Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst - Warum eine Nullrunde zumutbar ist

4,8 Prozent, mindestens aber 150 Euro mehr pro Monat fordern Verdi und Beamtenbund für die 2,3 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen. Unser Autor Wolfgang Bok, der den öffentlichen Dienst journalistisch lange begleitet hat, fordert hingegen Respekt vor dem Steuer- und Gebührenzahler.

Versammlung der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi mit Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes / dpa
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Autoreninfo

Wolfgang Bok war Chefredakteur und Ressortleiter in Stuttgart und Heilbronn sowie Direktor bei der Berliner Agentur Scholz & Friends. Der promovierte Politologe lehrt an der Hochschule Heilbronn Strategische Kommunikation.

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Boomt die Wirtschaft, ist sie für die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes stets das Maß aller Dinge. Geht es der privaten Wirtschaft hingegen schlecht, nehmen Verdi & Co. bei ihren Lohnforderungen keinen Bezug auf das Umfeld. Dabei wäre das mehr als angebracht: Wenn überhaupt, dann steigen die Gehälter außerhalb des Staatsdienstes nur mäßig. Die Vergütungsexperten von HKP haben in einer aktuellen Umfrage ermittelt, dass in diesem und nächsten Jahr die Nullrunde eher die Regel als die Ausnahme ist. Wenn schon Gleichschritt, dann auch in Krisenzeiten.

Selbst in den wenigen Branchen, die sich bescheidene Lohnerhöhungen noch leisten können, werden diese durch Rationalisierung an anderer Stelle kompensiert. Der Einstellungsstopp ist in der freien Wirtschaft mittlerweile die Regel. Abgänge werden nicht ersetzt. Und je weiter sich die Rezession in die Auftragsbücher frisst, desto gefährdeter sind die Jobs. Millionen Kurzarbeiter bangen um die Zukunft. Millionen von Selbständigen brechen die Einnahmen weg. Staatsbedienstete haben hingegen keine Entlassungen zu befürchten. Ihre Jobs sind auch in der Corona-Krise zu 100 Prozent sicher. Sie müssen nicht um ein regelmäßiges Einkommen fürchten, was ihnen laut Umfragen durchaus bewusst ist. Das sollte Lohn genug sein. Gerade jetzt. 

Welcher Lohnrückstand?

Von einem „Lohnrückstand“, den die Gewerkschaften und der Beamtenbund regelmäßig ins Feld führen, kann ohnehin keine Rede sein. Zulagen und Altersgelder eingerechnet, zahlt der Staat nicht nur gut, sondern sehr gut. Seit 2010 sind dort allein die Löhne um 24 Prozent gestiegen - und damit im Gleichschritt mit der freien Wirtschaft (plus 25 Prozent), wie das Ifo-Institut errechnet hat. In den letzten drei Jahren gar um stattliche 15 Prozent. Zudem wird dort nicht Leistung, sondern Dienstalter belohnt, was sich auch langfristig in der ohnehin privilegierten Alterssicherung niederschlägt.

Deshalb zieht auch das Argument nicht, der Staat müsse mit höheren Gehältern konkurrenzfähiger werden. Er ist es längst. Jeder dritte Student möchte am liebsten in den öffentlichen Dienst, bei Studentinnen sind es sogar 42 Prozent. Wo Mangel herrscht, hat auch die Privatwirtschaft Nachwuchssorgen. Deshalb muss nicht der gesamte Staatsdienst noch bessergestellt werden. Es genügt, die Tarifstrukturen der Nachfrage anzupassen. Das erfordert allerdings den Mut zu Umschichtungen.

Forderung nur Verdi-Werbung

Bei den einfacheren Tätigkeiten sind Bund, Länder und Gemeinden ohnehin unschlagbar. Weshalb die aktuelle Forderung nach mindestens 150 Euro mehr pro Monat allein den Verdi-Interessen geschuldet ist: Die Gewerkschaft möchte mit dieser ewigen Sockelei neue Mitglieder gewinnen. Finanziell gesehen kommt dies in den unteren Tarifgruppen einem zweistelligen Lohnaufschlag gleich. Davon können etwa Reinigungskräfte in der Privatwirtschaft nur träumen.

Zur Verdi-Tradition zählt auch die Mitleidsmasche: Stets werden einzelne Berufsgruppen ins Schaufenster gestellt, die in der Bevölkerung hohes Ansehen genießen. Dabei sind 60 Prozent der 2,3 Millionen Bediensteten, um die jetzt bei Bund und Kommunen verhandelt wird, in der Verwaltung tätig. Dort geht es in Corona-Zeiten eher noch ruhiger zu. Selbst die Bereiche mit Kundenkontakt wie Büchereien, Bäder oder Bürgerbüros zählten zu den ersten, die schließen. Die Frage nach der „Systemrelevanz“ beantworten diese Abteilungen damit selbst.

Kein Aufschlag für Nicht-Arbeit

Kaum steigen die Infektionszahlen, flüchten sich Lehrer, Professoren und Erzieherinnen in die Corona-Ferien. Der Verhandlungsführer der Kommunen, der Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mägde, weist die Forderung mancher SPD-Kollegen nach einem satten Gehaltsaufschlag deshalb mit dem treffenden Argument zurück: „Nicht alle Bediensteten im öffentlichen Dienst waren im Lockdown gleich stark belastet. Einige haben gar keine Arbeitsleistung erbracht, waren sie doch bei vollen Bezügen freigestellt. Andere haben aufgrund unseres Tarifvertrages zur Kurzarbeit 95 Prozent ihres Nettolohnes erhalten. Das alles müssen wir berücksichtigen.“ Nicht-Arbeit nun mit fast fünf Prozent Aufschlag zu belohnen, wie es Verdi fordert, wäre ein Schlag ins Gesicht derer, die nicht wissen, wie sie im nächsten Monat über die Runden kommen sollen.

Auch die Kranken- und Pflegeberufe müssen beim Staat nicht darben. Das Durchschnittseinkommen liegt hier bei 3547 Euro im Monat - und damit gut 150 Euro über Löhnen, die im Schnitt in ganz Deutschland bezahlt werden. Krankenpfleger haben seit 2015 einen Aufschlag von stattlichen zwölf Prozent erhalten. Zudem: Da Operationen auf ein dringend notwendiges Mindestmaß zurückgefahren wurden, ging es in den Hospitälern seit Jahresbeginn ausgesprochen ruhig zu. Die meisten Beschäftigten haben nicht einen einzigen Corona-Kranken gesehen. Tausende Intensivbetten stehen seit Monaten leer und werden vom Steuerzahler fürstlich honoriert. Stress machen den Krankenpflegern eher die überbordende Bürokratie und dass nicht sorgfältiger nach medizinischem Bedarf sortiert wird. 

Einmalige Bonuszahlungen für außerordentliche Belastung

Wo Corona dennoch zu außerordentlichen Belastungen führt, können diese mit einmaligen Bonuszahlungen honoriert werden. Das geschieht auch bereits. Eine dauerhafte, kräftige Lohnerhöhung ist weder notwendig noch finanzierbar. Zumal diese nicht nur in die künftigen Tarife einfließt, sondern eher früher als später ihren Weg in alle Bereiche des direkten und indirekten Staatsdienstes findet. Dazu zählen letztlich alle Beschäftigten in Verbänden und Organisationen, die sich am Dienstrecht des öffentlichen Dienstes orientieren. Bis hin zu ARD, ZDF und DLF, was wiederum deren freundliche Berichterstattung erklärt: Jeder Warnstreik wird in Szene gesetzt, als stünde die öffentliche Versorgung auf dem Spiel und müssten die Staatsdiener Hunger leiden.

Insgesamt gesehen geht es also um rund zehn Millionen Beschäftigte, für welche die Krankenpfleger die Türöffner spielen sollen. Allesamt beziehen sie ihr Gehalt über Steuern, Gebühren oder (Zwangs-)Abgaben. Dafür müssen letztlich alle Bürger aufkommen. Dabei bleibt den Deutschen mit rund 40 Prozent an Steuern und Sozialabgaben unter allen Industriestaaten schon heute netto am wenigsten von ihrem Gehalt. Die Kommunen, auf die im kommenden Jahr massive Steuerausfälle zukommen, haben selbst in den letzten zehn Boomjahren die Gewerbe- und Grundsteuern massiv erhöht. Wie wollen sie einen fünfprozentigen Gehaltsaufschlag finanzieren? Mit noch höheren Abgaben?

Tariferhöhungen zugunsten bestversorgter Pensionäre

Verdi und Beamtenbund (dbb) wollen den Tarifvertrag wie stets auf die rund 200 000 Beamten bei Bund und Kommunen übertragen. Die 1,5 Millionen Beamten bei den Ländern werden folgen, zumal es sich hier meist um teure Lehrer handelt. Doch was viel schwerer wiegt: Jede Tariferhöhung wird auch auf Pensionäre übertragen. Dabei zählen sie zu den bestversorgten Senioren. Selbst im einfachen Dienst liegt die Durchschnittspension bei 2761 Euro. Im gehobenen und höheren Dienst sind es 3784 Euro pro Monat. Zum Vergleich: Die staatliche Eckrente nach 45 Versicherungsjahren liegt bei 1538 Euro. Selbst Bestverdiener, die jeden Monat maximale Beiträge in die Rentenkassen zahlen, kommen nur selten über 2000 Euro pro Monat. Und das nicht 13, sondern nur zwölf Mal im Jahr.

Steuerzahler sitzt nicht am Verhandlungstisch

Doch auch die Personen, die nun in Potsdam den Funktionären von Verdi und Beamtenbund die Stirn bieten sollen, sind keine wirklichen Arbeitgeber. Es ist nicht ihr Geld, das sie ausgeben, sondern das der Bürger. Im Gegenteil: Bürgermeister und Minister sind sogar doppelte Nutznießer von hohen Gehaltsabschlüssen im öffentlichen Dienst. Einmal, weil sie sich damit bei ihren Beschäftigten beliebt machen. Und zweitens, weil sie selbst davon profitieren. Denn auch sie sind öffentlich Bedienstete. Der Bund der Steuerzahler sitzt nicht mit am Verhandlungstisch.

Das alles ruft nach einer Nullrunde. Das erfordert die aktuelle Situation des Staates. Erst recht aber die der kommenden Jahre, wenn sich Schuldenberge türmen und Steuereinnahmen ins Bodenlose fallen. Selbst ein bescheidener Drei-Jahres-Vertrag, wie ihn die Vertreter von Bund und Kommunen anbieten, ist in der derzeitigen Situation nicht zu rechtfertigen. So viel Solidarität darf man von denen erwarten, die sonst stets auf Solidarität pochen. 

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