Wirecard-Skandal - „Mich überrascht in diesem Bereich leider gar nichts mehr“

Im Wirecard-Skandal um fehlende 2 Milliarden Euro haben offenbar alle versagt: Aufsichtsräte, Wirtschaftsprüfer und Behörden. Im „Cicero“-Interview fordert der Grünen-Europaparlamentarier Sven Giegold, die Regeln für Wirtschaftsprüfer zu verschärfen. Auch die wirtschaftlichen Verstrickungen konservativer Parteien seien ein Problem.

Firmenzentrale von Wirecard in Aschheim Dornach / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

So erreichen Sie Bastian Brauns:

Anzeige

Sven Giegold ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2009 Abgeordneter im Europäischen Parlament für die Grünen. Dort ist er Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung.

Herr Giegold, zwei Milliarden Euro sind bei dem Finanzdienstleister Wirecard offenbar einfach verschwunden. Was haben wir uns eigentlich unter diesem Unternehmen vorzustellen?
Wirecard ist ein globaler Anbieter von Zahlungsverkehrsdienstleistungen im Bereich neuer Finanzsysteme. Es ist einer ganz großen Player im Bereich der sogenannten FinTech-Unternehmen. Das ist auch der Grund, weshalb Wirecard insgesamt nicht unter Finanzaufsicht steht. Das Unternehmen ist kein klassischer Finanzmarktakteur, wie etwa eine Bank, ein Investmentfonds oder eine Versicherung. Lediglich die Tochter Wirecard Bank AG, die aber nicht Kern des Wirecard-Geschäfts ist, wird von der BaFin beaufsichtigt. Nicht jeder, der eine Finanzdienstleistung erbringt, ist also aufsichtspflichtig. Der Wirecard-Fall zeigt, dass es ab einer bestimmten Größe im Finanzsystem notwendig ist, dass jeder Akteur einen Aufseher hat.

Immer mehr Zahlungsverkehr findet bargeldlos über das Internet statt. Wohl jeder, der hier Produkte kauft oder verkauft, hatte bewusst oder unbewusst mit Wirecard zu tun. Neben vielen mittelständischen Unternehmen, ist Wirecard Dienstleister auch für Apple, Google oder Alibaba. Wie groß wäre der Schaden für uns alle, wenn Wirecard nun ins Schlingern gerät?
Wir haben Insolvenzsysteme, die dafür sorgen, dass auch wenn ein Unternehmen in massive Schieflage gerät, nicht gleich die Welt zusammenbricht. Hier geht es ja nicht um Kreditketten wie bei Banken. Wegen Wirecard werden nicht morgen das Finanzsystem zusammenbrechen oder Kunden nicht mehr im Internet shoppen können. Was der Skandal allerdings bedeutet, ist ein Vertrauensverlust in die Bilanzen deutscher Unternehmen. Das gab es noch nie: Ein Viertel des Bilanzvolumens eines Großunternehmens ist verschwunden. Das muss uns umtreiben.

Man könnte auf die Idee kommen zu fragen, wozu es überhaupt Aufsichtsräte gibt. Wer trägt denn, nach dem was bislang bekannt ist, die Verantwortung für diesen Skandal?
Natürlich werfen die Vorgänge ein schlechtes Licht auf alle Beteiligten. Mit einiger Sicherheit kann man sagen, dass weder Aufsichtsrat, Wirtschaftsprüfer noch Aufsicht genug getan haben, um die Probleme aufzudecken. Wer letztlich die Hauptverantwortung trägt, wird sich aber erst zeigen, wenn mehr Details bekannt werden.

Schon seit Jahren wurde immer wieder auf die möglicherweise dubiosen Bilanzen von Wirecard hingewiesen. Oft wurden diese Hinweise als bloße Gerüchte abgetan.
Mit ihren Recherchen warnt die Financial Times systematisch seit zwei Jahren vor Unregelmäßigkeiten in den Bilanzen von Wirecard. Und genau das ist nun eingetreten. Die BaFin als deutscher Finanzaufseher hat sich in den vergangenen Monaten aber vor allem damit beschäftigt, den Journalisten juristisch zu verfolgen, der diese Serie „House of Wirecard“ aufgeschrieben hat, statt ihrer Arbeit wirklich nachzugehen und die Hinweise zu prüfen.

Sven Giegold, Grünen-Abgeordneter
im Europaparlament, / dpa

Auch wenn die BaFin gar nicht aufsichtsfähig ist für diese Art von Finanzdienstleister?
Man hätte die Möglichkeit indirekt gehabt, denn auch andere Finanzdienstleister nutzen ja die Dienstleistungen von Wirecard. Ein Aufseher der will, der kann auch. Für mich bestätigt sich hier aber wiederholt ein Bild der BaFin, dass diese Behörde zwar beim Maximieren von Bürokratie sehr aktiv ist. Wenn es aber wirklich irgendwo brennt, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Diese Probleme mit der BaFin kennen wir seit langem auch aus dem Bereich des Verbraucherschutzes, der Finanzkriminalität oder Bankenpleiten. Große Finanzskandale, und der Fall Wirecard ist wieder einer, hat die BaFin bislang nicht proaktiv verhindert, sondern stets nur reagiert, wenn es schon aufgedckt war. Man macht um die großen Probleme bei Geldwäsche, Finanzmarktstabilität und Verbraucherschutz einen großen Bogen.

Wie könnte die BaFin dazu gebracht werden, genau das zu tun? Wollen Sie deren Aufgabenbereich massiv erweitern?
Zunächst einmal gilt es sicherzustellen, dass vorhandene Aufsichtsbefugnisse auch voll genutzt werden. Im Fall Wirecard darf bezweifelt werden, dass die BaFin diese wirklich ausgeschöpft hat. Zuletzt gab es dort ja wohl auch Überlegungen, den Gesamtkonzern unter Aufsicht zu stellen – leider viel zu spät. Unabhängig davon müssen wir aber natürlich auch überprüfen, ob Aufsichtsbefugnisse ausgeweitet oder neue Aufsichtsstrukturen geschaffen werden müssen.

Die Vertreter von Aktiengesellschaften beklagen immer wieder zu bürokratische Regulierungen, insbesondere für junge Unternehmen. Zeigt der Fall Wirecard nicht auch, dass große Innovation eben auch nur ohne große Hürden entstehen können?
Im Fall Wirecard steht ja eben gerade in Frage, wie groß die Innovation wirklich ist. Schließlich bedeuten die fehlenden 1,9 Milliarden Euro womöglich, dass das vermeintliche Auslandsgeschäftsmodell gar nicht in der behaupteten Form existierte, sondern auch auf Betrug basierte. Insofern bin ich skeptisch, dass sich der Fall Wirecard als gutes Beispiel für Ihre These eignet. Natürlich sollte kluge Regulierung Innovation nicht ausbremsen, sondern sie fördern. Wir Grüne legen deshalb immer großen Wert darauf, dass Regeln dem Prinzip der Proportionalität folgen. Kleine, innovative Firmen bekommen so mehr Beinfreiheit. Das bedeutet aber auch, dass große Unternehmen, von denen erhebliche Risiken ausgehen, streng reguliert werden müssen.

Unternehmen wie Wirecard müssen sich auch der Beurteilung von Wirtschaftsprüfern stellen. Sie sagen, diese Form der Kontrolle reicht nicht. Warum?
Weltweit besteht ein Oligopol aus den sogenannten „Big Four“ KPMG, Deloitte, EY (Ernst & Young) und PricewaterhouseCoopers (PwC). Diese Wirtschaftsprüfungsunternehmen teilen sich die großen Mandate auf. Die Auswahl, wer dieser vier ein bestimmtes Unternehmen prüft, trifft das zu prüfende Unternehmen aber selbst. Die Wirtschaftsprüfer haben also rein strukturell wenig Anreiz, zu streng zu sein. Obwohl bei den Big Four wirklich sehr fähige Leute arbeiten, wird deren Brillanz also gar nicht ausreichend genutzt. Ein Top-Mandat will man natürlich behalten. Gleichzeitig bieten dieselben Wirtschaftsprüfer auch noch Beratungsdienstleistungen an. Das ist letztlich so, als würde ein Schüler sich den eigenen Lehrer aussuchen und ihn dafür bezahlen, die Noten zu verteilen.

Wie sollten diese Strukturen Ihrer Ansicht nach verändert werden?
Es ist wichtig, dass solche Testate unabhängig und mit der notwendigen Stringenz zustande kommen. Deshalb fordern mein liberaler Kollege Luis Garicano (Renew Europe) und ich, dass die Europäische Union die Wirtschaftsprüferrichtlinie neu aufmachen soll, um das zu tun, was auch nach dem großen Enron-Skandal eben nicht passiert ist: Dass nicht mehr die Unternehmen selbst bestimmen können, wer ihre Bilanzen prüft, sondern dass dies etwa durch eine gemeinwirtschaftlich orientierte Stiftung geschieht. Also weder der Staat noch ein privater Akteur, sondern eine Einrichtung, die nur der Richtigkeit der Bilanzen verpflichtet ist und nicht gleichzeitig andere Interessen verfolgt.

Wie wollen Sie das erreichen?
Zunächst werden wir darauf hinwirken, dass im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europaparlaments (ECON) eine Anhörung zum Wirecard-Skandal stattfindet. Dabei sollten möglichst auch die Journalisten zu Wort kommen, die den Fall seit Jahren kritisch verfolgen. Außerdem werden wir zusammen mit den Liberalen die EU-Kommission auffordern, Anpassungen der Wirtschaftsprüferrichtlinie vorzuschlagen, um die bestehenden Fehlanreize endlich besser in den Griff zu bekommen.
 
Erwarten Sie im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft hierzu auch einen Vorstoß der Bundeskanzlerin?
Das Problem muss auf europäischer Ebene angegangen werden, und damit liegt der Spielball erst einmal bei der EU-Kommission. Natürlich erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie im Rahmen der Ratspräsidentschaft den Reformprozess unterstützt. Da Wirecard ein deutsches Unternehmen ist, stünde ihr alles andere auch schlecht zu Gesicht.

Ex-CEO Markus Braun,
frei auf Kaution / dpa

Der lobbyistische Druck der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften dagegen dürfte enorm sein. Wer sind Ihrem Eindruck nach die wirtschaftlichen und wer die politischen Bremser solcher Reformbestrebungen?
Der Lobby-Druck war bereits bei der letzten Überarbeitung der Wirtschaftsprüferrichtlinie im Jahr 2014 immens. Viele der heute diskutierten Vorschläge lagen bereits damals auf dem Tisch, wurden aber von den Interessenvertretern erfolgreich abgewendet. Ich erwarte deshalb, dass auch bei einem erneuten Reform-Anlauf der Widerstand wieder enorm sein wird. Natürlich sträuben sich die Prüfungsgesellschaften selbst dagegen, ihr profitables Geschäftsmodell ändern zu müssen. Dabei bin ich überzeugt, dass sie selbst davon profitieren würden.

Wie überrascht sind Sie, wenn Sie lesen, dass der jetzt zurückgetretene langjährige Wirecard-CEO Markus Braun 70.000 Euro an die ÖVP gespendet hat und er außerdem Mitglied eines Thinktanks des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz ist?
Mich überrascht in diesem Bereich leider gar nichts mehr. Dass die konservativen Parteien in allen Ländern Europas intensive Wirtschaftskontakte pflegen und dabei auch Parteispenden eine Rolle spielen, ist hinlänglich bekannt. Das Ausmaß dieser Verflechtungen in Deutschland zeigte sich ja gerade wieder in der Causa Amthor. Parteispenden müssen konsequent in der Höhe gedeckelt werden – schon aus Respekt vor dem Prinzip „eine Person - eine Stimme“.

Das Gespräch führte Bastian Brauns, Ressortleiter Wirtschaft bei Cicero.

Anzeige