Deutschlands wirtschaftliche Lage - Und wieder grüßt der kranke Mann Europas

Olaf Scholz und Robert Habeck scheinen trotz alarmierender Zahlen zu glauben, sie könnten mit ihrer „grünen Transformation“ der Wirtschaft, dem immer weiteren Ausbau des Sozialstaats und der Aufblähung des Staatssektors Wohlstand schaffen. Stattdessen vernichten sie ihn.

Fensterfront einer stillgelegten Industrieanlage in Düsseldorf / dpa
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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Vor gut zwei Jahrzehnten kürte das britische Magazin The Economist – in Anspielung auf die desolate Lage des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert – die Bundesrepublik zum „kranken Mann Europas“. Letzten August vergab es diesen Titel erneut an Deutschland. In der Ausgabe vom 16. September riet Wirtschaftsminister Habeck daraufhin der Redaktion des Magazins, alles bis auf ihren letzten Euro darauf zu wetten, dass Deutschland wiedererstarken würde. 

Wie immer in der Politik, wollte Robert Habeck nicht sein eigenes, sondern das Geld anderer für die Wette riskieren. Man kann für die Redaktion des Economist nur hoffen, dass sie Habecks Rat nicht gefolgt ist. Denn die jüngst veröffentlichten Daten für das deutsche Wirtschaftswachstum im letzten Jahr und die neuesten Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für dieses Jahr zeigen, dass sie die Wette verloren hätte.

Es fehlt an Einsicht

Am 30. Januar veröffentlichte das Statistische Bundesamt die Daten für das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vierten Quartal des letzten Jahres. Sie zeigten einen um Saison- und Kalendereinflüsse bereinigten Rückgang um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Da es in den früheren Quartalen des Jahres gerade mal stagnierte, schrumpfte das BIP im Gesamtjahr um 0,3 Prozent. Das war die schwächste Wirtschaftsentwicklung in der Gruppe der G7-Länder. 

Sogar das unter dem Brexit leidende Großbritannien und das mit Wirtschaftssanktionen belegte Russland schlugen sich besser. Auch für das laufende Jahr belegt Deutschland in der neuesten Prognose des IWF mit einem Wachstum von 0,5 Prozent den letzten Platz unter den G7. Die russische Wirtschaft, die im letzten Jahr um 3,0 Prozent wuchs, soll mit 2,6 Prozent auch dieses Jahr auf einem robusten Expansionskurs bleiben.

Der Economist meinte in seinem Leitartikel vom August letzten Jahres, dass die „Krankheit“ diesmal nicht so schlimm sei wie um die Jahrhundertwende. Darin dürfte sich das Blatt jedoch getäuscht haben. Diesmal ist es schlimmer. Die Krankheit hat sich nicht nur über die Wirtschaft weiter ausgebreitet, es fehlt der Politik auch die Einsicht, wie sie kuriert werden könnte.

Vom Überschuss zum Mangel

In den beiden Legislaturperioden von Rot-Grün wuchs die deutsche Wirtschaft um insgesamt 6,4 Prozent von 1998 bis 2005. Seit 2017 beträgt das Wachstum insgesamt nur noch 3,4 Prozent. Heute liegt das reale BIP um rund 7 Prozent unter dem Wert, den es erreicht hätte, wenn es mit dem Trend von 2010 bis 2019 weitergewachsen wäre. Anders, aber nicht unbedingt gesünder, verlief die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. 
 

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Die Regierungszeit von Rot-Grün begann mit einer Arbeitslosenrate von 9 Prozent und endete mit einer Rate von 10 Prozent – was auch ein wichtiger Grund für die Abwahl von Bundeskanzler Gerhard Schröder war. Seit 2017 ist die Arbeitslosenrate (nach dem Konzept der Internationalen Arbeitsorganisation ILO) dagegen von 3,4 Prozent auf zuletzt 2,9 Prozent gesunken. Aufgrund der altersbedingten Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung hat Deutschland heute nicht mehr ein Problem des Arbeitskräfteüberschusses, sondern des Arbeitskräftemangels.

Der Arbeitskräftemangel geht einher mit der Abnahme der Arbeitsproduktivität – und ist neben der demografischen Entwicklung auch eine Folge davon. Seit Ende 2017 ist die Bruttowertschöpfung pro Beschäftigtem um rund zwei Prozent gefallen. Verantwortlich dafür waren ein schwaches Wachstum der Produktivität pro Stunde um gerade mal ein Prozent und ein dies mehr als kompensierender Rückgang der Arbeitszeit. Wie früher in der DDR herrscht Vollbeschäftigung, ohne dass der Wohlstand fühlbar wächst. Das führt zu Frustration bei den Beschäftigten, die – anders, als es in der DDR möglich war – ihrem Unmut mit Streiks Luft machen. Das geht besonders gut im öffentlichen Dienst oder in staatsnahen Unternehmen, wo die Arbeitsplätze sicher sind.

Anreize zu mehr Leistung

Nach ihrer unerwarteten Wiederwahl im Jahr 2002 floh die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer angesichts der erdrückenden Probleme zu marktwirtschaftlichen Lösungen. In dem Agenda 2010 benannten Maßnahmenpaket beschnitt sie den Sozialstaat, deregulierte den Arbeitsmarkt und senkte die Steuern. So fiel zum Beispiel die Belastung von alleinstehenden „Besserverdienern“ (mit Einkommen von 67 Prozent über dem Durchschnitt) mit Steuern und Sozialabgaben von 52 Prozent im Jahr 2003 auf 44 Prozent im Jahr 2005. Das schuf Anreize zu mehr Leistung. 

Deutschland gesundete und wurde zum starken Mann Europas, ohne den die Währungsunion während der Eurokrise von 2010 bis 2012 wohl zerbrochen wäre. Es zeugt von der Ambivalenz der Gefühle unserer europäischen Nachbarn, dass einigen die neue Stärke Deutschlands damals auch nicht recht war.

Die Früchte der Politik von Schröder/Fischer konnte Angela Merkel einfahren. In ihrer (zu) langen Regierungszeit fiel die Arbeitslosenrate von 10 auf 3 Prozent, und das reale BIP wuchs mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 1,2 Prozent. Die Ampelkoalition kommt in ihrer ersten Halbzeit auf ein Jahreswachstum von gerade einmal 0,3 Prozent. Es wäre aber unfair, der Ampelkoalition die ganze heute sichtbare Misere anzuhängen. Den Weg dorthin haben die verschiedenen Regierungen unter Angela Merkel eingeschlagen. 

Staatlicher Dirigismus

Unter Merkels Ägide wurde die Agenda 2010 schrittweise rückabgewickelt, der staatliche Dirigismus intensiviert und der Sozialstaat ausgebaut. Die Staatsquote stieg von 47 Prozent im Jahr 2005 auf 51 Prozent im Jahr 2021. Die Staatseinnahmen wuchsen von 44 Prozent auf 47 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kontrolle über die Außengrenzen und die Fähigkeit zur Landesverteidigung gingen verloren. Die Abhängigkeiten von Russland in der Energieversorgung und von China als Absatzmarkt für die deutsche Industrie stiegen.

Klimapolitik zur Verringerung des CO2-Ausstoßes und Industriepolitik zur Durchsetzung politischer Anliegen erhöhten die Regulierungsdichte und ließen die Bürokratie wuchern. Ursula von der Leyen, Angela Merkels Gefolgsfrau, bläht als Präsidentin der Europäischen Kommission mit ihrer industriepolitischen „grünen Transformation“ bis heute Regulierung und Bürokratie von der EU-Ebene her kräftig weiter auf. Der Krankheitserreger durchdringt den Wirtschaftskörper von allen Seiten: von Berlin auf der nationalen Seite, aus Brüssel von der Europäischen Union und aus dem Ausland von einem feindlichen Russland, einem mit der eigenen inneren Schwäche ringenden aggressiven China und einer mit sich selbst beschäftigten und daher wenig rücksichtvollen USA.

Auf Merkels Weg

Doch statt umzukehren und wieder mehr Markwirtschaft zu wagen, geht die Ampelkoalition den von Merkel eingeschlagenen Weg weiter – nur schneller und weniger berechenbar. So hat sich der von US-Wissenschaftlern erhobene Index der wirtschaftspolitischen Unsicherheit seit Antritt der Regierung Scholz/Habeck verdreifacht. Die Bürokratie wuchert noch schneller, und die Kosten für Elektrizität sind auf das Doppelte der Kosten in den USA oder China gestiegen. 

Die unkontrollierte Einwanderung wenig qualifizierter Menschen in den deutschen Sozialstaat und die Auswanderung von Unternehmen und Fachkräften schwächen den Sozialstaat und unterminieren die Produktivität. Mit ihrer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts stärkt die Ampel die „Pull-Faktoren“ für irreguläre Migration. Kein Wunder, dass das Geschäftsklima der Unternehmen und die Stimmung der Konsumenten absacken und viele die Dysfunktionalität der Deutschen Bahn als emblematisch für den Zustand des Landes empfinden.

Rot-grüne Wohlstandsvernichtung

Vermutlich fehlen aber sowohl Kanzler Scholz als auch Vizekanzler Habeck Einsicht und Mut, um das Ruder herumzureißen, wie es Schröder und Fischer getan haben. Scholz und Habeck scheinen zu glauben, sie könnten mit einer zentral geplanten „grünen Transformation“ der Wirtschaft, dem immer weiteren Ausbau des Sozialstaats und der Aufblähung des Staatssektors Wohlstand schaffen. Stattdessen vernichten sie ihn. 

Die Krankheit Deutschlands ist heute nicht nur schwerer als damals, sondern die Aussicht auf Besserung ist wegen mangelnder Einsicht der führenden Politiker in ihre Ursachen auch trüber. Finanzminister Lindner, Chef einer angeblich liberalen Partei, klammert sich an sein Amt und rechtfertigt seine Beihilfe zum Niedergang damit, noch Schlimmeres zu verhüten. Dabei muss es wohl erst noch schlimmer werden, bis es – mit viel Glück – vielleicht wieder besser werden könnte.

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