Paul Kirchhof über Corona und Politik - „Der Föderalismus ist eine anspruchsvolle Staatsform“

Ob bei Corona oder Rundfunk – zwischen Bund und Ländern knallt es gewaltig, gerade auch im Osten. Der Staatsrechtler Paul Kirchhof über den Zustand unserer Demokratie.

Landesfürsten unter sich: Paul Kirchhof betont die Vorteile des Föderalismus / dpa
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Mit 44 Jahren wurde Paul Kirchhof jüngster Richter am Bundesverfassungs-gericht in Karlsruhe und schied 1999 aus dem Amt. An der Universität Heidelberg hatte der heute 77-Jährige einen Lehrstuhl für Staatsrecht inne. Außerdem war er Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht. Im Wahlkampf 2005 wurde er Teil von Angela Merkels Schattenkabinett und warb für eine „Einheitssteuer“ von 25 Prozent.

Herr Kirchhof, bis kurz vor der Jahrtausendwende waren Sie Richter am Bundesverfassungsgericht. Wie steht es heute um unsere Demokratie in der Corona-Krise?
Paul Kirchhof: Es ist gut, dass wir die Länder haben, die für ihre verschiedenen Regionen feststellen, ob die Pandemie gerade eine große oder kleine Gefahr verursacht. Das Ansteckungsrisiko ist in Ländern mit mehr Industrie höher als in Landwirtschaftsstrukturen, in Skiregionen größer als an der Küste, wird durch lebhaften Grenzverkehr deutlich vermehrt. Diese föderale Dezentralisierung von Macht hat übrigens besondere Bedeutung bei der Wiedervereinigung gewonnen. Die Bürger der DDR konnten sicher sein, dass nicht alle Staatsgewalt auf den Bund, vom Westen geprägt, übergehen wird, sondern dass sie ihre Eigenständigkeit bewahren können.

Es knirscht gewaltig zwischen Bund und Ländern. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus forderte jüngst, die Länder sollten sich stärker an den Corona-Finanzhilfen beteiligen. Sofort kam Widerspruch etwa aus Sachsen-­Anhalt, Thüringen und Sachsen.
Wenn wir politische Macht aufteilen, knirscht es. Das muss so sein. Dies gilt im Verhältnis von Regierung und Parlament sowie von Regierung und Gerichten. Wenn Menschen Entscheidungen treffen müssen, werden Unterschiede sichtbar. Diese werden in einer Demokratie öffentlich diskutiert. Das kostet Energie und Zeit. Aber der Aufwand öffnet einen gediegenen Weg für bessere Entscheidungen. 

Sie waren in Karlsruhe auch für Finanz- und Steuerrecht zuständig. Woran erinnert Sie das?
Es ist immer das Anliegen politischer Akteure, der andere möge ein Vorhaben bezahlen. Darum bestimmt das Grundgesetz im Konnexitätsprinzip, dass wer die Entscheidung trifft, auch die Finanzlast zu tragen hat. Jedes Parlament, das etwas regelt, muss für die Kosten seiner Regelungen einstehen. Ein kluges Prinzip, das beherzigt werden muss.

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Beobachten Sie besonders in den neuen Ländern eine landespolitische Renitenz?
Unsere innere Wiedervereinigung ist bisher mit viel Einsatz der Parlamente in Bund und Ländern, mit viel Einsatz von Geld, aber auch mit viel Verständnis der betroffenen Bürger gut gelungen. Unsere Universität in Heidelberg etwa arbeitet ganz selbstverständlich mit Instituten in Leipzig, Dresden, Jena und Potsdam zusammen. Doch die Dialoge zwischen West und Ost scheinen politisch nicht in der Intensität und Offenheit geführt zu werden, dass diese Erfolge sichtbar werden.

Wer trägt dafür Verantwortung?

Paul Kirchhof

Ein Teil der Verantwortung trifft die Medien, die in einer prinzipiellen Empörungsbereitschaft verharren. Sie berichten nur über Themen, über die man sich aufregen, die man auch demonstrativ gegen die Staatsorgane wenden kann. Berichtenswert sind aber auch die Erfolge politischer, wirtschaftlicher und kultureller Vielfalt. Wir haben in Europa und innerhalb Deutschlands nun seit Jahrzehnten inneren Frieden. Wir haben Theatertraditionen und Operntraditionen in Westdeutschland wie in Ostdeutschland, immer mehr wissenschaftliche und wirtschaftliche Spitzenleistungen in den neuen Bundesländern.

Aber auch darüber wird berichtet.
Ja, das ist gut und richtig. Doch für manche entwickelt sich das zu langsam. Gerade Forschung, aber auch Unternehmensgründungen müssen organisch wachsen. Wir müssen über diese Errungenschaften sprechen, aber auch gemeinsam auf die Vergangenheit blicken.

Wie meinen Sie das? 
Wenn Menschen sich an ihre Vergangenheit erinnern, ist diese glücklicherweise fast immer positiv. Marianne Birthler hat die DDR zwar als „Bruchbude“ bezeichnet. Dort aber habe sie gelebt, geliebt und gekämpft. Deswegen könne sie sich schwer von ihr trennen, von der Erinnerung und von den Tränen. Darin steckt eine Lebensweisheit. Jeder Mensch erinnert sich an seine Kindheit, an seine Jugend, an seine Eltern, an seine Hochzeit und die Geburt der Kinder grundsätzlich gerne. Die Menschen blicken selbstbewusst auf diese Erfahrungen, in welchem politischen System auch immer sie gemacht werden. Das gilt insbesondere für die Bürger der DDR, die mit Einsatz von Leib und Leben auf der Straße standen und riefen: „Wir sind das Volk.“ Daneben stand das Militär. Die Mauer ist gefallen. Das ist einmalig in der Rechtsgeschichte, sensationell. Das müssen wir uns auch in den aktuellen Debatten immer wieder bewusst machen.

Die informellen Treffen von Länderchefs und Kanzlerin werden kritisiert als nicht verfassungsgemäße Institution. Zu Recht?
Die Ministerpräsidenten jedes Landes sind durch Wahlen legitimiert, sollen dessen Angelegenheiten politisch vorbereiten, mitentscheiden und vertreten. Viele Fragen aber greifen über die Ländergrenzen hinaus: die Pandemie, Funk und Fernsehen, Aufgaben der Polizei, wenn etwa Verbrechen die Ländergrenzen überschreiten. Dann sind die Länder auch in ihrem Kompetenzbereich auf Kooperation angelegt.

Sind der Rundfunkstaatsvertrag und die Blockade Sachsen-Anhalts so ein Fall?
Hier wirken zwei gegenläufige Rechts­prinzipien. Zunächst ist jedes Landesparlament autonom und seinen Bürgern verantwortlich. Das ist die Grundidee des demokratischen Parlamentarismus im Bundesstaat. Der Bürger erlebt Demokratie dort, wo er wohnt und sein Kind zur Schule schickt. Wo er innere Sicherheit sucht oder Infrastruktur für Einkauf und Freizeit erwartet. Ein Landesparlament muss diesen Anliegen gerecht werden. Das führt zu klaren Unterschieden. Wenn etwa Landessteuern sich unterscheiden, müssen Bürger das hinnehmen.

Das klingt nach einem Aber.
Staatsverträge können nur einvernehmlich fortgebildet werden. Auch dabei sind die 16 Länder grundsätzlich autonom, aber zugleich zugehörig zum Verfassungsstaat, der bundesweit für alle Staatsorgane die Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip und eine Bundestreue garantiert.

Was genau meint diese Bundestreue?
Im föderalen Gesamtstaat gelten Verantwortlichkeiten des Bundes gegenüber den Ländern und von den 16 Ländern gegenüber dem Bund. Jeder muss auf die Belange des anderen Rücksicht nehmen. Die Bundestreue ergibt sich aus der Idee des Bundesstaats, der eine auf Kooperation angelegte Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden fordert. Ähnliches gilt für die Europäische Union. Es gilt das Prinzip der Eigenständigkeit in wechselseitiger Verantwortlichkeit. So wie das Freiheitsrecht des Bürgers keine Freiheit zur Beliebigkeit ist, sondern Verantwortlichkeiten gegenüber dem anderen betroffenen Menschen begründet, gilt das auch für die Autonomie der Bundesländer. Doch Ausgangspunkt ist die Eigenverantwortlichkeit jedes Parlaments.

Würde das Bundesverfassungsgericht das Nein eines einzelnen Landesparlaments zu einem Staatsvertrag also kassieren?
Sie sprechen mit einem ehemaligen Verfassungsrichter. Ihm gebieten die Klugheit und auch der gute Stil, zu möglichen zukünftigen Urteilen des Gerichts keine Stellung zu nehmen.

Aber inwiefern hat Autonomie Grenzen?
Die Länder haben ihre Eigenständigkeit im Parlament. Sonst bräuchten wir keine demokratischen Wahlen auf Landesebene und keine landeseigenen Parlamente. Diese Parlamente dürfen und sollen unterschiedliche Entscheidungen treffen. Das gilt beim Polizeirecht, Schulrecht, Universitätsrecht oder Kommunalwahlrecht. Dabei sind sie aber zugleich Teil des Verfassungsstaats, der auch Regeln für das ganze Bundesgebiet trifft. Jeder Bürger kann seinen Lebensmittelpunkt in jedem Bundesland wählen. Bei der Studienwahl kann man sich in Hamburg und in München bewerben, ohne dass Landeskinder beim Auswahlverfahren ein Privileg hätten. Im Datenschutz gibt es gemeinsame Maßstäbe, auch soweit das Polizeirecht Ländersache ist. Selbst der Ferienbeginn muss koordiniert werden, obwohl Bildungspolitik in der Hoheit der Länder liegt.

Klingt eher nach Fluch als nach Segen.
Föderalismus ist eine anspruchsvolle Staatsverfassung. Sie gelingt nur in Hochkulturen, wenn Menschen in ihrer Gesellschaft eine Gemeinsamkeit der Werte und Grundziele haben, insbesondere in der Idee von Freiheit und Gleichheit, in den Vorstellungen des Sozialen, in der Offenheit für Europa. Dieser innere Zusammenhalt droht in den USA zu zerbrechen. Dort verschärft sich die Gegensätzlichkeit durch die Bundesstaatlichkeit zusätzlich.

Droht uns hierzulande  auch eine solche Spaltung?
Nein. Der Föderalismus hat sich in den genannten Aufgaben bewährt. Zudem können politische Alternativen in den Ländern ausprobiert werden. Viele Bundeskanzler von Adenauer, Kiesinger, Brandt über Schmidt, Kohl und Schröder waren vorher in Ländern oder Gemeinden in maßgeblicher Position tätig. Die Parteien konnten die Kandidaten erproben und schulen. Sie selbst konnten Erfahrungen sammeln. Der Bürger konnte sie beobachten und kennenlernen, bevor sie für ein Bundesamt zur Wahl standen.

Die Wirtschaft beklagt sich, Föderalismus sei hinderlich, Zentralisierung hingegen förderlich, gerade auf EU-Ebene.
Eine Zentralisierung und Vereinheitlichung ist schon im System der Wirtschaft fragwürdig. Das Wettbewerbs- und Kartellrecht vermeidet die Bündelung großer Unternehmen, eine marktbeherrschende Konzentration der Wirtschaftskraft. In dieser offenen Marktwirtschaft hat die Europäische Union einen Binnenmarkt geschaffen. Allerdings verursacht eine zentrale Verwaltung viele kleinräumige Vorschriften und viel Bürokratie. Gerade die mittelständischen, die kleinen Unternehmer, die Start-ups, die Erfinder brauchen den Atem der Freiheit auch im Regionalen. Sie erneuern unsere Wirtschaft, haben uns in der Weltwirtschaft stark gemacht.

Diskutieren wir zu wenig über die Lockdown-Folgen für die Wirtschaft?
Es geht um Gefahrenabwehr. Der Staat muss einer Gefahr vorbeugen, die er nur teilweise kennt. Diese Gefahrenabwehr ist dem Polizeibeamten geläufig. Wenn eine Lawine herabzustürzen droht, muss dieser entscheiden, ob er Sprengungen veranlassen oder ein Tal evakuieren muss, auch wenn er noch nicht weiß, ob und wo die Lawine niedergeht. Bei der Corona-Pandemie ist diese Aufgabe besonders anspruchsvoll. Jede Verpflichtung, eine Maske zu tragen, Abstand zu halten, nicht zusammenzukommen, enthält Freiheitseinschränkungen, die den Bürger vor einer schweren Erkrankung, vor einer Gefahr für Leib und Leben schützen. Wenn ein junger, kraftstrotzender Mensch glaubt, das gehe ihn nichts an, ist sein Blick zu eng. Er kann Infektionsträger sein. Er muss sich an die Regeln halten, um nicht andere anzustecken und zu schädigen.

Trotzdem sind es harte Eingriffe.
Ja, es sind durchweg subtile Grundrechtspositionen betroffen. Eingriffe in die Berufs- und Unternehmerfreiheit, in die Demonstrations- und Meinungsfreiheit, in die Religions- und Familienfreiheit, wenn Verstorbene nicht mehr gemeinsam beerdigt werden können. Die Regierung handelt im Kampf gegen das Virus besonnen und nachdenklich, diskutiert öffentlich die Fortschritte des Wissens mit den Wissenschaften, entscheidet dann über harte Eingriffe, um bald in die Normalität zurückkehren zu können. Das ist besser, als den Abwehrprozess zu verschleppen, sodass wir noch länger in der Nichtnormalität leben müssen. Wenn wir in greifbarer Zukunft eine Impfung haben werden, wird uns bewusst, dass diese Maßnahmen vorläufig waren, dazu dienten, die von allen erwünschte Normalität in freiheitlicher Begegnung, freiheitlichem Arbeiten, in freiheitlichem Familien- und Kulturleben zurückzugewinnen. 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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