Reaktionen auf die Delta-Variante - In einer neuen Phase

Mit dem Grassieren der neuen Virus-Mutation hat ein neues Kapitel der Pandemie begonnen. Aber wir können ihr nicht mit den bisherigen Maßnahmen begegnen. Es wird Zeit, endlich vernünftig zwischen Kosten und Risiken abzuwägen. Denn ohne diese Kalkulation drohen noch viel größere Schäden.

Proteste gegen die Corona-Regeln am Wochenende in Frankreich / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Wir sind jetzt offenbar in die echte zweite Phase der Corona-Pandemie eingetreten. Frühere Phasen waren lediglich vorübergehende Blasen. Diese Phase aber scheint real zu sein. Bislang herrschte vielerorts der Eindruck, dass die Pandemie vorbei sei. Mit dem Auftauchen eines neuen Virusstammes wird aber ein neues Kapitel aufgeschlagen. 

Wir wissen nicht, wie viele Varianten noch auftauchen werden und welche neuen Auswirkungen sie haben könnten. Aber diese Variante bringt uns zu den Praktiken des vorangegangenen Kapitels zurück. Wieder einmal fürchten wir den Atem von Fremden, atmen unsere Ausdünstungen unter Masken ein und dimmen unser Leben auf Sparflamme. Von Karl Marx stammt das Sprichwort, wonach sich die Geschichte stets zweimal wiederholt, das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce.

Da es sich bei Covid um eine Krankheit handelt, gelten für uns die Grundsätze der Ärzteschaft. Deren wichtigstes Prinzip ist, dass keine Maßnahme gescheut werden sollte, um Todesfälle und schwere körperliche Beeinträchtigungen zu verhindern. Das ist ein edles Ziel. Aber die Frage ist, ob dies der einzige Grundsatz sein sollte, nach dem ein Staat regiert wird (und nicht vielleicht nur ein wichtiger Gesichtspunkt).

Ein dauerhafter Daseinszustand?

Diese Frage ist nicht gefühllos gemeint. Mein Leben und das Leben derer, die ich liebe, stehen auf dem Spiel. Aber gleichzeitig gehen wir eben in die zweite Runde, und jetzt müssen wir uns überlegen, ob dies ein dauerhafter Daseinszustand sein soll und ob das Virus lernen wird, unsere Impfstoffe zu überwinden. Die Zukunft ist ungewiss, aber wir müssen darüber nachdenken, inwieweit das herrschende Prinzip der Ärzteschaft nachhaltig ist.

Bedenken Sie dies: Jedes Jahr sterben allein in den Vereinigten Staaten etwa 40.000 Menschen bei Autounfällen; weltweit sind es etwa 1,35 Millionen. Damit sind Autounfälle die achthäufigste Todesursache in der Welt. In den Vereinigten Staaten werden jährlich etwa drei Millionen Menschen bei Autounfällen verletzt.
Wohlgemerkt: Diese Zahlen gelten trotz aller Bemühungen, die Autos sicherer zu machen. 

Der Grund, warum Autos trotzdem nicht verboten werden, besteht schlicht darin, dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines solchen Verbots verheerend wären. Die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern erfordert den Transport per Lkw. Um Freunde zu besuchen und die Familie zu sehen, braucht man Autos. In den Vereinigten Staaten hängt unsere Fähigkeit zur Effizienz vom Auto ab, um eine weit verstreute Bevölkerung zu versorgen. Doch diese Abhängigkeit birgt ein Risiko. Im Hinterkopf ist man sich beim Einschalten der Zündung bewusst, dass man sterben könnte. Gleichwohl verdrängt man diese Möglichkeit und lebt sein Leben wie gewohnt fort.

Das bekannte Todes- und Verletzungsrisiko wurde mit den Lebensbedürfnissen abgewogen, und die Risikokalkulation hat ergeben, dass es besser ist, die Gefahr in Kauf zu nehmen und die Vorteile des Autos zu genießen, anstatt zu versuchen, die Todesfälle im Straßenverkehr durch die Abschaffung des Autos zu verhindern. Der Grundsatz, dass der Tod mit allen Mitteln bekämpft werden muss, wird im Fall des Autos einfach nicht praktiziert, weil eine subtilere Berechnung stattfindet.

Abwägung zwischen Tod und Leben

Es ist eine Erinnerung daran, dass bei den meisten menschlichen Handlungen die Möglichkeit des Todes oder der Verletzung besteht – aber ein Leben ohne diese Dinge wäre auf der anderen Seite eben auch sehr arm. Auf viele Dinge kann man für einen kurzen und überschaubaren Zeitraum verzichten. Ein Leben ohne sie auf unbestimmte Zeit erzeugt aber Druck auf den Einzelnen und die Gesellschaft. Die Abwägung zwischen Tod und Leben entspricht der menschlichen Natur.

Die Reaktion auf die Pandemie hatte derart massive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, dass wir erst jetzt beginnen, sie vollständig zu verstehen. Das wirtschaftliche Problem besteht nicht darin, dass Milliardäre Geld verlieren könnten – sie haben im Großen und Ganzen sogar Geld verdient. Sondern darin, dass die Pandemie die ärmeren Menschen, die untere Mittelschicht und die ärmeren Länder unverhältnismäßig stark getroffen hat. Es handelt sich nicht um einen Kompromiss zwischen Reichtum und Sicherheit, sondern um die reale Gefahr des Todes, der die Realität der wirtschaftlichen Katastrophe mit zerbrochenen Träumen konfrontiert. 

Diejenigen, die sich den Lockdowns und dem Tragen von Masken widersetzen, werden als rücksichtslos dargestellt. Vielleicht sogar zurecht. Aber handeln sie wirklich so viel rücksichtsloser als jemand, der sich in ein Auto setzt und keinen Sicherheitsgurt anlegt oder andere Sicherheitsmaßnahmen ergreift?

Das Ziel der Medizin besteht darin, Leben zu retten. Die von ihr empfohlenen Maßnahmen dienen diesem Ziel, und zu einem großen Teil sind sie von einem politischen System implementiert worden, das zu Recht in Panik geraten ist. Aber jede Maßnahme ist mit Kosten verbunden, und es ist unvernünftig, von der Ärzteschaft zu erwarten, dass sie diese Kosten berechnet. Diese Verantwortung liegt bei anderen. Der Grundsatz der Ärzteschaft jedoch, Leben um jeden Preis zu retten, ist kein allgemeiner gesellschaftlicher Grundsatz. Es kommt darauf an, das Todesrisiko gegen alle anderen Risiken abzuwägen.

Wirtschaft ist kein Luxus

Die Wirtschaft ist kein Luxus. Sie muss auf einem Niveau weiterlaufen, das die Gesellschaft tragen kann. Wir können die Sorge um die Wirtschaft nicht als eine leichtfertige Petitesse abtun. Auch das soziale Leben ist kein Luxus; wir sind nun einmal soziale Wesen. Risiken und Chancen müssen sowohl von den Staaten als auch von den Einzelnen wohlüberlegt kalkuliert werden. Die Mischung aus Risiko und Ertrag ist bis zu einem gewissen Grad kalkulierbar.

Jetzt, da die Delta-Variante da ist, müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass weitere Varianten unterwegs sind. Es gibt einen Impfstoff, und er wirkt jetzt. Diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, sollen ihr Risiko eingehen. Sie haben ihre Entscheidung getroffen, und vielleicht ist es ja sogar die richtige Entscheidung. Aber mein Leben sollte nicht eingeschränkt werden, um sie zu schützen, und die Wirtschaft und die Gesellschaft sollten es auch nicht. Es ist durchaus möglich, dass unter den neuen Virusvarianten eine ist, die meine Impfung nutzlos macht. Soll ich deswegen mein Leben aufgeben und auf einen neuen Impfstoff warten, der vielleicht nie kommt?

Ich muss davon ausgehen, dass wir in eine neue Phase eingetreten sind, in der Corona die Menschheit überlistet. Wir werden dann keine andere Wahl haben, als die Risiken zu akzeptieren (wohl wissend, dass einige von uns sterben werden) oder die katastrophale Implosion von Wirtschaft und Gesellschaft hinzunehmen. Wie wir gesehen haben, handelt es sich nicht nur um eine Frage von Atemschutzmasken; vielmehr haben wir die Logik des zurückliegenden Zyklus erlebt. Die Schutzmaßnahmen, die letztlich fast überall eingeführt wurden, führten zu Konkursen, Arbeitsplatzverlusten und dem Zusammenbruch des sozialen Miteinanders. 

Vielleicht werden die Maßnahmen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, dieses Mal nicht angewandt – aber da wir diesen Weg schon einmal beschritten haben, ist das nicht sicher. Die Vorstellung, dass wir unbegrenzt so weitermachen können und jedes neue Corona-Kapitel uns dazu zwingt, uns in Sicherheit zu bringen, ist eine oberflächliche Sichtweise auf künftige Entwicklungen. Wie beim Autofahren, wo wir jedes Mal unser Leben riskieren, wird das Risiko von Covid in unser Denken integriert werden müssen. Und darauf basierend, werden wir entsprechende Entscheidungen treffen. 

Der jetzt eingeschlagene Weg muss erfolgreich sein. Anderenfalls wird eine andere Kalkulation zugrunde gelegt.

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