Sanktionen gegen Russland - Wir steuern in eine epochale Wirtschaftskrise

Groß ist derzeit der Drang nach einer möglichst harten Haltung gegen Russland, die auf dessen wirtschaftliche Isolation zielt. Deutschland manövriert sich hierbei jedoch in eine gewaltige Rohstoffkrise weit jenseits von Öl und Gas, die mitten ins Herz der deutschen Wirtschaft trifft und eine Spirale aus Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Inflation befeuert. Doch wir bezwingen Putin nicht, in dem wir uns selbst die Pistole an die Stirn halten.

Wenn die Schlote nicht mehr rauchen, schadet das in erster Linie unserer eigenen Wirtschaft / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer der Analyse- und Beratungsfirma Hase & Igel, die sich darauf spezialisiert hat, mit Verhaltensdaten – von Google-Suchen über Social Media Gespräche bis zu Werbeausgaben – Entwicklungen in Markt und Gesellschaft zu bewerten. Nach seinem Studium der Medien- und Politikwissenschaft arbeitete der Statistikexperte lange Zeit als Kommunikationsmanager in der Energiewirtschaft.

So erreichen Sie Jan Schoenmakers:

Anzeige

Deutschland ist nicht wiederzuerkennen. Das Land der Zögerer und Zauderer, der Erfinder der „German Angst“ hat seit dem russischen Angriff auf die Ukraine seine Hemmungen abgelegt: Millionen vergessen ihre Corona-Sorgen und strömen in blau-gelben Farben auf die Straßen, binnen weniger Tage werden unter dem Jubel der friedensbewegten Bevölkerung beispiellose Summen in die Aufrüstung investiert und Waffen ins Kriegsgebiet geliefert. Vielen geht das nicht weit genug: Eine Mehrheit fordert die Lieferung von Angriffswaffen und einen sofortigen Importstopp für russisches Öl und Gas (als Treppenwitz der Geschichte muss ein grüner Wirtschaftsminister hier den Schaum der FDP bremsen), immer mehr werben für einen offiziellen Kriegseintritt der Nato.

Im Schatten dieses entschlossen Engagements hingegen braut sich etwas zusammen, das medial nur in ein paar Wirtschaftsspalten aufblitzt: eine beispiellos bedrohliche Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie beginnt mit außer Kontrolle geratenen Rohstoffpreisen, wird von dort die Schlüsselindustrien ebenso erfassen wie die Kaufkraft und schließlich die Staatsfinanzen hinwegspülen. Wer vorsichtig auf den Tsunami verweist, der sich hier aufbaut, wird im Überschwang der Solidarität schnell als „kleinlich“ und „materialistisch“ abgekanzelt. Doch wie Wirtschaftsminister Habeck am 8. März sehr treffend feststellte: Wenn uns das Geld und die Lichter ausgehen, können wir keine Sanktionen durchhalten. Wer droht, ohne die Konsequenzen tragen zu können, wird nicht mehr ernstgenommen. Und wer sich vorher gar nicht fragt, ob er eingeleitete Schritte auch durchhalten kann, ist nicht ernstzunehmen.

Die Rohstoffkrise trifft ein Land ohne Rohstoffe

Niemand möchte derzeit Geschäfte mit Putin machen. Aus sehr verständlichen Gründen. Und niemand kann derzeit verlässlich Geschäfte mit der Ukraine machen. Aus sehr traurigen Gründen. Doch die Implikationen dieser schlichten Feststellung sprengen die Vorstellungskraft vieler.

Die hässlichen Konsequenzen für Öl- und Erdgaspreise kann bereits jetzt jeder täglich nachverfolgen. Doch selbst die selbsternannte Wirtschaftspartei FDP begreift nicht die Tragweite: Fehlen plötzlich 18% des weltweiten Erdgases und 13% des Erdöls (Russland ist als Produzent wichtiger als Saudi-Arabien), bedeutet das nicht nur, dass die Kosten fürs Autofahren steigen und wir das Wohnzimmer nur noch auf 18 Grad heizen. Die Logistik wird auf allen Verkehrswegen plötzlich massiv teurer – für Deutschland, das von seinen Exporten lebt, eine äußerst prekäre Lage. Zugleich ist Erdgas unverzichtbar für industrielle Prozesswärme – von der Stahlherstellung bis zum Haltbarmachen von Lebensmitteln. Hier kann man nicht über Nacht den Energieträger wechseln, zumal es keine sinnvollen Alternativen gibt: Biogas ist nicht genug vorhanden, Kohle toxisch fürs Klima und Holz schon länger knapp (der Preis hat sich in den letzten drei Jahren beinahe vervierfacht).

Noch weniger präsent ist den meisten die Bedeutung Russlands und der Ukraine bei Gasen und Metallen. Rund 70% des weltweiten Neons kommen aus der Ukraine. Dieses Gas füllt nicht nur Lampen, sondern auch die Laser, mit denen Halbleiter hergestellt werden. Bereits jetzt legt die Chipkrise ganze Industrien lahm – nun kommt sie in eine ganz neue Dimension, und das auf Dauer. Ein Fünftel allen Eisens bezieht die Welt aus der Ukraine und Russland, 11% des Aluminiums. Was mit der Maschinenbauindustrie und der Baubranche geschieht, wenn diese Metalle nicht mehr verfügbar oder nicht mehr bezahlbar sind, bedarf kaum einer Erklärung: Vom Auto über den Stahlträger bis zum Windrad kommt die Produktion ins Stocken. Ähnlich brisant sind die 12% Nickel, die der Weltmarkt aus Russland und der Ukraine kauft. Ohne dieses Übergangsmetall platzt die Energie- ebenso wie die Mobilitätswende: Elektroauto-Batterien benötigen den Rohstoff ebenso zwingend wie Stromnetzspeicher und Photovoltaik-Akkus. Und auch die chemische Industrie kann nur schwer auf Nickel verzichten.

Schon bevor die aktuellen Sanktionen voll auf die Lieferketten durchschlagen, herrscht stumme Panik in der Industrie. Wer irgendwie kann, sichert sich noch Nachschub – was die Preise in astronomische Höhen treibt: Die Rohstoffkurse steigen um zweistellige Prozentbereiche pro Woche, im 1-Jahres-Vergleich muss die Industrie für Aluminium 87%, für Öl 77%, für Stahl 56% mehr zahlen. Der Handel mit Nickel wurde nach einer annähernden Verdreifachung des Preises gar komplett ausgesetzt. Bisher gibt es keine Zeichen für ein Ende der Preisspirale. Denn sie ist nicht nur auf Panikkäufe und Spekulation zurückzuführen, sondern schlichtweg eine Konsequenz aus der plötzlichen, vermutlich nachhaltigen Verknappung extrem nachgefragter Ressourcen.

Länder mit eigenen Bodenschätzen vermögen dies zu kompensieren und investieren dabei sogar noch in die eigene Wirtschaft. So können die USA ähnlich gelassen auf die Krise blicken wie Australien. Die EU hingegen – und Deutschland im Besonderen – ist auf Gedeih und Verderb auf den Import beinahe aller kritischen Rohstoffe angewiesen und kann dies in den meisten Industrien weder kurz- noch mittelfristig ändern.

Deutschlands Industriestruktur als seine Achillesferse

Während also ganz Europa bereits dieser Tage hart getroffen wird, wird kaum jemand schlimmer unter Rohstoffknappheit und Preisexplosion leiden als Deutschland. Der Grund: unsere Industriestruktur.

Die Schlüsselindustrien des Landes heißen Maschinenbau, Automobilindustrie, Chemie und Elektronik. Gerade diese Branchen sind immens abhängig von gleich mehreren – oder sogar allen – dieser nun verknappten und verteuerten Rohstoffe. Überdies hat die deutsche Industrie mehr als jedes andere europäische Land außer den Niederlanden seinen Rohstoffhunger aus Russland gedeckt. Wegfallende Importe aus Putins Reich treffen Deutschland damit noch viel stärker als beinahe alle anderen Länder – und wer sich nun plötzlich neue Lieferanten suchen muss, tut dies zu historischen Höchstpreisen, sofern er überhaupt seine Mengen abdecken kann. Bereits dieser Tage werden daher in immer mehr Betrieben die Bänder angehalten, Investitionen gestoppt und Kurzarbeit angeordnet.

Wer glaubt, dass es sich hier lediglich um kurzfristige Anpassungsstörungen handelt, irrt: Alle vier unserer Kernindustrien werden wesentlich stärker einbrechen als in der Corona- oder Finanzkrise und sich davon deutlich schlechter erholen. Denn während politisch gestützte Nachfrage und viel frisches Geld Auswege aus bisherigen Krisen boten, stehen die Zeichen diesmal denkbar ungünstig: Steigende Nachfrage lässt sich bei knappen Ausgangsmaterialien nicht bedienen und führt zu weiter steigenden Rohstoffkosten – womit Produktion zunehmend unprofitabel wird. Der endlos sprudelnde Geldhahn und die Corona-Schuldenorgie haben eine Inflation in Gang gesetzt, die auf 10 Prozent zustrebt – womit das frische Geld sich nicht mehr in Investitionsfähigkeit übersetzt. Und dass zugleich der Euro immer weiter fällt, verteuert Importe zusätzlich und macht den Standort unwirtschaftlich. Es ist nicht ersichtlich, wie unter diesen Bedingungen eine Erholung möglich sein soll – und schon gar nicht, woher die Industrie die Kraft nehmen soll für die Transformation weg von Russland und weg vom Öl.

Es ist daher zu erwarten, dass wir eine Welle an Arbeitslosigkeit und Firmenpleiten erleben werden, wie sie die BRD noch nicht gesehen hat, während sie den Bewohnern der „neuen“ Bundesländer nur allzu traumatisch in Erinnerung ist. Dass die Staatswirtschaft der Corona-Jahre ohnehin eine Bugwelle verschleppter Insolvenzen vor sich herschiebt, verschärft die Lage weiter.

Ausgehen wird diese Welle wird von der Herzkammer der deutschen Industrie, sich jedoch schnell von dort aus auf weitere Branchen ausbreiten: Zulieferer, die bereits durch massive Teuerungen bei Holz und Stahl gebeutelte Baubranche, den Handel und nicht zuletzt die ganze Bandbreite an Dienstleistern, denen die Aufträge von Recruiting bis Werbung wegbrechen. Der primären Welle an Entlassungen und Betriebsaufgaben in Automobil-, Maschinenbau-, Chemie- und Elektronikbranche wird eine sekundäre Welle folgen, die durch einen Großteil der – ohnehin coronageschwächten – deutschen Wirtschaft rauscht und mehr Trümmer hinterlassen könnte, als wir uns vorstellen mögen.

Trümmerfeld bei Haushalten und Staatsfinanzen

Für alle Deutschen sind die beispiellose Inflation und Lebenshaltungskosten auf Rekordhöhe eine Belastung, wie sie kaum einer der heute lebenden „Wessis“ kannte – zumal der Hoffnung auf steigende Post-Corona-Löhne wohl auch jeder Wind aus den Segeln genommen wird. Die Kaufkraft sinkt somit merklich, aufgebauter Wohlstand wird vernichtet, Lebenspläne müssen korrigiert werden, das Lebensniveau pendelt sich auf deutlich bescheidenerem Level ein.

Besonders hart trifft dies indes diejenigen, die ohnehin bereits am Rande des Prekären lebten – und all jene, die ihre Jobs verlieren. Es sind Millionen Menschen, für die basale Themen wie Ernährung, Heizung und Mobilität zu ernsten Herausforderungen werden. Da Besitzer von Häusern und Land sowie Inhaber diversifizierter Portfolios deutlich geschmeidiger durch diese Zeit kommen werden, wird die ohnehin enorme Einkommens- und Wohlstandsschere noch viel weiter aufreißen – was durchaus das gesellschaftliche Fass zum Überlaufen bringen könnte.

Der Staat wird versuchen, dies zu verhindern: mit Kurzarbeit, mehr Freibeträgen, mehr Arbeitslosengeld etc. die Arbeitnehmer stützen; mit Krediten, staatlicher Beteiligung und öffentlichen Aufträgen die Industrie stützen; mit Steuersenkungen quer durch die Bank Preisanstiege kompensieren. Das Problem an Strategien, die bei Finanzkrise und Corona passabel funktioniert haben, ist allerdings diesmal, dass bei einem simultanen Einknicken aller vier Schlüsselindustrien die Steuereinnahmen so schnell wegbrechen, dass hierfür das Geld flugs ausgeht. Der übliche Griff nach der Geldpresse hingegen verbietet sich angesichts der ohnehin bereits ausufernden Inflation, um nicht in eine Situation zu steuern wie bei der Hyperinflation 1923. Der einzige Weg, der der Politik somit bleibt, ist jener massiver Neuverschuldung, ohne dabei bei einer Null- oder gar Negativzinspolitik bleiben zu können. Doch eben jener Staat hat gerade erst über die letzten zwei Jahre die höchsten Schulden seiner Geschichte angehäuft und schickte sich just an, gigantische grüne Transformationsprogramme anzustoßen und den jahrzehntelang angehäuften Investitionsstau aufzulösen.

Wachsen jedoch die Staatsschulden weiter ins Unermessliche und verteuern sich diese dabei tendenziell, schränkt das den Spielraum für dringend benötigte Zukunftsinvestitionen massiv ein: ob für die Energiewende, die Neuertüchtigung der Infrastruktur, die Digitalisierung, das Abfedern von Klimawandel-Folgekosten oder die Sicherung der Sozialsysteme – es wird überall an Geld fehlen. Ausgerechnet die Grünen sehen das klarer als andere Parteien und deuten bereits an, den Kohleausstieg und damit das 2-Grad-Ziel zu kippen.

Insbesondere junge Generationen verlieren somit auf der ganzen Linie: Nachdem sie in der Corona-Zeit bereits massive Bildungsverluste erlitten haben, folgen nun ein stark schrumpfender Arbeitsmarkt mit mauen Gehaltsaussichten, sinkende Kaufkraft – und die Perspektive, Klimawandel und demographischen Wandel in voller Härte alleine zu wuppen. Denn bei allen „Opfern“ die „gebracht werden“ müssen, sind in einer der am stärksten überalterten Gesellschaften die Renten für jeden Politiker sakrosankt, der eine Chance auf Wiederwahl haben möchte. Damit könnte sich ein Trend fortsetzen, der sich schon über die letzten Jahre zunehmend erkennen lässt: Gerade die Top-Qualifizierten jungen Menschen wandern aus.

Wir zündeln auf einem Pulverfass

Noch eint uns die Empörung über die völkerrechtswidrige Aggression Russlands, seine Lügen und die Verhöhnung internationaler Diplomatie und Verträge. Noch hält uns die Solidarität mit einer guten Sache und einem gebeutelten Volk aufrecht.

Doch was passiert, wenn die heute so engagiert Demonstrierenden arbeitslos im kaum beheizten Apartment sitzen? Was sagen die Journalisten, die jetzt nach einem Nato-Kriegseintritt rufen, wenn in ihren Verlagen bei weiter fallenden Werbeeinnahmen die Lichter zu flackern beginnen? Was wird aus der Hoffnung all jener Wähler der Ampelregierung, die mit einem „Green New Deal“ das Klima und die Generationengerechtigkeit zugleich retten wollten – und nun zusehen müssen, wie alte Kohlekraftwerke wiederertüchtigt und das Geld für Investitionsprogramme zusammengestrichen wird? Nicht zuletzt: Wenn ähnlich viele oder gar mehr Menschen existenziell abrutschen wie bei der Wiedervereinigung – was macht das mit einer Gesellschaft, in der die Nerven ohnehin nach Corona blank liegen und das Vertrauen in das System auf dem niedrigsten jemals gemessenen Stand angekommen ist?

Oft schon – und nicht zuletzt in Deutschland – hat ein wirtschaftlicher Absturz den Staat mitgerissen und die Gesellschaft gesprengt. In mancherlei Hinsicht erinnert die Situation heute fatal an jene vor 100 Jahren. Es darf indes bezweifelt werden, ob sich Putin davon beeindrucken lässt, wenn wir uns die Pistole an die eigene Stirn halten. Wenn wir es ernst meinen mit einer Unabhängigkeit von Russland und einem Europa, dass russischen Aggressionen die Stirn bietet und es sich leisten kann, jenseits von Maulheldentum Werte zu verteidigen, brauchen wir einen besonnenen Plan, der nicht auf wirtschaftliches Kamikaze hinausläuft.

Ein solcher Plan braucht runde Tische mit Experten aus Wissenschaft und Praxis, die technische und wirtschaftliche Lösungen suchen, wie nicht nur Russland „bestraft“, sondern auch Deutschland nachhaltig gestärkt werden soll – eine bessere Zukunft statt bloßem Krisenmanagement. Er braucht eine ehrliche, offene Debatte mit der ganzen Breite der Zivilgesellschaft. Denn die Gesellschaft wird nur zusammenhalten, wenn alle wissen, was auf sie an Zumutungen zukommt, aber ein lohnendes Ziel erkennen und Vertrauen in den Prozess haben. Und er kann nur funktionieren, wenn seine Umsetzung von maximaler Transparenz und Rechenschaft geprägt ist und von weltanschaulich neutralen Gremien daraufhin moderiert wird, dass die Lasten und Chancen, die ihm innewohnen, halbwegs gerecht verteilt werden.

Das eignet sich freilich wenig für kurzfristige Symbolpolitik und Hauruck-Aktionen. Doch es entspricht dem Eid, den die Bundesregierung darauf geschworen hat, den Nutzen ihres Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden.

Anzeige