Doku zu Wirecard-Skandal - „Die wollen dich umbringen“

Für „Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ haben sich Sky Studios, rbb, NDR, SWR und BR zusammengetan. Das Ergebnis: Ein Dokumentarfilm, der den übergroßen Dimensionen des Finanzskandals gerecht wird. In der ARD-Mediathek steht er ab sofort zur Verfügung.

Jan Marsalek ist auf der Flucht / Screenshot aus der ARD-Doku
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Autoreninfo

Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Es ist die Geschichte von David gegen Goliath. Auf der einen Seite der weltweit agierende, milliardenschwere Finanzdienstleister Wirecard mit Sitz in Aschheim bei München, den auch noch so evidente Enthüllungen über Geldwäsche und gefälschte Bilanzen nicht von der Erfolgsspur abbringen können. Auf der anderen Seite ein für Wirecard in Singapur tätiger Justitiar, seine Mutter und eine Handvoll Journalisten, Blogger und Personen aus der Finanzbranche, die den Glauben daran bewahren, dass die Nemesis auch scheinbar unantastbare Finanzdienstleiter nicht verschont.

Das ist der Handlungsbogen, der für den Dokumentarfilm „Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ gespannt wird. Knapp 100 Minuten dauert das tiefste Verästelungen durchdringende TV-Stück, für welches die Autoren um die halbe Welt gereist sind, nach Dubai, Singapur, London. Sie trafen an der Aufklärung Beteiligte, recherchierten, interviewten. Auf Sky und Arte war die Doku bereits zu sehen, heute Abend läuft sie noch im Hauptprogramm der ARD, leider erst um 22.50 Uhr. Die Familienserie „Die Heiland – Wir sind Anwalt“ und „In aller Freundschaft“ genießen ein Vorrecht auf bessere Sendezeiten. Damit vertut der öffentlich-rechtliche Rundfunk mal wieder eine große Chance, ein Thema von enormer politischer Tragweite zur besten TV-Zeit zu platzieren.

Gefälschte Rechnungen, vorgetäuschte Geschäftsbeziehungen

Zurück zur Wirecard-Doku: Pav Gill aus Singapur hat vor einigen Jahren angefangen, bei Wirecard zu arbeiten. Seine Mutter war stolz, sie sagt, Pav sei „sehr deutsch“, das heißt also: sehr zuverlässig, gewissenhaft, arbeitsam. Damals scheint es, als hätte Gill den perfekten Job gefunden. Schnell merkt er jedoch, dass in diesem nach außen hin schwer erfolgreichen Unternehmen etwas nicht stimmt. Er lernt Kollegen kennen, die Andeutungen machen wie: „Es kommt vor, dass hier Leute verschwinden.“

Bald darauf kommen ihm auch aus unternehmerischer Sicht Zweifel. Warum werfen Tochterfirmen von Wirecard im Pazifikraum ähnlich hohe Gewinne wie vergleichbare Unternehmen in Europa ab? So etwas passiere normalerweise nie, sagt Gill rückblickend. Gill wendet sich an die Finanzabteilung, kommt in Kontakt mit einer Kollegin, die heikle Unterlagen besitzt. Er überredet sie, ihm die Unterlagen zu zeigen. Was er zu sehen bekommt, trifft ihn bis ins Mark: gefälschte Rechnungen, Kontoauszüge mit Überweisungen an Unternehmen, zu denen Wirecard gar keine Geschäftsbeziehungen unterhält. Die Kollegin warnt Gill: Jan Marsalek, der Strippenzieher und rechte Hand von Wirecard-Chef Markus Braun, wisse von diesen zwielichtigen Geschäften.

Rasch gerät Gill mit seinen unangenehmen Nachbohrungen in das Visier des Vorstands. Er wird gedrängt, auf „Dienstreise“ nach Jakarta zu gehen. Seine Mutter verzweifelt, sagt ihm: „Die wollen dich umbringen.“ Tage später bekommt Gill von zwei Kontakten den Rat, diese Dienstreise keinesfalls anzutreten. Deren Warnung: Das werde „eine Reise ohne Rückfahrtschein“.

Bewusstes Wegsehen der Behörden

Ortswechsel: London. Der Shortseller Matthew Earl hatte es geahnt, bei Wirecard stimmt etwas nicht. 2016 veröffentlicht er den Zatarra-Bericht. Anonym. Zu groß die Furcht vor den Anwälten und den langen Armen des „Wirecard-Systems“. Es hilft nichts. Ein ehemaliger Mitarbeiter berichtet in der Doku von Marsaleks Reaktion. Er wolle zurückschlagen, soll er gesagt haben. Marsalek fliegt nach London und bezahlt 50 Millionen Euro an Agenten, um herauszufinden, wer hinter dem Bericht steckt. Und sie bekommen es heraus. Matthew Earl wird künftig vor seinem Haus gestalkt und bedroht.

Earl sagt, er habe damals auch Kontakt zur deutschen Finanzaufsichtsbehörde BaFin aufgenommen. Die Antwort darauf: Ihre Englischkenntnisse seien nicht gut genug. Schließlich wurde nicht gegen Wirecard ermittelt, sondern gegen Earl. Auch wenn es nur ein Randthema im Dokumentarfilm ist: Durchgehend schwebt die Frage im Raum, wie einflussreiche Stellen der deutschen Justiz und des deutschen Staats so lange bewusst wegsehen konnten. Ingo Malcher von der Zeit nennt eine mögliche Erklärung: „Es war eine patriotische Maßnahme, um ein deutsches Unternehmen gegen Angriffe der Angelsachsen zu schützen.“

Marsalek auf der Flucht

Schließlich flog das verbrecherische Konstrukt doch auf. Pav Gill und seine Mutter Evelyn wandten sich an die Investigativjournalistin Clare Brown. Die machte Druck bei zahlreichen einflussreichen Zeitungen, bis die Financal Times sich endlich zur Veröffentlichung durchringen konnte. Der Anfang vom Ende von Wirecard. Braun und Marsalek gerieten zunehmend unter Druck. Als sich 1,9 Milliarden Euro auf einem Treuhandkonto auf den Philippinen als nonexistent erwiesen, fiel das kriminelle System in sich zusammen. Jan Marsalek floh ins Ausland, sein momentaner Aufenthaltsort ist nicht bekannt, Belarus, so wird vermutet. Gegen ihn ist ein internationaler Haftbefehl ausgestellt. Markus Braun sitzt in Untersuchungshaft, angeklagt wegen des Verdachts der Bilanzfälschung.

Bei „Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ stehen die Protagonisten im Vordergrund, die zur Aufklärung dieses weltumfassenden Verbrechens beitrugen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser glänzend recherchierte und packend aufbereitete Dokumentarfilm der Wirecard-Thematik die Aufmerksamkeit bringt, die ihr gebühren sollte. Zu wünschen wäre das vor allem den unzähligen Kleinanlegern, deren Ersparnisse mit dem Implodieren des kriminellen Finanzkonstrukts verloren gegangen sind, und für deren Schicksal sich in Deutschland kaum jemand zu interessieren scheint.

„Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ in der ARD-Mediathek.

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