Wirtschaftskrise - Die europäische Krankheit

Durch multiples Organversagen in Gesellschaft und Politik verkümmert gerade die Wirtschaft. Doch statt das Problem anzupacken, konzentriert man sich lieber auf den Klimawandel. Dabei gibt es Maßnahmen, die schnell greifen würden.

Robert Habeck, Olaf Scholz und Friedrich Merz / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

So erreichen Sie Thomas Mayer:

Anzeige

Als „holländische Krankheit“ wird die Verkümmerung der Industrie durch einen übermächtigen Rohstoffsektor bezeichnet, wozu es in den Niederlanden in den 1960er Jahren nach der Entdeckung von Erdgasvorkommen kam. Im Vergleich dazu erscheint die gegenwärtige „europäische Krankheit“ komplexer.

Die Verkümmerung der Wirtschaft entsteht durch multiples Organversagen in Gesellschaft und Politik, äußert sich in einer wohlstandsverzehrenden Produktivitätsschwäche und hat die Länder Europas mit unterschiedlicher Schärfe erfasst. Ein neuer Wettbewerb um den Titel des „kranken Mannes in Europa“ ist im Gange. An der Spitze liegt gegenwärtig Deutschland als „neuer kranker Mann“. Ihm zur Seite steht Italien als der „chronisch kranke Mann“ und Frankreich als der „heimliche Kranke“, der seine Schwäche mit Aplomb überspielt (siehe die Inszenierung der olympischen Spiele 2024 im Großformat).

Vergleich mit den USA

Als das Magazin The Economist Deutschland im Jahr 1999 zum „kranken Mann des Euros“ ausrief, kristallisierte sich die Krankheit in hoher Arbeitslosigkeit. Diese wird heute durch den demografisch bedingten Arbeitskräftemangel niedrig gehalten. Jetzt äußert sich die Krankheit im Rückgang der Produktivität. Beginnen wir also mit dem Krankheitsbefund, indem wir die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, aus der Wohlstand wächst, in den drei großen Ländern der Eurozone, Deutschland, Frankreich und Italien, mit der Entwicklung in den USA vergleichen. 

In den USA dürfte die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität (reales Bruttoinlandsprodukt pro Beschäftigten) nach Berechnungen und Schätzungen des Industrieländerclubs OECD seit dem vierten Quartal 2019 – also vor dem Beginn der Pandemie – bis Ende dieses Jahres um 3,8 Prozent gestiegen sein. Dagegen ist sie in Deutschland und Frankreich um geschätzte 1,0 und 2,7 Prozent gesunken.

Im Vergleich zu 2010 liegt die Arbeitsproduktivität in den USA, Deutschland und Frankreich dieses Jahr um rund elf, fünf und drei Prozent höher. Italien fällt etwas aus diesem Rahmen. Dort ist die Produktivität zwar seit Ende 2019 um geschätzte 1,3 Prozent gestiegen, liegt aber immer noch um 0,8 Prozent unter ihrem Niveau von 2010. Italien ist eben der chronisch kranke Mann Europas.

Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit

Wenn die Produktivität sinkt, gibt es weniger zu verteilen. Folglich sind in den europäischen Ländern die realen Löhne (also die Nominallöhne nach Abzug der Konsumentenpreisinflation) seit 2019 gefallen – und zwar in Deutschland bis 2022 um rund drei, in Frankreich um 0,8 und in Italien um 3,3 Prozent. Dagegen sind sie in den USA um 5,9 Prozent gestiegen. Und wenn die Lohnkosten (zu denen auch die Lohnnebenkosten gehören) schneller steigen als die Produktivität (oder weniger fallen als diese), steigen die Lohnstückkosten. Bei gleichbleibenden Wechselkursen folgt daraus ein Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit.
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Seit Ende 2019 sind die Lohnstückkosten in Deutschland um (bis Ende dieses Jahres geschätzte) 18,4 Prozent gestiegen, deutlich mehr als in Frankreich (16,8 Prozent), Italien (13,2 Prozent) und den USA (16,3 Prozent). Zumindest innerhalb des Euroraums, wo es keine ausgleichenden Wechselkursbewegungen geben kann, hat Deutschland erheblich an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Und das nicht nur seit der Pandemie: Seit 2010 sind die Lohnstückkosten in Deutschland um 15 Prozent mehr als in Italien und um 17 Prozent mehr als in Frankreich gestiegen.

Produktivität, Reallöhne oder Lohnstückkosten

Mit ökonomischen Konzepten wie Produktivität, Reallöhnen oder Lohnstückkosten kann die Öffentlichkeit wenig anfangen. Spannender ist für sie die konjunkturelle Entwicklung. Deshalb haben erst die jüngsten Hiobsbotschaften deutscher Konjunkturindikatoren – wie dem Einkaufsmanagerindex oder dem Ifo-Geschäftsklima vom Juli – und der Rezessionsprognose des Internationalen Währungsfonds vom 25. Juli die Wahrnehmung Deutschlands als neuem kranken Mann Europas befördert.

Während die globale Schwäche der Industrie die deutsche Wirtschaft belastet, profitieren die Mittelmeerländer Frankreich und Italien von der nachpandemischen Reiselust. Folglich können sie der Rezession entkommen. Ihre strukturelle Schwäche ist längst bekannt (Italien) oder wird in der Wahrnehmung durch die vorübergehend robustere Konjunktur verdrängt (Frankreich).

Innovationen und Investitionen

Was könnten nun die Ursachen für die europäische Krankheit sein? Produktivität und Wohlstand wachsen durch Innovationen und Investitionen. Dazu braucht es Erfindergeist und unternehmerische Initiative, die sich in Erweiterungsinvestitionen niederschlagen. Leider mangelt es Europa an beiden. Stattdessen ist in der Europäischen Union ein übermächtiger Staat entstanden, der mit einem europäisch, national und regional verzahnten Bürokratiemonster seine Bürger gängelt und mit einer hohen Steuerlast unternehmerische Initiative erstickt.

Da der Staat mit zunehmender Regulierungswut und Bürokratie immer weniger zu leisten vermag, liegen die öffentliche Infrastruktur, das staatliche Bildungswesen, und die Fähigkeit zur militärischen Verteidigung am Boden. Eine ideologiegetriebene Energiepolitik insbesondere in Deutschland treibt die Industrie aus dem Land, während die freizügige Einwanderung gering qualifizierter Menschen Sozialsystem und Gesellschaft überfordert.

Indem er die Produktivität mit seiner Fettleibigkeit niederdrückt, sägt der Staat an dem Ast, auf dem er sitzt.
Die Alterung der Gesellschaft wirkt für die europäische Krankheit dabei wie ein Brandbeschleuniger. In Deutschland wird die Erwerbsbevölkerung nach Projektionen der Vereinten Nationen und Weltbank im Verlauf dieses Jahrzehnts um 3,8 Millionen fallen. Dagegen wird die Zahl der über Vierundsechzigjährigen um 3,7 Millionen wachsen.

Dadurch steigt die Belastung der Erwerbsfähigen für die Versorgung der Alten. Konnten sich 2020 noch 27 Erwerbsfähige die Sorge für 10 Rentner teilen, werden es Ende dieses Jahrzehnts nur noch 21 sein. Damit sie nicht noch mehr belastet werden, müsste die Arbeitsproduktivität im Jahr 2030 um 29 Prozent höher liegen als 2020. Der Trend geht aber nach unten: Die Arbeitsproduktivität ist in den vergangenen sechs Jahren um beinahe zwei Prozent gefallen. Den Erwerbsfähigen droht Überforderung, den Alten Verarmung.

Konzentration auf Klimapolitik

Man sollte meinen, dass die europäische Krankheit mit Deutschland als dem Spitzenreiter bei uns das Top Thema in der Öffentlichkeit und Politik wäre. Dem ist nicht so. Meinungsmacher und Politiker konzentrieren sich auf den Klimawandel, den sie mal als „Klimakrise“, mal als „Klimakatastrophe“ dramatisieren. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die sich meist nur mit einem zentralen Thema länger beschäftigen kann, wurde von den Aktivisten der Klimapolitik gekapert.

In der Wechselwirkung zwischen den sich gleichermaßen auf eine politisierte Wissenschaft berufenden Klimaaktivisten und Politkern entstand eine Erzählung der Klimaapokalypse, die alle anderen Probleme übertrumpfte. Denn was gilt schon der durch eine mutwillig herbeigeführte Deindustrialisierung ausgelöste wirtschaftliche Abstieg, wenn bald der „Klima-Tod“ droht? Die Mehrheit der Bevölkerung leidet dadurch unter „kognitiver Dissonanz“, da die Wahrnehmung der sie unmittelbar betreffenden Probleme von dem durch Politik und Medien vermittelten Problem gravierend abweicht. Die Folge davon sind Politikverdrossenheit und die Zuflucht zu „Protestparteien“

Neuordnung der Migrationspolitik

Es wäre höchste Zeit, eine neue „Agenda 2030“ zur Steigerung der Produktivität auszurufen. Viele der dringenden Maßnahmen – wie die Erneuerung der bröckelnden öffentlichen Infrastruktur, die Reform des Bildungswesens, oder die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit – brauchen Zeit, bis sie wirken. Aber es gibt auch Maßnahmen, die schnell umgesetzt werden könnten und schnell wirken würden, die sprichwörtlichen „niedrig hängenden Früchte“.

Dazu gehören Deregulierung und Bürokratieabbau, Neuordnung der Migrationspolitik, oder eine Steuerreform mit Vereinfachung des Steuersystems und Entlastung der Leistungsträger. Doch politischer Handlungszwang zur Umsetzung dieser Maßnahmen würde sich nur durch eine breite, auf die Produktivitätsschwäche und ihre Gründe fokussierte öffentliche Debatte ergeben. 

Das müsste eigentlich die CDU/CSU als größte Oppositionspartei in die Hand nehmen. Mit ihrem neuen Generalsekretär Carsten Linnemann hätte die Partei auch einen Politiker, der eine solche Debatte vorantreiben könnte. Doch solange die CDU innerlich zerstritten ist, weil sie sich nicht von der Erblast Angela Merkels lösen kann, bleibt sie Teil des Problems, statt zum Antreiber für dessen Lösung zu werden.
 

Anzeige