung Johnson zur Debatte: „Wir wollen mit einem Deal austreten. Und wir werden am 31. Oktober austreten. Das beste wäre ein Deal, in dem der Backstop nicht mehr vorkommt.“

EU-Chefverhandler Michel Barnier hat dieses Ansinnen allerdings bereits mehrfach und unmissverständlich abgelehnt. Angela Merkel und Emmanuel Macron, die beiden wichtigsten Staatschefs der Europäischen Union, ebenso. Der „Backstop“ bedeutet aus Sicht der EU die Sicherung des Friedens in Nordirland, weil er die Grenze zwischen Nordirland und Irland offenhält. Die Befürworter eines harten Brexit aber sehen in ihm eine Fessel: Um die Grenze offenzuhalten, müssen Nordirland und der Rest des Königreichs sich auch weiterhin an die Regeln der EU-Zollunion und des EU-Binnenmarktes halten. Dann kann das Vereinigte Königreich auch in Zukunft keine unabhängige Handelspolitik entwickeln. 

Johnson droht mit Parteirauswurf

Wie es aussieht, dürfte auch Boris Johnson mit stürmischem Aktivismus, Charme und Drohungen den gordischen Brexit-Knoten nicht so einfach durchschlagen können. Zwischen Downing Street und dem Parlament eilten am Montag aufgescheuchte konservative Parlamentarier und Minister hin- und her. Es sah aus, als liefen sie der sich stets beschleunigenden Politik ihres Regierungschefs hinterher.  

Denn inzwischen hat Boris Johnson den konservativen Rebellen im Unterhaus sogar damit gedroht, sie aus der Partei zu werfen, sollten sie mit der Opposition für eine Verschiebung des Brexit stimmen. „Ich hoffe, wir finden andere Maßnahmen, als gute Konservative aus der Partei auszuschließen“, meint der konservative Abgeordnete Charles Walker mit gepresster Stimme. 

Geht es dem Premier darum, wiedergewählt zu werden?

Die altehrwürdige Tory-Partei wirkt bereits zu Beginn dieses politischen Tauziehens arg zerzaust.„Mobbing und Bestechung sind die Methoden, wie „No Deal“ durchgesetzt werden soll“, wundert sich der liberale Abgeordnete Tom Brake, Brexitsprecher der Liberaldemokraten: „Es ist schockierend, in welchem Zustand unsere Demokratie ist. Eine Farce, dass man behauptete, beim Brexit ginge es um die Souveräntität des britischen Parlaments und jetzt lässt der Premierminister das Herzstück der britischen Demokratie suspendieren!“

Geht es Boris Johnson dabei noch um die EU, den Brexit und die Zukunft des Landes oder nur noch darum, die nächsten Wahlen zu gewinnen? Dem Vernehmen nach will der Tory-Chef diese schon in den nächsten Tagen ausrufen. Um Neuwahlen zu beschließen, braucht Boris Johnson eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und damit die Zustimmung Jeremy Corbyns. Derzeit führen die Konservativen trotz ihrer katastrophalen Lage in einer Umfrage des Instituts „YouGov“ mit 33 zu 22 Prozent der Stimmen vor der Labour-Party. Corbyns Stern ist wegen seiner unklaren Brexithaltung und Vorwürfen, Antisemitismus in der Labour-Partei zu tolerieren, im Sinken. Deshalb könnte Corbyn vor Neuwahlen zurückschrecken. Ein Oppositionsführer, der keine Neuwahlen will? Auch das wäre ein aus dem Brexitchaos geborenes Paradoxon.

Neuwahlen als Schreckgepenst

Stimmt Corbyn doch zu, wie er am Montag angedeutete, könnten Neuwahlen schon am 14. Oktober stattfinden. Premierminister Johnson setzt darauf, dass er in seinem polarisierten und radikalisierten Land mit einer harten Position eine Mehrheit erringen kann. Wie weit nach rechts in die harte Brexitecke er seine Konservativen gezogen hat, zeigt das Schicksal von Philip Hammond. Vor zwei Monaten war der bedachte Konservative noch Finanzminister von Theresa May. Weil er für einen geordneten Austritt aus der EU ist, droht ihm jetzt der Ausschluss aus der Partei. 

Wenn moderate Tories aus dem Weg geräumt werden, kann Johnson glaubhaft demonstrieren, dass er ein härterer „Brexiteer“ ist als der Erfinder der Austrittsbewegung, der Chef der Brexit-Party Nigel Farage. Das, so hofft Johnson, werden die Wähler belohnen.

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Dorothee Sehrt-Irrek | Di., 3. September 2019 - 12:05

dass sie scheiterten, führe ich auf Leute wie Herrn Johnson zurück, Herr Rees-Mogg hat sich wohl nicht getraut.
Dann muss er sich nicht über die Reaktionen auf Johnsons politisches "Niveau" wundern.
Die Konservativen hatten eine May...., ach was sie haben eine Theresa May.
Ich verglich sie einmal mit Elizabeth der I., um die Kluft zum jetzigen Adel zu verdeutlichen.
Sie wird keine Spaltung der Konservativen hinnehmen, wenn das zu nichts führt.
Sie ist ergebnisoffen, aber politisch nicht """hinterhältig""".
Das nenne ich politische Kultur auf höchstem Niveau und auf der Höhe der Zeit.
Sie ist mächtig, auch ohne Amt.
Das könnte auch auf Frau von der Leyen zutreffen und die hat eins.
Es gibt also Perspektiven?
Labour hat jetzt eine große Chance, historisch die Weichen für England in Zusammenarbeit auch mit der EU zu stellen.
Komplexe politische Zusammenhänge sind nicht gerade leicht.
Aber komplexe politische Persönlichkeiten sehe ich dem Ganzen eher gewachsen.

So, wie der Brexit im Augenblick in Britannien diskutiert wird, geht es nur noch in zweiter Linie um den Austritt des zerstrittenen Königreichs aus der EU. Viel wichtiger ist es Boris Johnson, sich in den Geschichtsbüchern zu verewigen - im Jargon der Brexiteers ausgedrückt als der herorische PM, der das ewige Empire aus der europäischen Versklavung befreit hat. Man darf sich erinnern: Der zu Pomp und Pathos neigende, machthungrige Johnson hatte vorsorglich zwei Erklärungen vorbereitet: Eine für den Austritt, eine gegen den Austritt Britanniens. Für Johnson war der Brexit nicht mehr als ein Instrument, in die Regierung zu gelangen, falls notwendig auch mit unsauberen Mitteln, wie im Referendum. Auf dieses verweisen Europa-Hasser gerne in der Auseinandersetzung. Aber wie viele Briten haben dafür gestimmt, ohne Deal auszutreten, wieviele der Austrittswilligen setzten einen klugen Deal voraus? Offensichtlich hat sich das Referendum selbst als untauglich erwiesen und nur Chaos erzeugt.

das Chaos und die tendenzielle Fragwürdigkeit des ersten Referendums, - ich bin auch da ganz und gar gespalten in meiner Beurteilung - das sich auch bei einem neuerlichen Referendum ergeben könnte, umgehen?
Andererseits sollte Frau von der Leyen ein Procedere in Zusammerarbeit mit allen Mitgliedstaaten entwickeln, das dieses furchtbare Hin- und her des Brexit für die Zukunft ausschliesst/abmildert.
Weder glaube ich, dass die EU im Falle Englands das letzte Gefecht austrägt, noch dass ihr das teils verständliche Gerangel zum Nachteil gereicht, eben weil es evtl. keine Vorlage gibt.
Ein Lernprozess für alle Beteiligte, wie ich ja auch die Griechenlandverhandlungen sah.
Die EU sollte aber ein Interesse haben, England so nah wie möglich bei sich zu halten.
Es ist einfach zum Weinen, wenn sie gehen.

möchte ich mich weniger äußern.
Ich bevorzuge Politik, was wohl keine Beschreibungen wie die von Hugh Grant evozieren würde.
Mit Churchill hat Herr Johnson hoffentlich überhaupt nichts gemeinsam.
Darf man den Briten etwas von aussen sagen?
Ich denke doch, man darf es ihnen nur nicht vorschreiben.
Wem eigentlich?
Sicher greifen Menschen leicht zu ideologischen Versatzstücken, wenn sie sich nicht ein Lebtag lang in der Politik zuhause fühlen durften, was ich eben, Herr Lenz, für den Osten veranschlage.
Das Erwachen des politischen Subjekts aus der Unterdrückung ist nicht ohne Gefahrnisse, die Reaktion darauf kann aber nicht nur pädagogischer Natur oder politische Kampfformation sein.
Man schaue sich das englische Unterhaus an.
Diese Kraft wehrt jeden Ansatz zu paternalistischem oder autoritärem Gebaren ab.
Eine tägliche Gratwanderung, das macht Politik so spannend.

Tomas Poth | Di., 3. September 2019 - 12:14

erreicht ihren KLÄRENDEN Punkt!!!
Das bisherige "Gehampel" wird entweder im No-Deal-Brexit enden oder in Neuwahlen!
Hinausschieben ist lähmendes WeiterSo. Irgendwann muss man springen, um die Kräfte auf das kommende Neue zu fokussieren.
Nordirland kann man ja auch als "Wirtschafts-Sonderzone" im Übergang behandeln, bis sich alles zurecht geruckelt hat.

RMPetersen | Di., 3. September 2019 - 12:30

Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, als sich der EU in Bezug auf "Backstop" zu unterwerfen oder aber ungeregelt auszutreten, gibt es nur letzteres.

Die Parlamentarier haben drei Mal den von May ausgehandelten Entwurf abgelehnt - wegen des Backstop-Paragraphen, der Nordirland praktisch aus der britischen Souveränität in die Hände der EU übergeben würde. Dass dies inakzeptabel ist für die Briten, ist verständlich.

Dass die EU-Unterhändler hoch gepokert haben und mit beiden angestrebten Zielen scheitern (- a. Brexit rückgängig machen , oder b. wenigstens in Bezug auf Nordirland sich durchsetzen), ist offensichtlich.

Das EU-Kalkül, mit dem "Backstop" die Hürde so hoch zu schrauben, dass die britischen Bürger mit grosser Mehrheit zu einer nochmaligen Abstimmung drängen und dann "Remain" gewinnt, ist fehlgeschlagen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass mit Blick auf die EU-Politik der letzten drei Jahre die Zahl der "Remainer" zugenommen hat.

Klaus Funke | Di., 3. September 2019 - 13:32

Ich bin dagegen, den Boris Johnson jetzt wie Donald Trump zu behandeln. Egal, was er sagt, egal, was er tut, es wird drauf gehauen. Die deutschen Medien (natürlich auch die britischen) vom linksgrünen Besserwisserduktus durchsetzt, geben doofe Ratschläge. Ob das britische Volk auch so denkt? Ja, soll Johnson es wahr machen und Neuwahlen ansetzen. Da wird es sich zeigen. Corbyn rutscht ins Nirwana und die Anti-Brexitirs auch. Das britische Parlament hat sich als Bremse erwiesen. Läuft da was mit der EU? Ich halte dafür, sich nicht einzumischen, neutral zu bleiben und die Briten machen zu lassen. So oder so wird geschehen, was geschehen soll. Hoffentlich folgen noch andere Nationen dem britischen Beispiel. Die EU ist eine Fessel für Europa, ein Paradies für Bürokraten, Lobbyisten und Abzocker. Was dieser Kropf die Völker schon gekostet hat. Und was ist herausgekommen? Fast nichts, was nicht auch ohne EU möglich wäre. Also Boris, nimm den Hammer und setz dich durch!

Ernst-Günther Konrad | Di., 3. September 2019 - 21:07

Antwort auf von Klaus Funke

Sie haben alles richtige und wichtige gesagt. Hoffentlich ist bald der Tag des Austritts da. Man kann das nicht mehr hören und lesen.

Petra Horn | Mi., 4. September 2019 - 15:31

Antwort auf von Klaus Funke

und ich wundere mich immer, warum die Journalisten sich nicht schämen, immer im Gleichklang zu tönen. Völlig argumentationsresistent. Man ist verblendet im Größenwahn der medialen Hegemonie.
Wenn sich irgendwo ein Riß auftut, gibt es nur eine Reaktion: Immer weiter draufhauen. Da kommen wohl die niederen Instinkte derer zum Vorschein, die sonst immer sich selber auf die Schulter klopfend gegen Intoleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wettern.
Kubicki hat doch jetzt klar gesagt, wie er und seine Kollegen es handhaben: Denunzieren statt Argumentieren. Von Kipping über Stegner und Kahrs bis Söder waren alle beim selben radikalen Politcoach. Der hat denen gesagt: "Haut drauf!" und sich heimlich die Hände gerieben. Und die AfD wurde immer stärker!

Tom Bast | Mi., 4. September 2019 - 08:46

Johnson wird im Zweifelsfall Neuwahlen ansetzen und diese Wahlen gewinnen. Der Mann ist nicht so blöd wie deutsche Medien denken und macht alles richtig.

Christoph Kuhlmann | Mi., 4. September 2019 - 10:37

Das Gesetz zum Verbot eines No-Deal-Brexit hat eine deutliche Mehrheit bekommen und im Spiegel wird darüber spekuliert, ob es etwa im Oberhaus durch Verfahrenstricks aufgehalten werden kann. Doch dann kann es keine Neuwahlen geben, weil Corbyn die Verabschiedung des Gesetzes zur Voraussetzung für Labours Zustimmung zu Neuwahlen macht. May oder Johnson, die britische Demokratie paralysiert sich selbst. Es ist kein Ende des Dramas in Sicht.