Inflation, Lieferengpässe, Arbeitskräftemangel - Eine Krise wie keine zuvor

Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Dienstleistungen zeigen, dass sich die Auswirkungen der Pandemie derzeit eher verstärken. Dadurch wächst bei vielen Menschen der Eindruck, dass mit unserer Gesellschaft etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt. Wirtschaftliche Umstrukturierungen werden unausweichlich sein.

Leere Regale in einem Coop-Supermarkt in Battersea, Südlondon / picture alliance
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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In der vergangenen Woche habe ich auf mehreren Konferenzen persönlich gesprochen und moderiert – eine Seltenheit seit Beginn der Pandemie –, deren Themen von Verteidigung und Sicherheit über regionalen Handel bis hin zu europäischen Angelegenheiten reichten. Der gemeinsame Nenner war die Geopolitik. Was mir aber bei meinen Gesprächen am meisten auffiel: dass sich fast alle Teilnehmer insbesondere über die Inflation und den „grünen Wirtschaftswandel“ in Europa Gedanken machten – nicht über den Abzug aus Afghanistan oder die Wahlen in Deutschland.

In der Tat hatten fast alle Gespräche eines gemeinsam: die wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Gesellschaft angesichts der Pandemie. Bis August wurde die Inflation im Allgemeinen durch den Energiesektor und eine kleine Gruppe von Gütern wie etwa Halbleiter ausgelöst, deren Preisanstieg mit der Krise der Lieferketten zusammenhing. Wie die jüngsten Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Dienstleistungen zeigen, scheinen sich die Auswirkungen jedoch zu verstärken. Schlechte Wetterbedingungen, ungewöhnliche Dürren und Überschwemmungen, die die Ernten zerstörten und oft als Kollateralschaden des Klimawandels bezeichnet werden, haben zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise beigetragen.

Schonungslos die Schwachstellen gezeigt

Obwohl dies schon vor Corona der Fall war, hat erst die Pandemie schonungslos die Schwachstellen im Lebensmittelsystem offengelegt und sich auf die Produktion, die Versorgung und die Lieferung ausgewirkt. Gestiegene Seefrachtkosten, höhere Kraftstoffpreise und ein Mangel an Lastwagenfahrern treiben die Kosten für Transportdienstleistungen nach oben. 

Darüber hinaus hat die Pandemie den Erzeugern den Zugang zu Arbeitskräften erschwert, die sie brauchen, um die Ernten rechtzeitig auszuliefern (ganz zu schweigen von den Arbeitskräften, die für die Auslieferung und Verteilung anderer Waren benötigt werden). Besonders hart betroffen davon waren im vergangenen Jahr die europäischen Produzenten von Tomaten, Orangen und Erdbeeren. In Australien befürchten Branchenverbände, dass pandemiebedingte Probleme die für diese Saison erwartete hervorragende Ernte von Wintergetreide zunichte machen könnten.

Die Lebensmittelindustrie ist jedoch nicht die einzige Branche, die mit derartigen Problemen zu kämpfen hat. Eine Erklärung, die von Personalfachleuten angeführt wird, besagt, dass offenbar ein Missverhältnis existiert zwischen Arbeitskräfte-suchenden Branchen auf der einen sowie Arbeitsuchenden auf der anderen Seite. Eine weitere Erklärung führt die Tatsache an, dass viele Arbeitnehmer während der Pandemie aus den Städten, in denen sie gearbeitet haben, weggezogen sind, so dass ihre Stellen so lange unbesetzt blieben, bis ein besseres Gefühl dafür herrscht, wann die Pandemie abklingen wird. Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass die Arbeitskräfte willens und in der Lage sind, von einem Ort zum anderen zu ziehen.

Eine seltsame Kombination

Zum ersten Mal erleben wir sowohl eine hohe Arbeitslosigkeit als auch eine hohe Inflation – etwas, das nicht normal ist, wenn sich die Wirtschaft von einer Rezession erholt (und auch ganz allgemein nicht normal ist). Üblicherweise geht die Inflation mit der Erholung und dem Wachstum einher, wodurch die Arbeitslosigkeit eigentlich sinkt. Das Problem ist, dass die Inflation unausgewogen ist: Es gibt zu viele Arbeitsplätze und zu wenige Menschen, die sie annehmen wollen.

Der Sommer 2021 ist natürlich alles andere als normal verlaufen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Die Delta-Variante in Verbindung mit eher niedrigen Impfraten hat die Zahl an Infektionen wieder ansteigen lassen und damit die Erholung des Dienstleistungssektors verlangsamt. Zusätzlich zu den Versorgungsengpässen, die sowohl die Ausgaben der Verbraucher als auch die der Unternehmen weltweit beeinträchtigen, haben eine ständige Welle düsterer Nachrichten über Afghanistan, die globale politische Stabilität und auch über extreme Ereignisse wie Wirbelstürme und Waldbrände das Vertrauen der Verbraucher untergraben.

Vertrauen ist für das Funktionieren einer Wirtschaft aber unerlässlich. Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, wie anfällig unser derzeitiges Sozialsystem ist. Wie bei der globalen Finanzkrise 2008 erleben die Menschen die negativen Auswirkungen der Globalisierung aus erster Hand, auch wenn sie sich mit der Tatsache abfinden müssen, dass Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit Realitäten sind, die nicht so schnell rückgängig gemacht werden können. Es ist nur vernünftig, dass sie die derzeitigen Spielregeln in Frage stellen, wenn diese Regeln Schmerz und Leid verursachen.

Am Ende ist es die Schmerztoleranz der Menschen, die einen politischen Wandel auslöst. Bei so viel allgemeiner Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie das globale System funktioniert, hat die Vorstellung, dass mit unserer Gesellschaft etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt, auf ihre Weise die Diskussion über Nachhaltigkeit und Klimawandel vorangetrieben. Die Erkenntnis, dass wir in einer fragilen Welt leben, verlangt, dass wir unsere Regierungen dazu auffordern, unsere Existenz zu sichern – und gleichzeitig die Wirtschaft zu stabilisieren. Natürlich ist dies ein radikaler Wandel, der eine sozioökonomische Umstrukturierung erfordert.

Geoökonomie statt Geopolitik

Aus geopolitischer Sicht sind die Staaten aufgefordert, ihre wirtschaftliche Macht zu nutzen, um sichere und stabile Lebensbedingungen für ihre Bevölkerungen zu gewährleisten. Dies ist schon seit langem der Fall, aber die Dringlichkeit notwendiger Veränderungen in einer Zeit des intensiven internationalen Wirtschaftswettbewerbs macht den Wandel von Geopolitik hin zu Geoökonomie erforderlich. Die traditionelle Bedeutung der Geoökonomie besteht darin, dass die Nationen außenwirtschaftliche Instrumente einsetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen. 

Im gegenwärtigen Kontext zutiefst unsicherer Zeiten – wegen der Pandemie, des Klimawandels und der digitalen Revolution – bezieht sich die geoökonomische Funktion des Nationalstaates auf den Einsatz wirtschaftlicher Instrumente zum Erreichen politischer Ziele und zur Stärkung der Macht des Nationalstaates. Die Kontrolle der Märkte, die Verwaltung von Handelsüberschüssen und der Einsatz von Wirtschaftssanktionen oder von strategischen Investitionen zur Stärkung des politischen Einflusses sind Teil des Arsenals, das ein Land einsetzen kann, um seine wirtschaftliche Macht aufzubauen, zu erhalten und zu vergrößern.

Aber was ist wirtschaftliche Macht? Wie können wir sie angesichts der Komplexität der pandemischen Zeiten, in denen wir leben, messen? Das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und die Handelsabhängigkeit geben nur einige grundlegende Hinweise auf die wirtschaftliche Stabilität eines Landes. Durch die Pandemie haben wir gelernt, dass die Verfügungsgewalt über strategische Rohstoffe eine wichtige Rolle beim Aufrechterhalten strategischer Sektoren spielt. Was einen strategischen Sektor und damit einen strategischen Rohstoff ausmacht, ändert sich auch je nach Ort und Zeit. Öl ist heute nicht mehr so wichtig wie in den 1970er Jahren; die Wasserversorgung ist zwar für alle lebenswichtig, aber an manchen Orten ist sie strategisch wertvoller als an anderen. 

Externe Phänomene

Extreme Phänomene, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, werfen längerfristig ebenfalls spezifische Fragen auf. Die Fähigkeit, technologische Innovationen hervorzubringen, wird den Ländern Einfluss auf kritische Infrastrukturen geben und sie somit in die Lage versetzen, ihre Stabilität in Zeiten von Extremereignissen wie Dürren und Pandemien zu sichern.

Gleichzeitig ist die Fähigkeit eines Landes, internationale Standards und Normen durchzusetzen, der Schlüssel zur Festlegung der Regeln für das globale Wirtschaftssystem und zur Einflussnahme auf andere Staaten. Im Zuge der Globalisierung gibt es bereits Länder, die in ein und derselben Marktwirtschaft mit unterschiedlichen Normen operieren, aber der Zugang zu strategischen Märkten ist aufgrund der vorherrschenden westlichen Normen immer noch schwierig.

Es gibt daher drei Elemente, auf die sich ein Staat beim Aufbau seiner geoökonomischen Strategie konzentrieren sollte. Erstens muss er die wirtschaftliche Stärke, die er derzeit hat, erhalten. Zweitens muss er einseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten abbauen. Drittens muss er eine Strategie entwickeln, die den Wert seiner wirtschaftlichen Stärke erfasst und erweitert. Bei diesen drei Schritten konzentriert sich das Land auf die Definition seiner wirtschaftlichen Stärken, die letztlich von der Bevölkerung geprägt werden. Die Humanressourcen eines Landes sind das wertvollste Kapital für die geoökonomische Strategie, insbesondere in unsicheren Zeiten.

Deshalb muss das instabile Verhältnis zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit als ernstzunehmendes Signal für eine wirtschaftliche Umstrukturierung verstanden werden. Menschliches Verhalten, das durch menschliches Leid hervorgerufen wird, kann eine Revolution auslösen, die die Regeln des globalen Systems verändern könnte.

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