Wasserstoff - Molekül der Hoffnung

Die Bundesregierung will nun einsteigen in das Rennen um das Öl der Zukunft. Tatsächlich könnte Wasserstoff der fehlende Baustein einer nachhaltigen Energiewende sein. Dazu muss aber politisch noch viel größer gedacht und gehandelt werden.

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Ist Wasserstoff der Energielieferant der Zukunft? / picture alliance
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Timm Koch ist Autor und Fotograf. Er schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen. Foto: Dirk Göttsche

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Dürreperioden und Temperaturanstieg, Extremwetterlagen und Umweltkatastrophen. Feinstaub, Luftbelastung und Raubbau in den Regenwäldern, Waldsterben in Deutschland. So lauten die täglich immer düsterer wirkenden Nachrichten zu den Auswirkungen des Klimawandels. Hinzu kommen Meldungen vom wirtschaftlichen Abschwung, von Handelskonflikten und Verteilungskämpfen, von schwelenden geopolitischen Krisenherden wie im Nahen Osten ganz zu schweigen. Droht etwa die Lage im Südchinesischen Meer zu eskalieren oder kommt es in der Straße von Hormus, Hauptschlagader und Nadelöhr der Erdölversorgung, zum Krieg und damit zum ökonomischen Weltinfarkt? Die Dystopien derzeit scheinen unermesslich.

Allem Anschein nach bedarf es angesichts all dieser Szenarien drastischer Lösungen – von Ausmaßen allerdings, die sich nicht nur wirtschaftlich und ökologisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich verträglich weltweit niederschlagen.

Unsere an Utopien arme Zeit

Doch die Zeit, in der noch positive Zukunftsvisionen gesponnen wurden, scheint lange vorbei. Thomas Morus’ „Utopia“ von 1516 etwa war so ein prägendes Werk. Oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Theorien der Frühsozialisten wie Charles Fourier, Henri de Saint-Simon oder Robert Owen. Sie alle ersannen ideale Welten und harmonisches Zusammenleben.

Am Ende aber scheiterten die theoretischen Gesellschaftsspiele ganz praktisch, ob im Sozialismus, Kommunismus oder gänzlich pervertierten Formen. Nicht ganz zufällig handelte Thomas Morus’ Werk von einer Insel – Utopias Glückseligkeit war abgeschnitten von der Außenwelt. Folglich beschreibt der Begriff Utopie seither nicht nur rein Positives, sondern zugleich auch auf ewig Unerreichbares.

Inmitten unserer an Utopien scheinbar so armen Zeit aber gibt es die Aussicht auf eine positive und tatsächlich sogar umsetzbare Wende. Sie findet sich nicht in der Literatur und nicht in den Theorien der Sozialwissenschaften, sondern in einem simplen Element: dem Wasserstoff.

Batterien sind nicht die Lösung

H2 – die ökonomische und ökologische Hoffnung? Danach zumindest klingen viele der immer häufiger zu lesenden Berichte. Zuverlässig, so die angepriesene Idealvorstellung, soll Wasserstoff uns quasi unbegrenzt mit Energie versorgen, ohne dabei das Klima zu belasten. Denn bei der Verbrennung von Wasserstoff – der Oxidation – entsteht schließlich nichts anderes als reines Wasser. H2 könnte zudem der nach wie vor fehlende entscheidende Baustein einer nachhaltigen ökologischen Energiewende sein. Denn zwar fangen Solarmodule Sonnenenergie und Windräder die Energie bewegter Luft ein und wandeln sie in elektrischen Strom um. Ein Problem aber bleibt bislang: diese Energie zu speichern und transportfähig zu machen.

Batterien leisten dies. Doch die haben ein hohes Gewicht, nehmen viel Platz weg, sind sehr energieintensiv in ihrer Herstellung, bestehen aus seltenen, teuren Rohstoffen, funktionieren bei Kälte ebenso schlecht wie bei extremer Hitze und sind zudem, einmal in Brand gesetzt, sehr schwer zu löschen. Mit Batterietechnologie werden wir, mit anderen Worten, niemals in der Lage sein, die Sonne unserer Wüsten zu „ernten“, um damit ernsthaft und nachhaltig unser Energieproblem zu lösen.

So funktioniert die Elektrolyse

Tatsächlich sieht das bei Wasserstoff ganz anders aus. Leitet man elektrischen Strom in Wasser, so spaltet er das Wassermolekül (H2O) in Wasserstoff und Sauerstoff. Man spricht hier von einer Elektrolyse. Wasserstoff lässt sich mit der heute schon vorhandenen Technik beliebig lagern, transportieren und bei Bedarf rückverstromen oder verbrennen.

Glaubt man den Wissenschaftsutopisten, ist die Menschheit auf dem Weg in eine Wasserstoffgesellschaft. Aber wie sauber und vielfältig ist das als Öl der Zukunft angepriesene Element wirklich? Wie fortgeschritten sind die Wasserstoffinnovationen der Unternehmen? Und warum spielt die H2-Technologie bislang kaum eine Rolle bei politischen Entscheidungen und in den öffentlichen Debatten?

Wasserstoff ist ein farbloses Gas. Dennoch kann er „grau“ oder „grün“ sein. Grüner Wasserstoff wird per Elektrolyse aus erneuerbaren Energien, also praktisch klimaneutral, gewonnen. Grauer Wasserstoff hingegen stammt aus der Kohle-, Erdöl- oder Erdgasreformation. Bei seiner Produktion entsteht also CO2, wodurch grauer Wasserstoff zu den Klimakillern gerechnet werden muss. Auch H2, per Elektrolyse aus Atomstrom hergestellt, wird dem grauen Wasserstoff zugerechnet.

Es geht um Macht

Laut einer Studie des Mineralölkonzerns Shell von 2017 besteht die weltweite Wasserstoff-Jahresproduktion von circa 55 Milliarden Kubikmetern zu mehr als 95 Prozent aus grauem Wasserstoff. Der Großteil hiervon landet mittels Ammoniaksynthese im Kunstdünger, was den klimatechnischen Widersinn des Anbaus von Energiepflanzen erst recht deutlich macht.

Wenn es also nur grünen Wasserstoff bräuchte, um mit ihm Autos zu fahren und bald sogar fliegen zu lassen, Häuser zu heizen und Raketen ins Weltall zu schießen; wenn die Technik schon so weit fortgeschritten und erprobt ist, wie behauptet wird, und wenn er das ideale Speichermedium für erneuerbare Energien darstellt; warum ist der Durchbruch nicht längst da? Warum setzen wir derzeit vor allem auf Akku-betriebene Elektroautos als umweltschädliche und oft auch unpraktische Placebo-Lösung?

Die Antwort ist simpel. Das Geschäft mit den Kohlenwasserstoffen ist über anderthalb Jahrhunderte lang äußerst lukrativ gewesen. Auf diese Weise sind Machtstrukturen gewachsen, die alles Mögliche zum Ziel haben, aber nicht die – am besten noch dezentrale – Herstellung von ausgerechnet grünem Wasserstoff. Projekte wie das energetische Nachbarschaftsviertel auf einem aufgegebenen Fliegerhorst bei Oldenburg dürften nicht nur Shell und Exxon ein Dorn im Auge sein. Hier speisen Häuslebauer ihren überschüssigen Solarstrom nicht für kleines Geld ins – an Sonnentagen ohnehin schon überlastete – Netz, sondern erzeugen damit Wasserstoff für die Rückverstromung, sei es im Brennstoffzellenauto oder einfach nur für den häuslichen Gebrauch.

Kohle bleibt Wirtschaftsfaktor

Insbesondere Staaten wie Russland oder Saudi-Arabien, deren Volkswirtschaften nahezu komplett auf der Ausbeutung fossiler Energiequellen basieren, haben kaum Interesse an einer elementaren H2-Wende. Und auch in Deutschland stellen sich Fragen: Was macht der Fiskus, wenn die heiße Quelle der Mineralölsteuer versiegt? Ähnliches gilt für eine geplante CO2-Steuer. Sobald derlei Steuermittel fließen, wecken sie Begehrlichkeiten, die dem eigentlichen Ziel einer CO2-Reduktion entgegenlaufen können. Fängt der Staat an, mit CO2-Ausstoß Geld zu verdienen, wird er es auch weiter einnehmen wollen.

Mitten im Pazifik war man indes schon sehr viel weiter. So hatte Japans Regierungschef Shinzo Abe vor dem G-20-Gipfel in Osaka im Juni dieses Jahres verlauten lassen, sein Land wolle eine Vorreiterrolle auf dem Weg in die globale „Wasserstoffgesellschaft“ spielen. Der japanische Autobauer Toyota will seine Jahresproduktion von Brennstoffzellenautos in einem ersten Schritt auf 30 000 Stück erhöhen. Das Tankstellennetz für H2 soll ausgebaut werden. Der Weg in die Zukunft soll nicht zuletzt an einer Abhängigkeit von China vorbeiführen. Schließlich haben die Chinesen den Zugriff auf die zur Batterieherstellung nötigen Rohstoffe.

Aber da hört Japans Engagement für den Klimaschutz auch schon bald auf. „Wir müssen weiter und immer weiter zu bahnbrechenden Erfindungen anregen, bevor es zu spät ist, um den Klimawandel zu bekämpfen“, hatte Abe noch beim Weltwirtschaftsforum in Davos getönt. Tatsächlich aber setzt Japan auf grauen Wasserstoff, der per Reformation ausgerechnet aus australischer Braunkohle gewonnen werden soll. Die scheinheilige Begründung hinter dieser Strategie: Man wolle einen Bedarf erzeugen, der irgendwann automatisch zu grünem Wasserstoff führen soll. Wie passend, dass Abe auf dem G-20-Gruppenfoto dann auch direkt neben dem saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman zu sehen ist, der unlängst in seiner türkischen Botschaft den Journalisten Kashoggi bestialisch hat ermorden lassen. Als Nächsten in der Reihe erblickt man den öffentlichen Klimawandelleugner Donald Trump.

Das doppelte Spiel

Gerade auch die Saudis betreiben hinsichtlich neuer Energien ein doppeltes Spiel. So hatten sie einen Megasolarpark für unvorstellbare 200 Milliarden Dollar gemeinsam mit dem japanischen Technikkonzern Softbank geplant. „Das ist ein großer Schritt für die Menschheit“, beschrieb Mohammed bin Salman das Projekt. Ein halbes Jahr nach Bekanntwerden dieser Pläne wurden sie Ende September 2018 wieder gestoppt.

Ähnlich erging es einem anderen Menschheitstraum namens Desertec. Der mittlerweile verstorbene Physiker Gerhard Knies hatte errechnet, dass 300 Quadratkilometer Wüste, mit Solarpaneelen bestückt, ausreichen würden, um die Menschheit mit Strom zu versorgen. Es gelang, Player wie ABB, die Deutsche Bank und RWE mit ins Boot zu bekommen. 2014 kam das Aus. Die offizielle Begründung für das Aufgeben dieser Menschheitshoffnung lautete damals, dass es über die Projektierungen Streit mit den Saharastaaten gegeben habe, die den Sonnenstrom selber für ihre aufstrebenden Wirtschaften nutzen wollten. Eine andere Erzählung lautete, die Sandstürme hätten die Oberflächen der Solarpaneele nach kurzer Zeit abgeschmirgelt und damit „blind“ gemacht. Der Wirkungsgrad war dahin.

Anfang dieses Jahres wurden Überlegungen für Desertec 2.0 bekannt, bei dem Wasserstoff als Speicher- und Transportmedium eine dominante Rolle spielen sollte. Beim heutigen Wirkungsgrad der Technik (inklusive Rückverstromung per Brennstoffzelle) von etwa 35 Prozent bräuchte man demnach wohl statt der 300 aber 900 Quadratkilometer Wüstenfläche. Die Erde verfügt immerhin über etwa 30 Millionen Quadratkilometer Wüste. Als am besten für die Sonnen­ernte geeignet gilt die Atacama-Wüste in Südamerika, weil sie besonders hoch liegt und eine entsprechend größere Sonneneinstrahlung verzeichnen kann.

Kaum Auswirkungen auf die Artenvielfalt

Besonders bestechend an dem Gedanken, die Wüstensonne zu ernten und mithilfe von Wasserstoff der Menschheit zugänglich zu machen, ist der Umstand, dass dies kaum Auswirkungen auf die Artenvielfalt haben dürfte. Schließlich kommen in der Wüste nicht besonders viele davon vor. Das für die Elektrolyse nötige Wasser ließe sich bei der heutigen Pipeline-Technik wohl ohne größere Probleme in Form von Meerwasser zu den Elektrolyseuren schaffen. Wüstenstaaten mit langer Küstenlinie, wie etwa Mauretanien, wären klar im Vorteil.

Das Telefon des Direktors der Desertec Foundation, Andreas Huber, lässt derzeit nur die Mailbox erklingen. E-Mails an ihn kommen automatisiert zurück, mit dem Hinweis, Hubers elektronischer Briefkasten sei überfüllt. Die Wüstensonne wird wohl noch eine ganze Weile ungenutzt vom Himmel brennen.

Dabei ist der Klimawandel längst nicht das einzige Problem, das mit dem Verbrennen fossiler Kohlenwasserstoffe einhergeht. Die Konflikte rund um Libyen, Iran und Venezuela führen beispielhaft den erbarmungslosen Verteilungskampf um die endlichen Energieträger vor Augen. So utopisch es klingen mag, ein mit Wasserstoff gelöstes Energieproblem hätte wohl tatsächlich das Zeug dazu, die Menschheit friedlicher leben zu lassen.

Das Begriffspaar Technologie – Offenheit

Dass der Wunsch nach einer Lösung der drohenden Katastrophen des 21. Jahrhunderts viele Menschen hierzulande bewegt, zeigt nicht zuletzt das Verhalten einer wachsenden Anzahl von Wählern. Immerhin ein starkes Fünftel hatte bei der Europawahl für die Grünen gestimmt. Sie taten dies in der Hoffnung, mit ihrem Ankreuzen gerade noch verhindern zu können, dass die Durchschnittstemperaturen der Erde unumkehrbar in die Höhe schnellen. Tatsächlich war die vermeintliche Ökopartei lange Zeit beim Thema Wasserstoff kaum sprechfähig. Zum Aus des Verbrennermotors werben die Grünen noch immer hauptsächlich für Elektroantriebe. Das Begriffspaar Technologie-Offenheit kommt vielen noch immer nur spärlich über die Lippen.

Aber auch bei der SPD spielt Wasserstoff bei der nicht endenden wie glücklosen Erneuerung von Deutschlands ältester Partei so gut wie keine Rolle. In einem Interview der Wirtschaftswoche wagte Bernd Westphal, der wirtschafts- und energiepolitische Sprecher der Partei, immerhin den Vorstoß, dass neben dem Ausbau der Windkraft auch endlich der Wasserstoff „gepusht“ werden solle. Den Genossen schwebt demnach das Saarland als eine „H2-Modellregion“ vor.

Der CDU-„Klimakanzlerin“ Angela Merkel dürfte als studierter Physikerin die Elektrolyse bekannt sein. Trotzdem fuhr sie bislang folgende Erneuerbaren-Politik: An Tagen mit viel Wind und Sonne die Anlagen entweder abregeln oder den überschüssigen Strom ans Ausland verschleudern. Die Netze bleiben verstopft mit Kohle- und Atomstrom. Über die EEG-Umlage zahlen die Stromkunden den Abzocke-Ökostrom aber trotzdem. Dafür gibt es die Abnahmegarantien. Gleichzeitig zahlen Unternehmen wie etwa Greenpeace-Energy, die überschüssigen Windstrom bereits in Form von Wasserstoff chemisch speichern, Endverbraucherpreise.

Sind E-Fuels die Lösung?

Dass nun ein CSU-Ministerpräsident den Wasserstoff für sich entdeckt, lässt aber zumindest aufhorchen. Markus Söder twitterte unlängst: „MAN Betriebsversammlung: Bayern braucht eine Wasserstoffstrategie. Wasserstoff und Brennstoffzellen sind gute Alternativen zur Elektromobilität gerade für Lkw/Busse. Zentrum dafür könnte Nürnberg sein.“ Nun fließt zwar auch in der Brennstoffzelle der elektrische Strom, der wiederum einen Elektromotor antreibt, aber die ungenaue Wortwahl soll die Bedeutung dieses Tweets nicht mindern. In Deutschlands Süden bangt man um die Zukunftsfähigkeit der Autoindustrie samt ihrer Zulieferer und plant offenbar, Ernst damit zu machen, die bisherige H2-Utopie in eine H2-Realität zu verwandeln.

Die Sache mit der aufkeimenden Wasserstoffeuphorie bei Teilen der Union hat aber einen Haken. Denn viele Unionspolitiker setzen in wohlorchestriertem Einklang mit dem Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) auf die sogenannten E-Fuels. Dies sind synthetische Kraftstoffe auf Basis von Wasserstoff. In vielen Medien wird kolportiert, mit Verfahren, die das Kohlendioxid aus der Luft einfangen würden, und grünem Wasserstoff würde auf diese Weise ein klimatechnisches Nullsummenspiel gelingen. Trotz hoher Energie­umwandlungsverluste könnten deshalb auch weiterhin die komplexen Verbrennungsmotoren betrieben werden. Arbeitsplätze in großer Zahl wären somit vorerst gesichert. Auch als Kerosinersatz in der Luftfahrt sind E-Fuels im Gespräch. Wer sich das Positionspapier der Union zum Thema etwas genauer ansieht, erfährt von der angestrebten Möglichkeit, das CO2 bei „Produktionsprozessen abzufangen“ (Carbon Capture).

So könnte beispielsweise grüner Wasserstoff mit dem Kohlendioxid, das etwa in der Stahlindustrie anfällt, synthetisiert werden und als Kraftstoff dienen. Auf den ersten Blick scheint damit immerhin auch eine CO2-Reduzierung erreichbar zu sein. Das klimaschädigende Gas hätte so noch einen Nutzen, bevor es endgültig in die Atmosphäre gelangt.

Carbon Capture als reines Greenwashing

Vielen unbekannt ist jedoch: Eine Flugzeugdüse funktioniert auch mit reinem Wasserstoff bestens. H2 in einer Brennstoffzelle kommt wesentlich effizienter zum Einsatz als in E-Fuels. Und in der Stahlindustrie bricht gerade die nächste Wasserstoffrevolution aus. Im Stahlherstellungsprozess lässt sich Kohle durch Wasserstoff ersetzen. Statt Kohlendioxid entsteht als Endprodukt Wasser. Der Weltmarktführer Arcelor-Mittal startet gerade in Hamburg ein entsprechendes Projekt.

Das sogenannte Carbon Capture wäre unter anderem für die Stahlkocher ein Instrument, mittels Greenwashing von fossiler Energienutzung, im CO2-Zertifikatehandel zu punkten. Dem Klima aber wäre nicht gedient.

Während viele kleine Start-ups Innovationsgeist zeigen, wenn es um die klimaneutrale Energierevolution geht, stehen insbesondere die großen Firmen mehr oder weniger offen auf der Bremse. Eine Schlüsselrolle kommt hier den Autokonzernen zu. Mit ihren Akku-Autos fahren sie ganz klar eine Wasserstoffverhinderungsstrategie.

Der Druck ist groß

Dabei präsentierte etwa BMW bereits 1979, unter dem Eindruck der Ölkrise, auf der IAA ein Modell mit Wasserstoffverbrennungsmotor. Hier sollte der Opec klargemacht werden: Wir können auch anders! Ob es an dieser technologisch formulierten Drohung lag, sei dahingestellt. Fakt ist, seither liefert das Kartell. Und seither hat BMW immer auch ein wenig Wasserstoff im Programm, um gewappnet zu sein für das postfossile Zeitalter. Dass die Familie Quandt mit ihrer Aktienmehrheit dem Konzern eine gewisse Unabhängigkeit von den Ölkonzernen bewahrt hat, hilft zusätzlich. Beim Konkurrenten VW aus Niedersachsen hält Katar rund 17 Prozent der Anteile.

Die Macht der Fossilkartelle ist groß. Shell stellt in seiner bereits erwähnten Wasserstoff-Studie den dezentral aus Ökostrom hergestellten Wasserstoff als teures Produkt ohne Zukunft dar. Die Option, Wasserstoff aus Weltregionen zu beziehen, in denen die Erneuerbaren im Überfluss vorkommen, wird ausdrücklich ausgespart, mit dem Hinweis auf geopolitische Unwägbarkeiten. Beinahe absurd wirkt, dass die Autoren der Studie neben Regionen wie Nordafrika ausgerechnet Norwegen mit seiner Wasserkraft als geopolitischen Wackelkandidaten hinstellen. Dass auch die Ölstaaten seit jeher geopolitische Risiken bergen, geht dabei fast unter.

Wintershall Dea, Europas frisch fusionierter Mega-Fossilgigant, ist da schon einen Schritt weiter. In einem geheimen Positionspapier des Konzerns heißt es: „Eine Vollelektrifizierung des Energiesystems auf Basis erneuerbarer Energien ist der falsche Weg und weder technologisch noch wirtschaftlich umsetzbar.“ Stattdessen wird eine „Zwei-Energieträger-Welt“ auf Basis von Strom und Gas (in jeglicher Form) propagiert. Ausdrücklich wenden sich die Fossildinosaurier gegen eine Fixierung auf grünen Wasserstoff. Sie versprechen, mit einem neuartigen Verfahren, in Zukunft per Pyrolyse ihrem aus den Nord-Stream-Pipelines fließenden Erdgas CO2-neutral den Wasserstoffanteil abzuknapsen. Als Nebenprodukt soll reiner Kohlenstoff entstehen.

Das Öl der Zukunft

Trotz vieler solcher nach wie vor unüberwindbar wirkender Widerstände hat Wasserstoff das Zeug dazu, das Öl der Zukunft zu werden. Im Wirtschaftsministerium unter Peter Altmaier jedenfalls macht sich derzeit Goldgräberstimmung breit. Allein die Produktion von Elektrolyseuren bietet laut einer Studie von Frontier Economics und dem IW Köln „Wertschöpfungseffekte eines Markthochlaufs in Höhe von 27 Milliarden Euro sowie die Chance zur Schaffung von 350 000 Arbeitsplätzen“.

Die Struktur der Moleküle unserer Energieträger wird sich verändern – weg von den Kohlenstoffen, so viel ist klar. Tritt an ihre Stelle die molekulare Verbindung der beiden H-Atome, der Strukturwandel in vielen Regionen Deutschlands könnte einen positiv-realistischen und nicht utopischen Verlauf nehmen – wirtschaftlich und ökologisch und damit auch gesellschaftlich und politisch. Denn dieser Wandel wird unweigerlich kommen, ob wegen des Kohleausstiegs oder wegen der riesigen Umwälzungen bei der Antriebstechnik der Automobilindustrie. Das Doppelatom H2, es liest sich wie eine Abkürzung für doppelte Hoffnung.

Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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