Start-up-Szene - Scheitern als Geschäft

Die deutsche Start-up-Szene boomt, auch wenn ein paar Große der Branche derzeit in der Krise stecken. Investoren stehen Schlange. Dass jedes zweite Unternehmen pleitegeht, ist eingepreist

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Christian Thurau ist einer der vier Gründer von Twenty Billion Neurons / Jörg Brüggemann
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Twenty Billion Neurons beschäftigt 15 Mitarbeiter, hat ein Hinterhofbüro in Berlin-Kreuzberg und zwei übermächtige Konkurrenten. Das Start-up hat sich einen Markt ausgesucht, der zwar enorm zukunftsträchtig ist, in den aber auch die Giganten Facebook und Google massiv investieren: künstliche Intelligenz. 2025 dürften in dem Bereich 130 Milliarden Dollar umgesetzt werden, schätzt die Unternehmensberatung McKinsey. 

Die vier Gründer hinter Twenty Billion Neurons – der Name leitet sich von den 20 Milliarden Nervenzellen der Großhirnrinde ab – beschäftigen sich schon lange mit der Technologie. Sie haben um die Jahrtausendwende gemeinsam Informatik in Bielefeld studiert. Dann trennten sich ihre Wege, die meisten machten Karriere in der Wissenschaft, Ende 2014 trafen sie sich bei einer Konferenz wieder. Und entschieden, gemeinsam zu gründen. 

Es ist ein Wagnis. Die vier wissen noch nicht einmal, was dabei am Ende herauskommt. „Wir haben noch kein Produkt“, sagt Mitgründer Christian Thurau, „wir wollen erst einmal eine Technologie bauen, die funktioniert.“

Maschine mit menschlicher Wahrnehmung

Ihr Ziel: Computern beizubringen, die Welt wie ein Mensch wahrzunehmen. Dazu trainieren sie einen Algorithmus, in einem ersten Schritt wird er mit Abertausenden von kleinen Videos gefüttert, in denen Menschen physische Tätigkeiten vollführen: ein Glas umwerfen, ein Messer aufheben, solche Sachen. Am Ende soll die Maschine ein besseres Verständnis der physikalischen Gesetzmäßigkeiten besitzen, mit denen die Welt um uns herum funktioniert. Denkbar sind Anwendungen in der Robotik oder bei selbstfahrenden Autos.

Es ist schon etwas Besonderes, dass vier Forscher mit Anfang 40 auf Engagements bei Tech-Konzernen oder Karrieren in der Wissenschaft verzichten. Die zweite Besonderheit ist, dass Twenty Billion Neurons in Berlin gegründet wurde – und nicht im Silicon Valley. 

Deutschland ist im Gründungsfieber. BWL-Absolventen wollen nicht mehr in Unternehmensberatungen oder Investmentbanken unterkommen, sie wollen gründen. Millionen Deutsche schauen in der Vox-Sendung „Die Höhle der Löwen“ Erfindern und Start-up-Gründern zu, wie sie versuchen, für ihre Ideen Geld von Investoren zu bekommen. 

An die 10 000 Start-ups dürften inzwischen in Deutschland aktiv sein, schätzt der Entrepreneurship-Professor Tobias Kollmann von der Universität Duis­burg-Essen. Um sie herum hat sich ein überlebensfähiges Start-up-Ökosystem entwickelt, mit Investoren, Business Angels, Förderprogrammen. 

Erfolgsmeldungen jedoch sind derzeit rar. Rocket Internet, die Berliner Start-up-Fabrik von Oliver Samwer, wird seit Monaten an der Börse abgestraft. Die Rocket-Aktie hat seit November 2014 fast zwei Drittel ihres Wertes eingebüßt. Das 2012 in Berlin gestartete Online-Auktionshaus Auctionata, von Investoren mit fast 100 Millionen Dollar an Risikokapital ausgestattet, rutschte in die Insolvenz. Und dass Soundcloud, das von zwei Schweden in Berlin gegründete Musikportal mit weltweit 175 Millionen Nutzern, kürzlich 70 Millionen Dollar an Krediten aufnahm, wurde eigentlich nur vom Unternehmen selbst als Erfolg interpretiert. In Wirklichkeit bedeutete es, dass die Gesellschafter sich mit den Gründern nicht mehr auf eine faire Bewertung des Unternehmens einigen konnten, zu der die dringend benötigte Finanzierung durchgeführt werden konnte. 
Ist der Boom also vielleicht schon wieder vorbei? Und braucht es die Start-ups überhaupt? Eigentlich garantieren doch forschungsstarke Großunternehmen und innovative Mittelständler, dass die deutsche Wirtschaft zur Weltspitze gehört. Oder?

1. Was Start-ups können und Konzerne nicht

Der Global Innovation Index der Universitäten Cornell und Insead verortete Deutschland 2016 zum ersten Mal seit mehreren Jahren wieder in den Top Ten. Nur in China, Japan, Südkorea und der Schweiz werden ähnlich viele Patente je Einwohner angemeldet – das ist Weltklasse. Wo ist also das Problem?
„Das Problem ist“, sagt Olaf Jacobi, „dass in großen Unternehmen kaum noch Innovation stattfindet.“ Jacobi investiert seit 1999 in Start-ups und ist damit einer der erfahrensten Geldgeber Deutschlands. Er glaubt: Innovation passiert nicht in schwerfälligen, bürokratischen Konzern­strukturen, sondern „in kleinen Einheiten, in Start-ups“. Und das hätten „deutsche Unternehmen zu lange verpennt“.
Wir mögen die Weltmarktführer von heute beherbergen. Aber die von morgen sitzen eher an der US-Westküste oder im chinesischen Shenzhen. Hinzu kommt: Viele Mittelständler tun sich schwer mit der Digitalisierung, die, so schätzen die Unternehmer selber, mehr als 90 Prozent aller Firmen betreffen wird. Nur: Wie man im vernetzten Zeitalter digitale Geschäftsmodelle zu Welterfolgen macht, das haben die Deutschen bisher viel zu selten unter Beweis gestellt. „Weltmarktführer ‚made in Germany‘ sucht man in der digitalen Wirtschaft vergeblich“, schreibt Tobias Kollmann in seinem Buch „Digitale Gründerzeit“. 
Die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt waren Ende Mai ausschließlich Digitalkonzerne aus den USA: Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook. Das einzige deutsche Software-Unternehmen von Weltrang ist SAP. Gründungsdatum: 1. April 1972.
Rohstoffarme Volkswirtschaften sind aber auf technischen Fortschritt und erfinderische Unternehmer angewiesen, um Wachstum erzeugen zu können. Innovation sei die „überragende Tatsache in der Wirtschaftsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft“, heißt es schon bei Joseph Schumpeter.
Dass flinke Start-ups dafür besser geeignet sind als große Organisationen, das haben selbst die deutschen Konzerne erkannt. Lufthansa, Telekom oder Deutsche Bahn ziehen Innovationszentren und Start-up-Hubs hoch, mit Vorliebe in Berlin; sie starten Beschleunigungsprogramme für Jungunternehmen und konzerneigene Fonds, die Risikokapital in frühen Unternehmensphasen investieren.

2. Ein paar Pleiten machen noch keine Krise

Kein Mann hat die deutsche Start-up-Szene in den vergangenen Jahren so geprägt wie Oliver Samwer. Auch Rocket Internet setzt auf innovative Ideen – allerdings verzichtet sie darauf, diese selbst zu entwickeln. Lieber sucht man sich vorhandene Geschäftsmodelle und setzt diese schneller, schlagkräftiger oder größer um. „Es gibt Einsteins“, hat Samwer einmal gesagt, „und Leute wie Bob der Baumeister.“ Baumeister, das sind die Leute bei Rocket.

Auch Zalando hat als Kopie angefangen. Als der Internet-Modehändler 2014 zu einer Bewertung von 3,5 Milliarden Euro an die Börse ging, war das Samwers Meisterstück. Für sein Geschäftsmodell braucht Rocket solche „Exits“: Börsengänge oder Verkäufe von Unternehmen, die man aufgebaut hat. Es ist ein langwieriges Geschäft, schlecht planbar, es braucht Geduld. Geduld, die die Börse nicht hat. Anleger hat es nervös gemacht, dass Rocket seit dem Zalando-Börsengang kein großer Exit mehr gelungen ist. Das erklärt, warum die Aktie auf Talfahrt geschickt wurde.
Das heißt aber nicht, dass damit die gesamte Start-up-Szene kriselt. „Rocket ist eine Wette auf eine Person“, sagt ein gut vernetzter Geldgeber, der ungenannt bleiben will. „Wie gut oder schlecht es Rocket geht, das hat keine großen Auswirkungen auf das Ökosystem.“

Denn das ist inzwischen einigermaßen robust. Die Zahl der Gründer, die sich mit technologischen Neuheiten in den Markt wagen, nahm laut KfW im vergangenen Jahr wieder zu – zwar nur leicht von 92 000 auf 95 000, dafür aber gegen den Trend. Denn die Zahl der nicht­innovativen Gründer, worunter etwa die Eröffnung eines Schönheitssalons oder Blumenladens fällt, nimmt seit Jahren ab, ein Nebeneffekt der historisch guten Arbeitsmarktlage. 

Die neu gegründeten Unternehmen schaffen wiederum neue Jobs: 15 Mitarbeiter beschäftigt das durchschnittliche Start-up laut einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Die Mitarbeiterzahl wächst mit der Zeit. Ein Start-up in der Wachstumsphase hat im Schnitt schon mehr als 150 Mitarbeiter. 

486 Start-up-Finanzierungen zählte Ernst & Young 2016 in Deutschland, so viele wie noch nie. Investiert wurden dabei insgesamt 2,2 Milliarden Euro. Rocket Internet ist nicht mehr systemrelevant. Es gibt genug andere Kapitalgeber. „Das Modell Rocket Internet hat ausgedient“, bilanzierte Christoph Gerber, Gründer der Essenslieferplattform Lieferando, jüngst in einem Interview.

Und Auctionata oder Soundcloud? Wer in der Szene nach den beiden Krisenfirmen fragt, bekommt zu hören: zwei bedauerliche Einzelfälle, aber keineswegs Symptome einer größeren Flaute. Bei Auctionata verhoben sich die Gründer mit der millionenschweren Übernahme eines US-Wettbewerbers. Und Soundcloud hat mit einem besonders schwierigen Markt zu tun, in dem auf der einen Seite die Plattenfirmen hohe Lizenzgebühren einfordern und auf der anderen Seite die Nutzer sich nicht daran gewöhnen lassen, für die über das Portal konsumierte Musik auch Geld zu zahlen. 

Selbst wenn beide Firmen am Ende scheitern sollten – und das ist längst noch nicht ausgemacht –, dürfte das für die Investoren hinter den Start-ups eine bittere Pille sein. Aber so ist das Business. 

3. Wo Scheitern zum Geschäft gehört

Wie viele Start-ups aufgeben müssen, kann niemand sagen. Das Statistische Bundesamt registriert zwar die Zahl der Insolvenzen, doch darunter fallen Unternehmen jeder Größe und jedes Alters. Außerdem endet längst nicht jedes gescheiterte Start-up in einer Insolvenz. Und: Manche Gesellschaften siechen noch Jahre vor sich hin, obwohl sie den Geschäftsbetrieb längst eingestellt haben.

„Ich persönlich gehe von einer Sterberate von etwas über 50 Prozent aus“, sagt Kollmann, der Professor. Die meisten Start-ups gäben bereits im Laufe der ersten zwei Jahre auf, manche auch erst im fünften Jahr. 

Den brauchbarsten Hinweis auf die Ausfallquote liefern die Kalkulationen derjenigen Investoren, die mit Start-ups ihr Geld verdienen. Venture Capital – zu Deutsch: Risikokapital – ist schon dem Namen nach ein Hochrisikogeschäft.

Die branchenübliche Rechnung geht so: Von zehn Investments, die ein Risikokapitalgeber tätigt, muss er sechs abschreiben. Bei zwei Unternehmen kommt er ungefähr mit einer schwarzen Null wieder heraus. Zwei Unternehmen sind am Ende so gut, dass sie das komplette Investment wieder hereinholen. 

„Jeder Fonds muss mindestens einen solchen Ausreißer haben“, sagt Olaf Jacobi. Für Jacobis aktuellen Arbeitgeber, den Kölner Venture-Capital-Geber Capnamic Ventures, war das zum Beispiel das Liefer-Start-up Lieferando, in das etwas über 20 Millionen Euro investiert wurden und das 2014 für über 60 Millionen Euro vom niederländischen Konkurrenten Takeaway.com übernommen wurde. Das ist als Return-on-Investment schon nicht schlecht, verblasst aber wiederum im Vergleich mit Beispielen aus dem Silicon Valley, wo sich Einsätze auch mal verhundertfachen können.
Die Gründe dafür, warum Start-ups scheitern, sind vielfältig: Mal erweist sich der Markt als zu schwierig, mal das Produkt als nicht attraktiv genug. Bisweilen stellt auch das Gründerteam fest, dass es nicht zusammenpasst. Dass Gründer das Geld der Investoren einfach verprassen oder sonstige Betrügereien anstellen, ist die absolute Ausnahme, meint Jacobi. „Wir führen so viele Prüfungen durch, dass so etwas quasi nie vorkommt.“ In der Zeit der Dotcom-Blase, als die Risikokapitalbranche noch in den Kinderschuhen steckte, sei das anders gewesen: „Da kamen schon Eskapaden vor, und mancher Investor hat sich die Finger verbrannt.“

Unterm Strich muss eine VC-Firma das Kapital eines Fonds über eine Laufzeit von zehn bis 14 Jahren mindestens verdreifachen – das erwarten die Investoren, zu denen Pensionsfonds, reiche Familien oder Großkonzerne gehören. Abschreibungen sind dabei eingepreist. Jacobi meint sogar: „Wenn ein VC zu geringe Ausfallraten hat, dann ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen: Dann sind seine Investments zu risikoavers.“ Denn die großen Exits, so Jacobi, gelängen „meistens Unternehmen, bei denen man zuerst skeptisch ist“. Je verrückter das Portfolio, desto wahrscheinlicher, dass darunter ein revolutionär neues Modell ist.

4. Die Szene erlebt einen Paradigmenwechsel

Eines von Jacobis aktuellen Lieblingsinvestments ist das Berliner Start-up Adjust. Es hat eine Software entwickelt, mit der Anbieter von Smartphone-Anwendungen analysieren können, wie ihre Apps genutzt werden und wie gut die Anzeigen, mit denen sie dafür werben, funktionieren. 2012 gegründet, knapp 30 Millionen Euro von Investoren eingesammelt, heute Büros in elf Ländern auf der ganzen Welt. Schon vor dem Exit ist Adjust eine Erfolgsgeschichte.

Für Jacobi steht Adjust aus zwei Gründen für einen überfälligen Paradigmenwechsel: Das Unternehmen hat ein B2B-Geschäftsmodell, richtet sich also an Geschäftskunden und nicht an Endverbraucher. Und es ist ein echtes Technologie-Start-up mit einem innovativen Produkt, „nicht der nächste Online-Hundefutter-Shop“. 

Bislang wurde die deutsche Gründerszene von Unternehmen dominiert, die sich an Konsumenten richten. Meist sind es E-Commerce-Modelle, bei denen der Innovationssprung allein darin liegt, dass statt im Laden über das Internet verkauft wird. Und häufig ist die Idee dazu auch noch abgekupfert – also ganz nach dem Muster, mit dem Rocket Internet so groß und krisenanfällig geworden ist.

„Wir denken an den nächsten Shopping-Club, das nächste Restaurant-Ticketing“, polterte Frank Thelen, als TV-Juror aus der „Höhle der Löwen“, jüngst in einem Interview. „Wir haben fast keine Gründer, die neue Technologien entwickeln und den Killerinstinkt eines Elon Musk oder Mark Zuckerberg haben. Das wird Deutschland in zehn Jahren in eine richtig böse Krise treiben.“

Olaf Jacobi teilt die Diagnose, aber er ist hoffnungsvoll: „Wir werden stärker, Deutschland entwickelt sich.“ Der Deal-Flow, also die ihm angebotenen Investments, sei „noch nie so interessant gewesen wie 2016“, sagt Jacobi. Und: „Es gibt kaum noch Copy-Cats.“

Für die sich anbahnende Verschiebung in der deutschen Start-up-Landschaft – weg von der Kopierdenke, hin zu echten Innovationen – steht auch Twenty Billion Neurons, das Start-up von Christian Thurau und seinen drei Ex-Kommilitonen. Sie ahmen nicht etwas nach, sondern suchen nach etwas gänzlich Neuem. Finanziert hat sie ein US-amerikanischer Investor mit 2,5 Millionen Dollar. 

Gut möglich, dass der sein Geld nie wiedersehen wird. Aber vielleicht wird aus Twenty Billion Neurons doch das nächste große Ding, ein Digitalkonzern von Weltrang. Dann führt Christian Thurau die deutsche Wirtschaft in die digitale Zukunft.

 

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