Energieabhängigkeit - Kalter Entzug: Kann Deutschland ein Gas-Embargo verkraften?

Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdgas ist ein verhängnisvoller Fehler. Aber er lässt sich nicht von heute auf morgen korrigieren. Wer einen Energieimport-Stopp gegen Putin fordert, muss sich klar darüber sein, was auf dem Spiel steht. Neue Lieferanten können die Lücke kurzfristig nicht füllen.

Auf der Suche nach neuen Lieferanten: Wirtschaftsminister Robert Habeck zu Gast in Katar / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Der Druck steigt: Gazprom-Großkunde Deutschland finanziert Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine täglich mit Millionenbeträgen. Das Erdgas aus Putins Pipelines fließt trotz aller Sanktionen weiter Richtung Westen. Nicht nur aus der Ukraine und aus dem Nato-Nachbarland Polen kommen daher Forderungen, Berlin müsse endlich reagieren und einen Importstopp für russisches Gas, Öl und Kohle verhängen. Auch in Deutschland werden diejenigen lauter, die einen solchen Schritt fordern. Die Bundesregierung lehnt dies bislang ab – aus guten Gründen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck, der die deutsche Energiewende eigentlich mit russischem Gas retten wollte, versucht derzeit fieberhaft, alternative Lieferanten zu finden. Am Wochenende war er in Katar zu Gast und verbeugte sich vor dem Emir, damit dessen Flüssiggas künftig nach Deutschland verschifft wird. Außerdem opferte der Grünen-Politiker den schnellen Kohleausstieg: Statt neuer Gas-Kraftwerke sollen bestehende Kohlekraftwerke die Stromversorgung stabilisieren.

Nur an das Tabuthema Atomenergie traut er sich noch nicht heran. Immerhin sechs Kernkraftwerke könnten in Deutschland gerettet werden, wenn die Grünen über ihren Schatten springen. Ihren Parteifreunden in Finnland und zuletzt in Belgien ist dies bereits gelungen.

Wirtschaftsweise warnt vor Gas-Embargo

Klar ist: Jedes Kraftwerk, das nicht mit Gazprom-Gas betrieben wird, hilft. Doch die größte Abhängigkeit von Russlands fossilen Schätzen besteht nicht bei der Stromerzeugung, sondern beim Heizen und in der Industrie. Und da gesetzlich festgelegt ist, dass Privatverbraucher als letztes das Gas abgedreht bekommen, werden bei einer Versorgungsknappheit zunächst Betriebe die Produktion einstellen müssen. Welche volkswirtschaftlichen und damit auch politischen Folgen dies haben kann, ist offenbar nicht jedem klar, der derzeit einen Gazprom-Boykott fordert.

In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung warnt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer eindringlich vor einem solchen Schritt. „Ich habe die große Sorge, dass ein Embargo nicht nur massive wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge hätte“, sagt die Ökonomin. Das größte Problem sei die Industrie. „Denken Sie an die chemische Industrie. In fast jedem Produkt, das wir im Alltag benutzen, steckt ein chemisches Vorprodukt. In der Pandemie haben wir Restaurants und Hotels zugemacht, und das hat uns wirtschaftlich getroffen. Aber wir hatten kaum Produktionsausfälle. Das wäre bei einem Embargo anders, weil essenzielle Vorprodukte fehlen würden. Die Kosten wären unüberschaubar.“

Produktionsstopps in der Industrie 

Die Chemieindustrie benötigt gewaltige Mengen an Gas. Zum einen als Grundstoff, um daraus andere Produkte herzustellen. Zum anderen als Brennstoff, der Wärme für chemische Prozesse liefert. Diese Gasmengen lassen sich kurzfristig nicht ersetzen. Wenn Russland als Lieferant ausfällt, wird das zu Produktionsstopps in Deutschland führen.

Selbstverständlich ist diese Abhängigkeit ein schwerer Fehler der deutschen Energiepolitik. Er muss korrigiert werden. Aber was seit Jahrzehnten schief läuft, lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Zumindest nicht ohne drastische Folgen. Es wäre ein kalter Entzug.

Optimistischer schätzen Wissenschaftler der Nationalakademie Leopoldina die Lage ein. In einer Ad-hoc-Stellungnahme erklären sie, „wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt“. Sie kommen zu dem Schluss, „dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre“.

Allerdings beschreiben die Leopoldina-Autoren auch deutlich, was dann droht: „Versorgungseinschränkungen bei Industriebetrieben“. Es sei ein Szenario vorstellbar, „bei dem im Sommer alle Bedürfnisse der industriellen Produktion erfüllt werden, im Winter jedoch erhebliche Einschränkungen der industriellen Produktion drohen“.

Wirtschaftsstandort leidet schon jetzt

Was in der Leopoldina-Stellungnahme als „handhabbar“ bewertet wird, ist es in Wirklichkeit nicht. Deutschlands Zukunft als Industriestandort hängt davon ab, dass die Energieversorgung zuverlässig und bezahlbar bleibt. Das war schon vor dem Krieg in der Ukraine ein wachsendes Problem. Jetzt wird es zur Schicksalsfrage.

Die meisten Unternehmen, die noch in Deutschland produzieren, sind längst international tätig. Aus lokalen Mittelständlern sind kleine Weltkonzerne geworden, die Produktionsstätten auf mehreren Kontinenten betreiben. Wenn diese Firmen ihre Fabriken in Deutschland wegen Gasknappheit schließen müssen, ist fraglich, ob sie jemals wieder öffnen.

Gescheiterte Kamikaze-Aktion

Angesichts der russischen Zerstörungswut und dem, was in der Ukraine auch für den gesamten Westen auf dem Spiel steht, kann es richtig sein, dass Deutschland dieses wirtschaftliche Risiko auf sich nimmt. Doch klar muss auch sein, was dabei auf dem Spiel steht. Die Bundesrepublik hat Putin militärisch kaum etwas entgegenzusetzen, ihr außenpolitisches Gewicht beruht auf wirtschaftlicher Stärke. Wenn Deutschland sich in einer unglücklichen Kamikaze-Aktion ruiniert, ohne dadurch Putins Regime zu stürzen, hat die Ukraine nichts davon.

Sobald Massenarbeitslosigkeit und weiter steigende Inflation zu spüren sind, wird die deutsche Wählerschaft ihre Unterstützung einer solchen Politik wahrscheinlich schnell aufgeben. Das ist das Szenario, das auch Robert Habeck fürchtet. Der Wirtschaftsminister hat bereits klargemacht, dass ihm lieber wäre, wenn Putin Deutschland den Gashahn abdreht als umgekehrt. Der Schaden wäre zwar genauso verheerend, aber die politische Verantwortung läge woanders.

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