Finanzmärkte - 2022 wie 1962?

Das Jahr 2022 wird als katastrophales Jahr für die Finanzmärkte in die Geschichte eingehen. Die erste Jahreshälfte war die schlechteste seit 60 Jahren. Unser Kolumnist Daniel Stelter erklärt, vor welchen Szenarien die Weltwirtschaft steht und was das für Ihre Geldanlage heißt.

Die EZB weigert sich, die Inflation konsequent zu bekämpfen / dpa
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Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums „Beyond the Obvious“. Zuvor war er bei der Boston Consulting Group (BCG). Zuletzt erschien sein Buch „Ein Traum von einem Land: Deutschland 2040“.

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Die ersten sechs Monate dieses Jahres waren an der US-Börse die schlechtesten seit dem Zweiten Weltkrieg, mit Ausnahme des Jahres 1962. Damals bewirkte die Kuba­krise einen massiven Ausverkauf an den Märkten, und erst nach der friedlichen Lösung kam es zur Trendwende. Was zur Frage führt, ob wir auch heute auf eine bessere zweite Jahreshälfte hoffen dürfen.

Aus dem Blickwinkel der Bewertung kann man zum Schluss kommen, dass Aktien deutlich günstiger geworden sind. Weniger sicher ist hingegen die Gewinnentwicklung der Unternehmen. Angesichts der konjunkturellen Risiken wäre es nicht überraschend, wenn die Analysten hier noch zu optimistisch sind. Im Kern hängt die Entwicklung der Börsen von drei Faktoren ab: dem Fortgang des Krieges, der Entwicklung der Inflation und der Konjunktur.

Harte Landung sehr wahrscheinlich

Zurzeit spielt der Krieg in der Ukraine keine große Rolle an den Börsen. Die Börsianer stellen sich auf einen anhaltenden Konflikt ohne weitere Eskalation ein. Risiken mit Blick auf die Energieversorgung betreffen die europäischen Märkte deutlich stärker als die Leitbörse in den USA. Bewegung brächten nur zwei Szenarien: Eine Verschärfung des Konflikts, etwa durch direkte Beteiligung anderer Staaten, würde zweifellos zu einem Crash führen. Eine friedliche Lösung zu einer Rallye, vor allem dann, wenn sie mit einer Beendigung der Sanktionen verbunden wäre. Unwahrscheinlich.

Die Inflation ist das beherrschende Thema. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich warnt, dass wir einen „Kipppunkt“ erreichen könnten, an dem sich die Inflation verselbstständigt und nur durch starke Maßnahmen, die ein Abwürgen der Konjunktur bewirken, zu stoppen wäre. Die Märkte hingegen setzen bereits auf einen Rückgang der Inflationsraten, ablesbar an der Kursentwicklung von Anleihen. Damit verbunden ist die Erwartung, dass die Notenbanken die Zinsen nicht in dem Maße erhöhen, wie noch vor kurzem erwartet. Denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Erweist sich die Inflation als hartnäckig, droht den Börsen der nächste Dämpfer.

Bleibt die Hoffnung, dass es zu keiner harten Landung der Wirtschaft kommt. US-Notenbankchef Powell hat das Risiko einer Rezession ausdrücklich nicht ausgeschlossen, und einige Beobachter glauben, dass die Fed bereit ist, zur Eindämmung der Inflation eine Rezession zu verursachen. Deren Modelle beziffern das Risiko einer harten Landung auf 80 Prozent.

Pest oder Cholera

Damit ist klar, wie Sie sich für das zweite Halbjahr positionieren: Glauben Sie an rückläufige Inflation und eine sanfte Landung, sind Aktien ein klarer Kauf. Sehen Sie Chancen für eine Entspannung in der Ukraine, erst recht. Sind Sie skeptisch und glauben, dass die Inflation sich als dauerhafter erweist, dann spielen Sie die Märkte. Es wird immer wieder starke Erholungen geben, die von Einbrüchen abgelöst werden, mit einem Trend zu tieferen Kursen.

Das liegt auch daran, dass die Rolle der US-Notenbank sich geändert hat. Konnten die Börsianer in den vergangenen 30 Jahren darauf setzen, dass die Fed zur Hilfe eilt, wenn die Märkte unter Druck waren, ist es diesmal umgekehrt. Jede Stärke der Märkte signalisiert der Notenbank, dass sie mit der Inflationsbekämpfung weitermachen kann.

Und Europa? Trotz der Weigerung der EZB, konsequente Inflationsbekämpfung auch nur im Ansatz zu probieren, ist das Rezessionsrisiko nicht geringer, angesichts einer Energiekrise, verschärft durch das unentschlossene Handeln der Politik. Europa droht damit der Kipppunkt bei Inflation und Konjunktur, eine Entwicklung, die mit dem Begriff der „Stagflation“ unzureichend in ihrer Dramatik beschrieben wird. Sicherlich kein Umfeld für steigende Kurse.

1962 erzielten die US-Börsen vom Tiefpunkt bis Jahresende einen Gewinn von 15 Prozent, was den Jahresverlust auf 11 Prozent beschränkte. 2022 wäre das ein Ergebnis, über das wir uns wirklich freuen sollten. 

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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