Inflation in der Eurozone - Brandbekämpfung ohne Feuerwehr

Mit 9,1 Prozent im Euroraum klettert die Inflationsrate auf nie gekannte Höchstwerte, und die Bundesbank stimmt bereits auf Werte um die 10 Prozent ein. Die EZB hat den Grund für die derzeitige Geldentwertung selbst geschaffen – und befindet sich jetzt in einem Dilemma. Uns steht ökonomisch nicht nur ein Winter des Missvergnügens ins Haus, sondern eine längere Periode der Stagflation.

Randale wegen der steigenden Inflationsrate an diesem Wochenende in Paris / picture alliance
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Roland Wöller ist Abgeordneter (CDU) im sächsischen Landtag und Professor für Volkswirtschaftslehre. Von 2017 bis 2022 war er Staatsminister des Innern in Sachsen.

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Es brennt. Nicht nur die sommerlichen Waldbrände im Harz und der Sächsischen Schweiz heizen uns ein. Nein, auch die Inflation hat Feuer gefangen. Mit 9,1 Prozent im August im Euroraum und sogar 23,1 Prozent im Juli in Estland klettern die Inflationsraten auf nie gekannte Höchstwerte. Die Bundesbank stimmt uns bereits auf Werte um die 10 Prozent ein. Es kommt einiges zusammen: Corona, Krieg, Energiekrise und jetzt auch noch Inflation. Was also tun? 

Die Bundesregierung schnürt ein milliardenschweres Entlastungspaket nach dem anderen. Bundeskanzler Scholz lädt sogar Arbeitgeber und Gewerkschaften zu einem Gipfel ein, um die „Inflation zu stoppen und eine Wirtschaftskrise abzuwenden“. Man stelle sich vor, es brennt in der Stadt. Der Gemeinderat senkt den Trinkwasserpreis, und der Bürgermeister lässt kostenlos Eimer an die bedürftigen Haushalte verteilen, um das Feuer zu bekämpfen. Brandbekämpfung ohne Feuerwehr. So wird das zwar nichts, aber genau so geschieht es. Während die Arbeitsteilung bei der Waldbrandbekämpfung klar ist, fragt man sich, wo eigentlich die Feuerwehr ist, um den Inflationsherd in der Eurozone unter Kontrolle zu bringen.

EZB erfüllt ihren Auftrag nicht

Dies ist die Aufgabe der Europäischen Zentralbank. Sie hat den Auftrag, das Preisniveau stabil zu halten. Dazu genießt sie wie keine andere Institution in der Demokratie – wie Ihr Vorbild die Deutsche Bundesbank – eine einzigartige Unabhängigkeit. Nicht nur gemessen an der Inflationsrate erfüllt sie ihren gesetzlichen Auftrag derzeit nicht. Während die EZB zwar warnend die Stimme angehoben hat, ist die US-amerikanische Notenbank Fed mit kräftigen Leitzinsanhebungen zur wirksamen Inflationsbekämpfung übergegangen. Der entschuldigende Verweis auf Corona-Lockdown und den Krieg in der Ukraine ist nicht ganz falsch, aber wohlfeil. Beide Krisen wirken wie Brandbeschleuniger. 
 

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Die eigentlichen Inflationsursachen aber liegen tiefer. Die EZB hat den Grund für die derzeitige Inflation selbst geschaffen. Im Wettbewerb „Wer druckt das meiste Geld?“ hält die EZB das monetäre Gaspedal seit Jahren durchgedrückt. Entsprechend wächst die Geldmenge. Die erweiterte Geldmenge M3 schoss 2008 zum Zeitpunkt der Finanzkrise von 9 Billionen auf 15,9 Billionen Euro im Juni 2022. Eine Steigerung um mehr als 75 Prozent. Nimmt man die Zentralbankgeldmenge, die sich von 879 Milliarden auf 6225 Milliarden erhöht hat, so handelt es sich im gleichen Zeitraum sogar um mehr als eine Versiebenfachung. Während dieser Zeit stieg die Wirtschaftsleistung der Eurozone aber nur um 27 Prozent von 9,6 auf 12,2 Billionen Euro. Eine massive Geldmengenausweitung, die in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung steht. 

Wird im Verhältnis zur Güterproduktion zu viel Geld gedruckt, führt dies langfristig zu Inflation. „Money is always and everywhere a monetary phenomenon”, lautete das Diktum von Milton Friedman. Dies besagt die gute alte Quantitätstheorie des Geldes, die die umlaufende Geldmenge mit dem Preisniveau ins Verhältnis setzt. Die Tatsache, dass dieser Zusammenhang die letzten Dekaden so nicht zu beobachten war, ändert nichts an seiner Gültigkeit. Die Abwesenheit eines Beweises ist nicht der Beweis für seine Abwesenheit, sagen die Mediziner.

Politisches Chaos

Die langfristige wirtschaftshistorische Erfahrung zeigt, dass übermäßige Geldmengenausweitungen langfristig regelmäßig in Inflation oder gar politischem Chaos enden. Dies wusste schon Kopernikus. Der revolutionierte nicht nur unser Weltbild, sondern redete auch den preußischen Landständen 1522, also vor genau 500 Jahren, wegen einer grassierenden Münzentwertung ins Gewissen: „Wenn mehr Münzen ausgeprägt werden als der Zahlungsverkehr benötigt, entstehen dadurch Entwertungen.“ Und er forderte deshalb: „Es muss verhindert werden, dass zu viele Münzen geprägt werden.“ Seine Vorschläge wurden von den Räten ebenso in den Wind geschlagen wie auch von späteren Herrschern und Regierungen. Mit entsprechenden Folgen für Inflation und Hyperinflation.

In der Eurozone hat sich der aufgebaute Geldmengenüberhang erst spät in einer Inflation entladen. Dies hat Gründe. Die digitale Geldschwemme füllte zunächst die Konten der Banken bei der EZB. Diese Einlagen wuchsen laut Bundesbank von 670 Milliarden Euro im Januar 2008 auf 4.642 Milliarden Euro im Juli 2022, und wurden dementsprechend nicht nachfragewirksam. Das scheint aber jetzt vorbei zu sein. Es gibt aber erste Anzeichen, dass sich die Kreditvergabe beschleunigt und damit in Nachfrage umsetzt. Diese führt bei coronabedingt gestörten Lieferketten und begrenztem Angebot zu massiven Preissteigerungen. Die Banken verfügen über üppige Finanzierungsmöglichkeiten und müssen keine Gedanken an die Refinanzierung verschwenden – zumal die EZB keine Anstalten macht, den Geldüberhang wieder einzusammeln. 

Im Gegenteil: Statt auslaufende Anleihen aus den überdimensionierten Ankaufprogrammen der zurückliegenden Jahre stillzulegen, will die EZB Zinsdifferenzen bei den Ländern der südlichen Eurozone wie Italien, Spanien oder Griechenland bekämpfen. Mit einem speziellen „Anti-Fragmentierungsinstrument“ sollen gezielt Anleihen aus diesen Südländern gekauft und so angeblich der Zusammenhalt der Eurozone gesichert werden. Eine geldpolitische Nebelkerze. Abgesehen von der Tatsache, dass Zinsdifferenzen keinesfalls „marktwidrig“ sind, sondern unterschiedliche Risikoprämien von Schuldnern widerspiegeln, wird so die Inflation noch beschleunigt. Dabei ist das Verbot der Schuldenfinanzierung durch die EZB bereits ebenso über Bord geworfen worden wie der Haftungsausschluss für Staatsschulden durch andere. 

Und die Gefahren einer übermäßigen Staatsverschuldung nehmen zu.  Die staatliche Verschuldung im Euroraum ist von 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2008 auf derzeit 96 Prozent gestiegen. Die Diskussionen über eine Aussetzung der Schuldenbremse in Deutschland und der ohnehin außer Kraft gesetzten Stabilitätspakte lassen dabei nichts Gutes ahnen. 

Die EZB im Dilemma

Die EZB befindet sich in einem Dilemma: Preisniveaustabilisierung oder billiges Geld für Staatsschulden? Sie hat sich für Letzteres entschieden. Darüber täuschen auch nicht die kleinen Zinserhöhungen der EZB hinweg, die zu spät und zu zaghaft ausfallen. Die als „historisch“ bezeichnete Zinserhöhung von 0,75 Punkten auf 1,25 Prozent führt bei einer durchschnittlichen Teuerung im Euroraum von 9,1 Prozent immer noch zu negativen Realzinsen von über 7 Prozent. Sprich: Geldvermögen wird entwertet; Schuldner gewinnen und Sparer verlieren. Eine brisante Gemengelage. 

Zu den größten Schuldnern gehören die Staaten der Eurozone. Und die haben ein Interesse an Entlastung, dem die EZB bislang umfangreich nachgekommen ist. Die Bundesbank hat hierzu im Juli aufschlussreiche Zahlen präsentiert: Die Staatsschulden der Eurozone sind seit 2008 um 2,3 Billionen Euro gewachsen. Im gleichen Zeitraum hat die EZB insgesamt 3,6 Billionen Euro aufgekauft – ein Drittel der Staatsschuld aller Staaten der Eurozone. Eine notwendige und deutliche Leitzinserhöhung würde aber nicht nur die Finanzierungskosten der Staaten, insbesondere Italiens, bedeuten, sondern auch die Kurswerte der Anleihen sinken lassen, von denen die italienischen Banken und institutionelle Anleger größere Anteile in ihren Portfolios halten. Der Abschreibungsbedarf würde das Eigenkapital des Finanzsektors übersteigen und eine weitere Finanzkrise verursachen. 

Daher werden deutlichere Zinsschritte der EZB auf sich warten lassen. Eigentlich müsste der Leitzins auf 10 Prozent und damit über die derzeitige Inflationsrate von 9,1 Prozent steigen, um die Inflation zu bremsen. Das wird aber kaum geschehen. Vorrangiges Ziel der EZB ist die Gewährleistung der Preisniveaustabilität. So legt es Art. 127 AEUV fest. Die EZB hat sich aber schon lange von ihrem gesetzlichen Auftrag verabschiedet und die „Bremsen ausgebaut“, wie Hans-Werner Sinn schreibt (siehe auch Interview). Mit fatalen Folgen für Inflation und den sozialen Zusammenhalt Europas. Man fühlt sich an Ray Bradburys dystopischen Roman „Fahrenheit 451“ erinnert. Dort löscht die Feuerwehr nicht Brände, sondern legt sie.

Vertrauen als Basis jeder harten Währung

Kern jeder harten Währung ist Vertrauen. Das hat die EZB im Gegensatz zur ihrem Vorbild Bundesbank nun verspielt. Dies spiegelt sich auch in den Inflationserwartungen. Rechneten zu Beginn des Jahres 2020 die Befragten mit einer Inflationsrate von 2,5 Prozent in den folgenden zwölf Monaten, lag dieser Wert im Juli bei 8 Prozent. Auch bei den Bürgern scheint die Inflation angekommen zu sein – um zu bleiben. 

Uns steht deshalb ökonomisch nicht nur ein (kalter) Winter des Missvergnügens ins Haus, sondern eine längere Periode der Stagflation. Wer im Frankfurter EZB-Turm meint (und viele tun es), dies sei nur ein vorübergehendes Phänomen, sollte das Buch von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff über acht Jahrhunderte Finanzkrisen lesen: „Dieses Mal ist alles anders“. Oder doch nicht?

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