TV-Kritik „Anne Will“ - Viel Marx um nix

Was ist von 200 Jahren Karl Marx geblieben? Diese Frage versuchte die Gesprächsrunde bei „Anne Will“ zu klären. Doch allzu schnell verloren sich die Gäste im tagesaktuellen Klein-Klein. Große Erkenntnisse über den streitbaren Philosophen gab es an diesem Abend nicht

Das Ziel der Debatte bei „Anne Will“ wurde immer undeutlicher / Screenshot ARD-Mediathek
Anzeige

Autoreninfo

Chiara Thies ist freie Journalistin und Vorsitzende bei next media makers.

So erreichen Sie Chiara Thies:

Anzeige

Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren und polarisiert noch heute. Ihm zu Ehren enthüllte Marx Geburtsstadt Trier vergangenen Samstag eine große Statue von ihm. Die Ehrung wurde von Demonstrationen sowohl gegen als auch für ihn begleitet. Es wirkt dieser Tage als sei nicht Religion, sondern Marxismus Opium für das Volk. Aber wie viel ist von Karl Marx tatsächlich geblieben? Und wie sozial ist unser Kapitalismus heute? Genau diese Fragen hätte sich der Geehrte und Verschmähte vermutlich nie gestellt. Marx sei gar kein Philosoph, weil sein Denken ein Ziel habe, hat Alain Badiou, einer seiner größten Bewunderer, über ihn gesagt. 

Um diese Fragen drehte sich aber Anne Wills Talkshow. Zu Gast waren Finanzminister Olaf Scholz (SPD), Linke-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht Unternehmer Georg Kofler und Kardinal Reinhard Marx. Sollte diese Debatte überhaupt ein Ziel gehabt haben, wurde es mit zunehmender Sendungsdauer immer undeutlicher. 

Ist Marx Schuld?

Dabei waren die Rollen eigentlich klar verteilt. Georg Kofler ist schließlich Unternehmer und damit ein böser Kapitalist, und so legte er auch gleich gegen den Autoren des „Kapitals“ los. Karl Marx habe aus zwei Gründen kein neues Denkmal verdient: Erstens sei der totalitäre Anspruch seiner Gesellschaftstheorie ein fataler Irrtum. Zweitens sei seine Ökonomie der „größte Flop der Wirtschaftsgeschichte“. Alle kommunistischen Länder seien hoffnungslos heruntergewirtschaftet. Doch kann Marx wirklich dafür verantwortlich gemacht werden? Kardinal Reinhard Marx, der seit Jahren aus dem Zufall, den gleichen Nachnamen wie der Philosoph zu haben, Kapital schlägt, sprang seinem Namensvetter auch sofort bei. Man müsse ihm ja keine Denkmäler bauen, aber die Texte sollte man schon lesen. Dass Sahra Wagenknecht da eifrig nickte, überraschte kaum. Für sie müsse man Karl Marx aus seinen Schriften heraus verstehen. Jesus Christus könne ja auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was in seinem Namen begangen wurde. Scholz gab sich seiner Position entsprechend moderat. Bei Marx wäre vieles, aber auf keinen Fall alles richtig gewesen. Tja, nun. Im Grunde hätte die Sendung da beendet werden können. Die Statements waren erwartbar und wurden gebetsmühlenartig brav wiederholt.

Zwei Streitpaare, verhaltener Streit

Das liegt auch an Sahra Wagenknecht, die ihren Marx besser kennt als die meisten, geschweige denn ihre Gesprächspartner. Doch sie gab sich ungewohnt ruhig. Nach 20 Minuten hatte sie lediglich ihr Eingangsstatement gehalten. Erst danach begann sie, Scholz zu kritisieren: für seine Aussagen zur Sozialdemokratie, sein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, und sein mit einem Angestellten von Goldman Sachs besetztes Kabinett. Scholz ging jedes Mal geduldig darauf ein. Er rang Wagenknecht das Versprechen ab, ihn in drei Jahren zu loben, wenn er gute Ministerarbeit geleistet habe. Das wirkte dann doch arg bemüht. Damit waren wir zurück im parteipolitischen Einerlei, der Sendung tat das nicht unbedingt gut. 

Spannender war dagegen die Diskussion zwischen Unternehmer Kofler und Kirchenmann Marx. Zwar waren sie augenscheinlich mehrfach verschiedener Ansicht, fanden dann aber doch immer wieder zueinander. Im Gegensatz zum farblosen Scholz, der immer wieder vergeblich versuchte, sich einzuklinken, waren die kleinen Dispute zwischen Kardinal Marx und Georg Kofler von ungewohnt lustigem Esprit. Kofler griff Wagenknechts Aussage zu Goldman Sachs auf: „Nix System, das System gibt es nicht.“ Denn gehe es den Arbeitnehmern gut, gehe es auch dem Unternehmen gut. Das bestritt Kardinal Marx nicht, er wolle keine „moralische Debatte“. Für ihn stehe das Gefühl, gebraucht zu werden, im Vordergrund. Sei das nicht gegeben, führe das zu Populismus.

Fünf Minuten Digitalisierung 

Scholz will das am Negativ-Beispiel Amazon und Deutsche Post mit Tarifverträgen lösen. Dafür fehle es in den Betrieben allerdings erst einmal an ordentlichen Betriebsräten. Für Wagenknecht reicht das nicht. Sie kenne „couragierte Unternehmer“, die viel für ihre Angestellten leisten. Desto größer jedoch das Unternehmen sei, umso schlechter sei die Situation für die Arbeitnehmer. Die SPD habe zwölf Jahre lang regiert beispielsweise nichts gegen die Zeitarbeit unternommen. Für den Unternehmer Georg Kofler stellen Zeitarbeiter jedoch eine gute Zwischenlösung dar, um flexibel auf den Markt zu reagieren. Das sei essentiell, um dynamisch zu bleiben. Natürlich sei dieses Argument bei der Deutschen Post, das seine Angestellten jahrelang in Zeitarbeit hält, hinfällig. Auch Kardinal Marx forderte bessere Rahmenbedingungen. Kofler entgegnete ihm, dass es die schon gebe, und: „Das Paradies ist doch Ihr Job.“ Da muss selbst der Kardinal lachen.

Klar, dass es am Ende der Talkshow noch irgendwie um Digitalisierung gehen musste. Dazu blieben fünf Minuten. Die Antworten fielen deswegen alle sehr verknappt und auch hier wenig überraschend aus. Kofler sprach sich gegen eine Regulierung durch die Politik aus, da die es auch nicht besser machen könnte als ein dynamischer Markt. Kardinal Marx sah genau darin die Forderung, dass wir uns an den Markt „anzupassen“ hätten. Olaf Scholz forderte, dass wir uns nicht immer so erschrecken sollten. Für den alternativen Fahrdienst Uber habe man ja auch eine Regelung gefunden. Für Sahra Wagenknecht waren neue Technologien an sich weder gut noch schlecht. Natürlich gebe es viele Annehmlichkeiten. Aber wo bleibe der Gewinn? Die Digitalisierung, das wird klar, ist auch in dieser Talkshow ein Überwort, dem sich keiner so recht nähern und konkretisieren mag. Immerhin hat niemand das Unwort Breitband-Ausbau in den Raum geworfen.

Fruchtlose Debatte

So hatten zwar alle Gesprächsteilnehmer unterschiedliche Meinungen zu Karl Marx, waren sich am Ende in ihren Ansichten zur Sozialdemokratie jedoch erstaunlich einig. Ja, es gebe Unternehmen, die viel für ihre Angestellten tun. Beispiele wie Amazon oder die deutsche Post gingen aber natürlich gar nicht. Was sollten sie auch anderes sagen? Olaf Scholz möchte nun mit den Beteiligten Großunternehmen darüber reden, hat aber entsprechende Gespräche gerade erst angefragt. Wagenknecht reichte das wie immer nicht. Ideen, wie man es anders lösen konnte, brachte aber auch sie nicht ein. Den Geburtstag von Karl Marx hätte man so jedoch nicht als Überbau für die Sendung benötigt. Es ging eben um die Themen soziale Marktwirtschaft und ihre aktuellen Herausforderungen, zum xten Mal in einer Talkshow. Und so erging es Karl Marx bei „Anne Will“ wie so oft in seiner Rezeptionsgeschichte. Er war zwar omnipräsent, fehlte aber trotzdem. Wenigstens musste an diesem Abend keiner deswegen sterben.   

Anzeige