Der Ukrainekonflikt und die Energiesicherheit - Deutschland in der Zwickmühle

Der von Russland heraufbeschworene Ukrainekonflikt hat auch das Ziel, die neue Ampel-Regierung in Berlin hinsichtlich ihrer transatlantischen Beziehungen zu testen. Außerdem ist sich Moskau der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieträgern sehr bewusst. Nord Stream 2 ist für die deutsche Industrie praktisch unverzichtbar. Das ist ein Problem.

Spezialisten auf dem Verlegeschiff Fortuna haben das letzte Rohr der beiden Stränge der Nord-Stream-2-Pipeline verschweißt / dpa
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Russlands anhaltende Truppenaufstockung in der Nähe der ukrainischen Grenze hat zu mehr als einem Monat voller intensiver Diplomatie sowie zur Verlegung neuer US-Militäreinheiten in Osteuropa geführt. Normalerweise reagiert der Westen auf russische Aggressionen mit Wirtschaftssanktionen. Da der Westen jedoch bereits seit Jahren Sanktionen gegen Russland verhängt, nachdem Moskau die Krim annektiert und sich in den Krieg in der Ostukraine eingemischt hat, müssten neue Sanktionen, um Wirkung zu zeigen, die russischen Energielieferungen nach Europa betreffen – insbesondere die geplante Nord-Stream-2-Gaspipeline durch die Ostsee.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird dies kompliziert, wenn nicht gar unmöglich sein. Die Ukraine-Krise fällt in eine Zeit, in der Europa mit steigenden Gaspreisen und internen Streitigkeiten darüber zu kämpfen hat, wie es seinen Verbrauch an fossilen Brennstoffen langfristig reduzieren kann. Der Kreml weiß das – und er hat die Chance genutzt, um den Westen zu testen. Moskau wollte sehen, ob die Nato (und die Europäische Union) zusammenhalten, und wenn ja, wie sie reagieren würden. Während die Diskussionen zwischen dem Westen und Russland und zwischen den westlichen Verbündeten stattfinden, können wir – wenn wir verstehen, was der Kern der Krise ist – die nächsten wirtschaftlichen Schritte vorhersehen, die die Akteure unternehmen könnten.

Deutschland ist der Schlüssel

Eine Einigung innerhalb der EU auf Sanktionen gegen russische Energieströme ist eine unmögliche Aufgabe. Solche Sanktionen bedürfen der einstimmigen Unterstützung durch die 27 EU-Mitgliedstaaten. Mehr als ein Drittel des europäischen Gases kommt aus Russland, und einige Länder, wie die baltischen Staaten, Bulgarien und Österreich, beziehen mehr als 70 Prozent ihres Gases von ihrem großen östlichen Nachbarn. Darüber hinaus gibt es nur wenige alternative Lieferanten, die Europas Bedarf schnell decken könnten. Das bedeutet, dass Brüssel nur sehr begrenzt aggressiv gegen Russlands Energiesektor vorgehen kann.
 
Wahrscheinlicher ist es, dass Europa das Kronjuwel der russischen Energiestrategie für Europa sanktioniert: die noch nicht in Betrieb genommene Pipeline Nord Stream 2. In Kenntnis der russischen Energiestrategie und der Grenzen der EU warnen die Vereinigten Staaten seit Jahren davor, dass die 1200 Kilometer lange Nord Stream 2 – durch die Umgehung der Ukraine und den damit verbundenen Verlust von Einflussmöglichkeiten und Transitgebühren – die Sicherheit der Ukraine weiter beeinträchtigen könnte. Washingtons Verbündete in Osteuropa sahen die Sache ähnlich. Polen und die baltischen Staaten wiesen darauf hin, dass Russland, sobald Nord Stream 2 in Betrieb ist, Energie besser als geopolitisches Instrument nutzen könnte, um Europa zu beeinflussen und zu spalten.

Darüber hinaus könnte Moskau die Lieferungen an die Ukraine und indirekt auch an Osteuropa unterbrechen und diese Staaten dazu zwingen, stärker von der westeuropäischen Energieinfrastruktur abhängig zu werden. Die Bemühungen, den Bau von Nord Stream 2 zu blockieren, schlugen jedoch fehl, und die Versuche, alternative Gasquellen zu finden, scheiterten an Verzögerungen und Kosten. Währenddessen wuchs die Abhängigkeit Europas von russischem Gas.

Krise der Versorgungskette

Die Pandemie hat Europa die Möglichkeit genommen, Alternativen zu russischer Energie zu finden. Die Krise in der Versorgungskette, gefolgt von der Energiekrise im Jahr 2021, zwang Europa dazu, sich um genügend Gasvorräte zu bemühen, um den Winter zu überstehen. So vielversprechend Investitionen in neue Technologien – seien es Batterien oder Wasserstoff – auch sein mögen, sie werden nur langfristig Früchte tragen. Um weitere wirtschaftliche Störungen zu vermeiden, muss Europa das Beste aus seinen bestehenden Vertragsbeziehungen und der vorhandenen Energieinfrastruktur machen.

Seit die europäischen Energiepreise Ende vorigen Jahres in die Höhe geschnellt sind, haben viele Stimmen in der EU und in den USA Russland der Marktmanipulation beschuldigt. Moskau hat diese Vorwürfe zurückgewiesen, aber die Ukraine-Krise hat die Lage nur noch verschlimmert. Infolgedessen schlossen sich die USA dem Versuch an, alternative Gaslieferanten für Europa zu finden. Am 7. Januar traf US-Außenminister Antony Blinken in Washington mit dem EU-Außenpolitikchef Josep Borrell und dem Energiekommissar Kadri Simson zusammen.

Derzeit laufen Gespräche über die Ausweitung der Lieferung von Flüssiggas (LNG) aus Norwegen, Katar, Aserbaidschan und Algerien in die EU. LNG ist kein perfekter Ersatz für russisches Gas, aber es kann helfen. Eine weitere Veränderung in den zurückliegenden Monaten ist, dass die USA darauf bestanden haben, dass Nord Stream 2 nicht weitergeführt wird, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock reagierte besonnener und erklärte, dass die Pipeline als Teil der Sanktionsmaßnahmen zur Diskussion stehen könnte.

Warum Deutschland nicht nachgeben kann

Der deutsche Energieverbrauch hat sich nach der Pandemie erholt, und obwohl Berlin ein eifriger Befürworter grüner Energie ist, hat es angesichts der Energiekrise die Kohleproduktion wieder hochgefahren. Konventionelle, nicht erneuerbare Energiequellen machten im dritten Quartal 2021 mehr als 50 Prozent der Stromerzeugung aus. Der deutsche Steinkohlenbergbauverband erklärte im Januar, dass Deutschland 24,5 Prozent mehr Kohle importiert als im Jahr 2020, und er erwartet, dass diese Zahl im Jahr 2022 um 7,7 Prozent steigen wird. (Auch hier ist Deutschland auf Russland angewiesen: Rund 53 Prozent der Steinkohle, die an deutsche Stromerzeuger und Stahlhersteller geliefert wird, kam nach Angaben des Kohleindustrieverbands im vergangenen Jahr aus Russland.)
 
Deutschland hat in den Ausbau der erneuerbaren Energien investiert, aber Wind und Sonne können Erdgas, das fast ausschließlich aus dem Ausland kommt, noch nicht ersetzen. Deutschland produziert nur etwa 3 Prozent des Gases, das es verbraucht, und mehr als ein Drittel des importierten Gases kommt aus Russland. Obwohl die Verbrennung von Erdgas nur 15 bis 17 Prozent der deutschen Stromerzeugung ausmacht, ist nach den jüngsten Daten des Branchenverbands BDEW etwa die Hälfte der deutschen Haushalte im Winter auf Gas als Heizmaterial angewiesen.

Wenn Deutschland einen Teil seiner Gasimporte verliert – aus welchem Grund und aus welcher Quelle auch immer –, muss es seine Kohleverstromung im eigenen Land erhöhen oder mehr Strom aus den Nachbarländern importieren, um die Lücke zu schließen.

Das Problem mit dem Flüssiggas

Die USA haben Deutschland angeboten, mehr LNG zu liefern, wenn Nord Stream 2 aufgegeben wird, aber Deutschland verfügt über keine LNG-Infrastruktur. Einige wenige Orte in Europa verfügen über die nötige Hafeninfrastruktur, um LNG aufzunehmen, wie Großbritannien, Nordwesteuropa, Polen und Mittelmeeranrainer, aber die beiden letztgenannten Orte sind noch jung in ihrer Entwicklung. Das wenige LNG, das Deutschland einführt, wird größtenteils über das niederländische Gate Terminal transportiert, das nur 12 Milliarden Kubikmeter pro Jahr umschlagen kann. Dieser könnte zwar ausgebaut werden, aber das würde Zeit und Investitionen erfordern.

Schließlich gibt es eine Grenze, bis zu der Deutschland aus dem Erdgas aussteigen kann, und diese Grenze findet sich in der deutschen Industrie. Mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases entfällt auf das verarbeitende Gewerbe. Um weniger zu verbrauchen, müssten einige Branchen des verarbeitenden Gewerbes ihre Produktionsverfahren neu erfinden und in neue Technologien investieren – was alles sehr kostspielig ist. Aber es gibt auch Branchen, für die Kohlenwasserstoffe nicht nur eine Energiequelle, sondern auch ein Rohstoff sind. Der Chemiesektor ist wahrscheinlich das beste Beispiel dafür. In der chemischen Industrie wird so ziemlich alles hergestellt, was wir heute benutzen – denn (leider) ist Plastik in den meisten Dingen enthalten, die wir konsumieren. Die chemische Industrie stellt auch Düngemittel her, die für die Landwirtschaft und damit für die Lebensmittelversorgungskette von entscheidender Bedeutung sind, und unterstützt die Pharmaindustrie.

Der Pharmasektor ist ein Grund dafür, dass die Abhängigkeit Deutschlands von Erdgasimporten wahrscheinlich nicht abnehmen wird. Wenn überhaupt, dann könnte sie noch zunehmen. Deutschland wird manchmal als die Apotheke der Welt bezeichnet und beherbergt mehr als 500 Pharmaunternehmen, darunter große Konzerne wie Bayer, Boehringer Ingelheim und Merck. Die Bundesrepublik ist außerdem der größte europäische und der viertgrößte pharmazeutische Markt der Welt, und angesichts der demografischen Entwicklung des Landes wird dieser Markt in den kommenden Jahren nur wachsen.

Pharmaproduktion und Sicherheit

Gleichzeitig hat die Pandemie ein zentrales Sicherheitsproblem für den Gesundheitssektor aufgeworfen: die Notwendigkeit, Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen zu begrenzen. Deshalb hat die neue deutsche Regierungskoalition angekündigt, Maßnahmen zu ergreifen, um die Herstellung von Arzneimitteln wieder nach Deutschland zu verlagern. Dazu gehören der Abbau des bürokratischen Aufwands, die Prüfung von Investitionszuschüssen für Produktionsstätten und die Prüfung von Zuschüssen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit. 

Darüber hinaus ist Deutschland im Bereich der Biopharmazeutika – der modernsten Pharmaproduktion und einem Bereich mit hohem Wachstumspotenzial – der wichtigste Akteur in Europa. Gemessen an der Zahl der produzierten Wirkstoffe liegt Deutschland weltweit an zweiter Stelle hinter den USA, ein Vorsprung, den es halten will – der aber von einer stabilen Gasversorgung abhängt.

Pharmazeutika allein sind nicht der Grund, warum Berlin nicht Nein zu Nord Stream 2 sagen kann, aber die Strategie Deutschlands, die wichtigsten Industrien aus dem Ausland zu verlagern, um Engpässe in der Lieferkette zu verringern, spielt bei der Entscheidung sicherlich eine Rolle. Um mehr im eigenen Land zu produzieren, braucht Deutschland Energie, und da alternative Energiequellen teuer sind oder noch jahrelang erforscht werden müssen, bleiben konventionelle Energiequellen und insbesondere Erdgas wichtig.

Moskau ist sich der dreifachen Abhängigkeit Deutschlands von Gas, Öl und Kohle sehr bewusst. Der Grund für Russlands Aufmarsch in der Nähe der Ukraine bestand auch darin, die neue Regierung in Berlin hinsichtlich ihrer transatlantischen Beziehungen zu testen. Mit anderen Worten: Moskau hat die Nato und die EU auf die Probe gestellt. Keiner der beiden Blöcke ist zusammengebrochen, und die Nato hat sogar ihre Truppenpräsenz entlang ihrer Ostflanke verstärkt.

Kreative Lösungen

Gleichzeitig muss der Westen über andere Wege nachdenken, um Russland davon abzuhalten, noch aggressiver zu werden. Die Wirksamkeit von Sanktionen hängt im Allgemeinen von zwei grundlegenden Variablen ab: der Größe des Inlandsmarkts (der Verlust der USA oder der EU als potenzieller Absatzmarkt für die eigenen Exporte im Vergleich zu, sagen wir, dem Markt Kirgisistans) und dem Weltmarktanteil (wenn ein Land ein Beinahe-Monopol auf die Produktion bestimmter Waren hat, ist es schwer, dieses Land zu sanktionieren). In Anbetracht der obigen Ausführungen könnte die EU aufgrund der Beinahe-Monopolstellung Russlands auf dem europäischen (insbesondere dem deutschen) Energiemarkt an die Grenzen ihrer Sanktionsmöglichkeiten gestoßen sein.

Die westlichen Länder haben jedoch einige eigene Monopole im globalen Wirtschaftssystem. Ein prominentes Beispiel ist Swift, das Netzwerk der Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication, das die Abwicklung praktisch aller Bankzahlungen gewährleistet. Swift hat seinen Sitz in Belgien – einem Mitglied der EU und der Nato –, was es relativ einfach macht, es im Falle erneuter, gezielter Sanktionen auszuhebeln. Die USA haben auch damit gedroht, Russland vom Zugang zu Spitzentechnologien abzuschneiden.

Ein weiteres Beispiel: Großbritannien ist ein dominanter Akteur in der Schiffsversicherungsbranche. Im Jahr 2010, als der Westen versuchte, den Iran von seinen nuklearen Ambitionen abzuschrecken, kündigte der Schifffahrtsversicherer Lloyd’s an, keine Benzinimporte in den Iran mehr zu versichern – ein Schritt, der erhebliche Folgen für die iranische Wirtschaft hatte, da er den Absturz der iranischen Landeswährung verschärfte und zu einem Verlust der iranischen Devisenreserven führte. Theoretisch könnte dies auch auf Russland zutreffen.

Dies sind bisher nur Spekulationen, aber der Punkt ist, dass der Westen mit seiner Wirtschaftsdiplomatie kreativ werden muss, wenn Berlin nicht davon überzeugt werden kann, eine harte Linie gegenüber Moskau in der Energiefrage einzuschlagen. Im Moment ist das militärische Auftreten die stärkste Botschaft, die der Westen an Russland gesendet hat. Wenn nichts anderes geschieht, werden die Ostgrenze der Nato und die Westgrenze Russlands die am stärksten militarisierte Grenze in Europa bleiben.

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