Die Ära Merkel - Ups, da ist etwas schiefgelaufen

Deutschland hat sich vorsätzlich abhängig gemacht von fremden Interessen und fremdem Wohlwollen. Dafür wird es irgendwann die Quittung erhalten. Kein Wunder, dass der Wunsch wirklich fähiger Leute, ins Kanzleramt einzuziehen, gegen null tendiert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim „G20 Compact with Africa“-Treffen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

So erreichen Sie Jens Peter Paul:

Anzeige

Es gibt Problemfelder, da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll und vor allem, wo aufhören, um nicht wichtige Aspekte zu vergessen. Ein solches ist die weltweit zu beobachtende Revision des Entgrenzungs-Paradigmas, befördert durch die Erkenntnis, dass wir es seit der Jahrtausendwende mit der Globalisierung, der Arbeitsteilung, neuerdings auch mit dem Vertrauen in die USA deutlich übertrieben haben.

Beispiel Pandemie-Bekämpfung: Deutschland galt bis vor gut 30 Jahren als Apotheke der Welt. Damit machte Jürgen Dormann als Chef der Hoechst AG absichtlich Schluss, indem er seinen Konzern in Tausend Stücke zerschlug, weil er diesen „verkrusteten, introvertierten Laden“, wie er es nannte, satt hatte. Seine Fusionspläne scheiterten in Serie; am Ende blieb nur der Ausverkauf.

Schrumpfung der Wertschöpfung

Eine Generation später ist unser Land nicht in der Lage, die eigene Versorgung mit den gängigsten Antibiotika sicherzustellen. Kliniken und Apotheken klagen über monatelange Lieferengpässe bei wichtigsten Medikamenten und Substanzen. Und das ging schon lange vor Corona los. Als dann aber nicht einmal mehr simple Mund-Nase-Masken in ausreichender Zahl zur Verfügung standen, sondern langwierig und zu Mondpreisen aus dubiosesten Quellen in Fernost beschafft werden mussten (bis dahin war die Maske laut Merkel und Spahn überflüssig, unnütz), sprach sich auch unter Politikern die Erkenntnis herum: Ups, da ist offensichtlich etwas grandios schiefgelaufen. Deutschland braucht wieder eine eigene pharmazeutische Industrie, zumindest für die Grundversorgung.

Beispiel Autoindustrie: Die planmäßige Schrumpfung der Wertschöpfung durch die Umstellung auf E-Mobility ist ja nicht etwa der Erfindung und Durchsetzung einer überlegenen Technologie geschuldet, sondern eine angstgetriebene Reaktion auf die Aussicht immer höherer Strafzahlungen „an Brüssel“ bei Überschreitung künftiger Grenzwerte. Die Darstellung, Tesla lebe allein von staatlichen Überweisungen in Milliardenhöhe, die aus eben jenen Sonderabgaben der Konkurrenz gespeist werden, ist zwar dank klandestiner Bilanztechnik umstritten, aber plausibel.

Groteske Konstellation

Daraus folgt zwingend die Frage, ob Deutschlands Mitgliedschaft in der Europäischen Union tatsächlich noch als Erfolgsgarant gelten darf, wenn eben diese durch immer wieder unrealistische Grenzwerte einen ganzen Industriezweig downgraded und ihre mittelständischen Zulieferer sogar völlig ruiniert – weil ein Elektroauto viel einfacher von angelernten Arbeitern mit um den Faktor zehn weniger Teilen zusammenzusetzen ist als ein High-End-Diesel mit Vollausstattung aus Münchener oder Stuttgarter Produktion. Und die Software kommt ohnehin aus Kalifornien.

In Kombination mit der Tatsache, dass die Bundesrepublik wegen des Brexits ohnehin mehr Steuergeld an Brüssel überweist als jemals zuvor, sehen wir hier eine groteske Konstellation, die nur noch durch einen seltsamen Masochismus erklärt werden kann. Doch wer es auch nur wagt, diese Entwicklung zu problematisieren, wird als Klimaleugner, Europa-Hasser, Autonarr und Nationalist zur Schnecke gemacht und stumm geschaltet.

Druck der Wirklichkeit

Wir haben uns auch auf diesem Feld komplett abhängig gemacht von einer EU-Kommission, die auf eigene Rechnung handelt, wobei ihr die Interessen des (bereits vor Strafzahlungen aller Art) größten Nettoüberweisers herzlich egal ist. Hinzu kommt, dass eben dieser Brexit nach menschlichem Ermessen durch eine rechtzeitige Korrektur der erratischen Berliner Asyl- und Einwanderungspolitik hätte abgewendet werden können, ging es doch im Referendum zuletzt um gerade einmal +/- 1,9 Prozentpunkte, die den Ausschlag pro „Leave“ gaben. Eine Korrektur, die im übrigen Anfang 2016 auch sehr im eigenen Interesse gewesen wäre.

Beispiel Flüchtlingsströme: Die Delegation der Grenzsicherung an EU-Mitglieder, die das Pech haben, unkontrollierbare Küstenlinien oder vollends hilflose Nachbarn zu haben oder gar von autokratischen Machthabern wie Erdogan und Lukaschenko nach Belieben erpresst und terrorisiert werden, hat sich, vorsichtig formuliert, nicht bewährt. Alle drei großen Entgrenzungs-Projekte der Europäischen Union – Maastricht, Schengen und Dublin – müssen als gescheitert gelten; ihre Regeln wurden unter dem Druck der Wirklichkeit suspendiert. An eine Wiederinkraftsetzung wird nicht einmal gedacht.

Die Angst vor hässlichen Bildern

Um nicht vollends überrollt und deshalb abgewählt zu werden, zahlt die Europäische Union, gedrängt und getrieben von der deutschen Bundeskanzlerin und ihrer Angst vor hässlichen Bildern an deutschen Grenzen, Milliardensummen an die Türkei, damit deren Präsident – auch jetzt nach der Afghanistan-Pleite wieder – erledige, wozu man sich selbst nicht in der Lage sieht. Obwohl es, wie uns ausgerechnet eine Seuche 2020 vor Augen führte, sehr wohl möglich ist, wenn man es nur will: die eigenen Grenzen zu schützen und dem Grundgesetz wieder Geltung zu verschaffen, das ein Individualrecht auf Asyl aus politischen Gründen vorsieht, aber keinen weltweiten Anspruch begründet auf Einwanderung in seinen Geltungsbereich.

Diese Bundesregierung denkt aber gar nicht daran, die unwiderstehliche Magnetwirkung vorbildlicher Sozialleistungen für alle, die es irgendwie aufs Staatsterritorium schaffen, endlich abzustellen. Diese Einwanderung geschieht gerne auch nach dem Prinzip des Rechts des Stärkeren, was zwangsläufig eine gewisse Negativauslese bedeutet. Alles Weitere siehe aktuell unter „Ortskräfte“ und jene, die tatsächlich im Flieger saßen.

Deutscher Alleingang

Dies ist nicht nur maximal unfair und ungerecht gegenüber jenen, die schon länger hier leben und die ganze Geschichte durch Steuern und Abgaben in monatlich steigender Höhe finanzieren, was für sie schon lange sinkende Realeinkommen zur Folge hat. Nein: Der deutsche Alleingang in der Asylpolitik belastet auch die Transitländer, die mit den Menschen, die Deutschland als Ziel haben, irgendwie klarkommen müssen. Zusätzlich dürfen sich diese Länder dann von den hiesigen Grünen, Linken und NGOs erklären lassen, wie verkommen sie und ihre Standards doch seien, empörte Kommentare des WDR inklusive.

Beispiel Europäische Währungsunion (EWU): Wenn inzwischen sogar der Präsident der Deutschen Bundesbank Inflationsraten von fünf Prozent für nur noch eine Frage der Zeit hält, sollte dies eigentlich Politik und Medien aufs Höchste alarmieren. Stattdessen geschieht nichts. Denn jede seriöse Debatte führte schnell zu der Frage, ob der Euro es überleben würde, täte die Europäische Zentralbank jetzt das, was schon längst fällig gewesen wäre: die Zinsen zu erhöhen. Dank Euro sind die Zinsen für den nördlichen Teil der Währungsunion viel zu niedrig, während sie für den südlichen gar nicht niedrig genug sein könnten.

Irgendwann fliegen uns die Brocken um die Ohren

Im Europäischen Währungssystem EWS, dem Vorläufer der EWU, konnten Wechselkurse als Reaktion auf ein Auseinanderdriften der Volkswirtschaften noch innerhalb von Bandbreiten angepasst werden durch Auf- und Abwertungen. Nachdem die Bandbreiten aber in den 80er- und 90er-Jahren immer wieder gesprengt wurden, nutzte François Mitterrand, der die Vorherrschaft der Bundesbank ein für allemal brechen wollte, im November 1989 seine historische Chance und rang Helmut Kohl die Zustimmung zur Aufgabe der D-Mark ab. Damit wurden die Bandbreiten, zuvor immer zu klein, auf null gesetzt.

Ich habe das immer mit dem Versuch verglichen, den Andreasgraben mit Beton auszugießen, um San Francisco ein neues verheerendes Erdbeben zu ersparen. Eine Zeit lang mag das gut gehen, aber irgendwann fliegen uns die Brocken umso heftiger um die Ohren. Doch die Bundesbank mag warnen, wie sie will: Sie ist marginalisiert, sie hat nur eine Minderheitsposition, sie ist ohne Chance, eine Zinswende bei der Französin Christine Lagarde durchzusetzen, die ohnehin ihr Hauptarbeitsfeld weniger in der Preisstabilität erkannt hat als in der Klimarettung.

Deutschland ist fremden Interessen ausgesetzt

Zugleich machen die USA auch hier ihr eigenes Ding und setzen eine Zinswende in Gang, die auch die EZB massiv unter Druck setzen wird. Problem: Es wird auch der Fed diesmal wieder völlig wurscht sein, wie der Rest der Welt mit ihren Zinsentscheidungen klarkommt. Zieht die EZB nicht nach, schwächt sie den Euro, folgt sie, etwa auch durch eine Verringerung der vertragswidrigen Staatsfinanzierung, bringt sie Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, Griechenland in erhebliche neue Schwierigkeiten.

Kurzum: Deutschland ist auch in der Währungspolitik in großem Ausmaß fremden Interessen, Einflüssen und Entscheidungen ausgesetzt. Es wird interessant sein, zu sehen, wie die Bundesbürger reagieren werden auf den Bruch eines Stabilitätsversprechens, das Grundlage war für das mürrische Tolerieren der Abschaffung der D-Mark an jenem 1. Januar 1999. Das war der Tag, an dem der Euro als gesetzliches Zahlungsmittel etabliert wurde mit drei Jahren Schonfrist beim Bargeld, die den Bruch nicht ganz so hart erscheinen lassen sollte.

Naive Kindergartenlieder

Beispiel Selbstverständnis der USA: Als Frau Merkel, Herr Maas und Frau Kramp-Karrenbauer am Samstag, den 14. August, aufwachten, waren die Amerikaner aus Kabul verschwunden. Ein Anruf in der französischen Botschaft landete beim Nachtwächter: Paris hatte sein Personal schon vor Wochen ausgeflogen. So viel zur Wiedergeburt des Multilateralismus nach der doch so dringend herbeigesehnten Abwahl des Herrn Trump und der Re-Etablierung der deutsch-französischen Achse der Guten.

Merke: Wenn es hart auf hart kommt, husten uns die wichtigsten Verbündeten etwas. Donald Trump hat seine Alleingänge wenigstens angekündigt – Joe Biden macht nicht einmal mehr das. Angela Merkels Lobeshymnen vom Frühsommer auf Biden und die angeblich durch ihn garantierte Renaissance der Vertragstreue, der Nato und der Verbundenheit des Westens und seiner Werte klingen wenige Wochen später wie naive Lieder aus dem Kindergarten.

Abhängig von den USA

Als Armin Laschet vor einigen Tagen forderte, „Europa“ müsse in Zukunft fähig sein, einen Flughafen (wie den in Kabul) auch ohne die Amerikaner „zu sichern“, rechnete ihm die FAZ umgehend vor, was „Europa“ dazu heute fehlt. Ergebnis: alles. Die Abhängigkeit von den militärischen Ressourcen der USA wird auch diesmal wieder nur noch übertroffen von der Verblüffung der jeweils amtierenden Bundesregierung, wie groß diese ist. Geht es nach Grünen, Linken und Sozialdemokraten, wird sich daran auch so schnell nichts ändern. Bei Union und FDP mag das anders aussehen, aber Genaues weiß man nicht.

Beispiel: Stromversorgung. Deutschland hat sich auf diesem Feld durch eine nicht einmal halbwegs zu Ende gedachte Energiepolitik doppelt, dreifach, vierfach in fremde Abhängigkeiten begeben. Abhängig von Wind, von Sonne, von Außentemperaturen und abhängig vom Wohlwollen der Nachbarländer und deren Bereitschaft, die Erzeugungs-Nachfrage-Schwankungen der Bundesrepublik auszugleichen – durch sekundenschnelle Exporte nach Deutschland, durch ebenso schnelle Abnahme hier überflüssiger Energie (mit nachfolgender Umwandlung in nutzlose – nein: schädliche Wärme bei happigen Gebühren, zu zahlen von Rentner, Alleinstehenden, kleinen Leuten per Stromrechnung).

Es ist ja bisher gut gegangen

Mit der im Atomgesetz festgelegten Abschaltung der Atomkraftwerke Grohnde und Brokdorf bis Ende dieses Jahres sowie Emsland, Neckarwestheim II und Isar II bis Ende 2022 wird die Versorgungssicherheit hierzulande in die finale Phase des weltweit einzigartigen Großexperiments treten. Motto: Es ist ja bisher, von den gigantischen Kosten abgesehen, halbwegs gut gegangen, also können wir getrost unseren Plan durchziehen. Außerdem ist es ja für einen guten Zweck und wir müssen weltweit Vorbild sein, dann werden uns die anderen schon folgen.

„Grundlast“ ist nur ein Wort aus der Fraktion der Ewiggestrigen und alter weißer Ingenieure mit ihrem überholten Verständnis von Naturgesetzen, Tabellen, Erfahrung und angewandter Mathematik. Hört man zu diesem überlebenswichtigen Thema etwas von den Kanzlerkandidaten? Hätte wenigstens ein Armin Laschet den Mumm, als erste Amtshandlung den programmierten Wahnsinn, die Abschaltung der letzten sechs Akws, die zugleich die jüngsten sind, zu stoppen? Die Vorbereitungen laufen, doch wir vernehmen nichts.

Flächendeckender Blackout

Tatsächlich müssen nur mehrere Faktoren für einen flächendeckenden Blackout mehr oder weniger unvorhersehbar zusammenkommen: plötzliche Dunkelheit (Phänomen, das gerne nach Sonnenuntergang auftritt), plötzliche Windstille (Phänomen, das gerne in ganz Deutschland auftritt), plötzlicher Strombedarf (Phänomen, das gerne bei Kälteeinbruch auftritt, dann in Kombination mit Dunkelheit und Windstille), plötzlicher Sekundenschlaf eines Mitarbeiters in der Leitwarte eines Netzbetreibers (Phänomen, das gerne auftritt, wenn einer mal einen nicht so guten Tag hat), plötzlicher Unwille der Schweiz oder Polens, ein weiteres Mal die Eskapaden der Deutschen auszubügeln und irgendwie die Normfrequenz von 50 Hz wieder herbeizuzaubern (Phänomen, das gerne auftritt, wenn die Geduld nach -zigfachen vergeblichen Bitten und Ermahnungen, endlich zur Vernunft zu kommen, erschöpft ist).

Deutschland hat sich vorsätzlich und fakten- und beratungsresistent derart abhängig gemacht von fremden Interessen und fremdem Wohlwollen, dass es irgendwann die Quittung dafür erhalten wird. Kein Wunder, dass der Wunsch wirklich fähiger Leute, ins Kanzleramt einzuziehen, gegen null tendiert. Niemand mit einem Minimum an Klugheit und Weitsicht kann erpicht darauf sein, das auszubaden, was die Ära Merkel hinterlassen wird: ein Land mit einer inzwischen durch und durch instabilen Infrastruktur, ruiniert aus ideologischen Gründen. Egal, wohin man schaut.

Anzeige