Coronavirus in Berlin - Wie ich vergeblich versuchte, mich testen zu lassen

Wer das Coronavirus haben könnte, kann sich in Berlin nicht testen lassen. Nur Kontakte zu positiv Getesteten gelten als ausreichend gefährdet. Das passt nicht zur Kommunikation der Bundesregierung. Mit dieser Strategie verlieren wir die Kontrolle, wenn nicht alle zuhause bleiben.

Warten im Vivantes: Berlin testet nicht jeden / Bastian Brauns
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Ist der Autor dieser Zeilen ein verantwortungsloser Hypochonder? Mit dieser Frage dürfen Sie sich gerne beschäftigen. Ich bin Ihnen nicht böse. Auch ich habe mir diese Frage gestellt, bevor ich heute Morgen in dieser Woche bereits zum zweiten Mal zu einem Berliner Krankenhaus aufgebrochen bin, um mich auf den aktuellen Coronavirus testen zu lassen. Seit fünf Tagen verspüre ich Symptome: Ich habe starkes Halsweh, insbesondere beim Schlucken. Ich habe durchweg erhöhte Temperatur von circa 37,8°C. Zwischendurch auch immer wieder Fieber mit bis zu 38,5°C. In der vergangenen Nächten schlief ich eher mies, weil ich andauernd trockenen Husten habe. Achso, und kurzatmig, schnell aus der Puste und erschöpft bin ich auch, wenn ich ein paar Schritte gehe. Aber ganz im Ernst, ich wäre normalerweise nicht mal zum Arzt gegangen. Sogar eher zur Arbeit. Bei „Cicero“ beginnt Anfang des Monats immer die heiße Phase für die Heftproduktion des kommenden Heftes.

Aber wie Sie ja bereits lesen konnten, lebt unsere derzeitige „Cicero“-Hospitantin in einer Wohngemeinschaft mit dem ersten Berliner Corona-Patienten, der stationär behandelt wird. Seit fast zwei Wochen ist sie deshalb in häuslicher Quarantäne. Sie hat nur sehr leichte Symptome. Positiv getestet wurde sie bislang nicht. Das nächste Testergebnis steht aber noch aus. Ein paar meiner Redaktionskollegen waren inzwischen bei einer der insgesamt sechs Berliner Corona-Untersuchungsstellen für 3,6 Millionen Einwohner. Sie wurden getestet. Auch hier stehen Ergebnisse noch aus. Als meine Symptome vergangenen Samstag auftraten, beschlossen die Redaktion und ich gemeinsam, dass ich vorerst zur Sicherheit zu Hause bleibe und dass auch ich mich testen lassen werde. Ich rief dennoch meinen Arzt an. Dort sagte man, im Zweifel soll ich direkt zu den Anlaufstellen gehen.

Verantwortung für die Mitmenschen

Angst hatte ich bislang keine. Aber nach den Erfahrungen dieser Woche in Berlin beschleicht mich mindestens ein ungutes Gefühl. So inkonsistent, inkonsequent, schlecht ausgestattet und undurchsichtig wird hier mit Patienten vorgegangen. Ich gehöre zu keiner Hochrisikogruppe. Weder habe ich gravierende Vorerkrankungen, noch bin ich sehr alt. Ganz im Ernst, ich habe mich schon bei dem Gedanken ertappt: Hoffentlich hast du's, dann hast du's hinter dir und musst dir keinen Kopf mehr machen. Aber was ist, wenn ich Träger des Virus bin und Menschen anstecke, die ein schwächeres Immunsystem haben? Die Chefs der Charité-Virologie und des Robert-Koch-Instituts, Prof. Christian Drosten und Prof. Lothar Wieler, betonen immer wieder, wie wichtig die Verlangsamung der Ausbreitung sei, um Zeit zu gewinnen – insbesondere für die Hochrisikogruppen.

Gestern Abend rief mich ein älterer Kollege an, mit dem ich vergangenen Freitag in einem Berliner Restaurant zu Abend gegessen hatte. Dreimal rief er an. Ich hatte das Klingeln nicht gehört. Sofort kam noch eine SMS: „Lieber Kollege, können wir so rasch als möglich telephonieren? Danke.“ Ich rief zurück. Er hatte von meinen Symptomen erfahren. Er macht sich Sorgen. Er ist 76 Jahre alt. „Wir haben ja den ganzen Abend verbracht“, „Sie müssen sich testen lassen!“, „Sie tragen auch Verantwortung für Ihre Mitmenschen!“ Ich kann ihn verstehen. Der Mann ist lebensfroh und hat noch viele Pläne. Jeden Morgen geht er 30 Minuten Rückenschwimmen, um rüstig zu bleiben. Also versuchte ich, ihn zu beruhigen.

Ich versprach ihm, noch am nächsten Tag ins Krankenhaus im Prenzlauer Berg zu fahren. Auch dort testen sie. Am Montag war ich bereits ins Virchow-Klinikum im Wedding gefahren. Dort hätte ich aber in einem kleinen provisorischen Zelt mehr als drei Stunden mit lauter potenziell Kranken oder eben Hypochondern auf engsten Raum auf die Erstanamnese warten müssen. Das war mir zu blöd und vor allem auch zu riskant. Und dann ging ich wieder in mein selbstverordnetes Homeoffice.

Ich fühle mich solidarisch

RTL sucht den Corona-Star / Bastian Brauns

Heute dann aber zweiter Anlauf. Punkt 9.30 Uhr stehe ich in der Diesterwegstraße. Nur widerwillig hat mich der Taxifahrer dort abgesetzt. „Nehmen Sie das nächste Mal bitte einen Krankenwagen!“, brummt er mich trotz guten Trinkgeldes an. Die Menschenschlange vor der verschlossenen Tür ist überschaubar. Aber es regnet und stürmt. Ein schöner Ort für fiebrige Menschen. Um 10 Uhr öffnet hier die Corona-Untersuchungsstelle. Ein Fernsehteam von RTL filmt bereits. Ob man will oder nicht. In Zeiten von Corona ist Gesundheit keine Privatsache mehr. Eine Frau wird interviewt. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen. Ob sie mitbekommen hat, dass Corona die Lunge befallen kann? Na, vielleicht will sie ihre Symptome noch verstärken, um glaubwürdiger zu sein.

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Es geht erstaunlich schnell voran. Jeder bekommt eine dieser einfachen Einweg-Mundschutzmasken und einen Zettel mit einer Wartenummer. Wie in Italien an der Wursttheke, denke ich. Das passt ja. Der ehemliage italienische Premierminister Matteo Renzi appellierte gestern noch im CNN-Interview, die anderen Europäer sollten bitte, bitte nicht den gleichen Fehler machen wie die Italiener. Wir sollten das verfluchte Virus ernst nehmen. In Italien nämlich entscheiden sie inzwischen teilweise nach den Überlebenschancen, wen sie zuerst behandeln in den völlig überfüllten Krankenhäusern. Ich fühle mich also gar nicht so fehl am Platz. Ich nehme das einfach ernst und ich fühle mich auch so solidarisch, wie die Frau Bundeskanzlerin es in der Pressekonferenz so herzzerreißend trockenhumorig einforderte. Also, so geht's mir.

Wir Superhelden mit Masken

Empfangskomitee im Vivantes / Bastian Brauns

Ich betrete einen kleinen Raum mit Tischen und Stühlen, die alle etwa ein bis zwei Meter Abstand voneinander haben. Ich zögere. „Treten Sie ruhig näher“, sagt eine nette Frau im gelben Schutzanzug und FFP3-Maske. Die hat gut reden, denke ich. Ich bin skeptisch. Wie sinnvoll ist es wirklich, sich mit einer eventuellen leichten Grippe oder Erkältung, also mit geschwächtem Immunsystem hier hinein zu begeben.

Andere Menschen zögern ebenso, halten panisch zwei Meter Abstand von jedem, der ihnen zu nahe kommt. An den Wänden hängen Zettel mit den Nies- und Hustenregeln, mit Hinweisen von Deutsch bis Arabisch, dass wir jetzt alle Handschlagverweigerer sein sollen. Eine Frau, die unentwegt in ihr Smartphone starrt und typisch prenzlbergig gekleidet ist, hustet unentwegt. Nein, nicht in die Armbeuge. Einfach so geradeheraus durch die hauchdünne Schutzmaske. Alle schauen einander an. Alle schweigen. Alle denken sich ihren Teil. Hoffentlich ist die bald dran. Hoffentlich ist die bald weg.

Donald und Desinfektion / Bastian Brauns

Ich setze mich einzeln an einen Tisch. Drei Bücher habe ich mitgenommen, weil ich wusste, das kann dauern: eines über Wirtschaftsjournalismus, Faserland von Christian Kracht und eine Lustiges Taschenbuch mit Donald Duck als Phantomias. Superhelden mit Masken sind wir hier heute alle. Aber ich stelle mir die Frage, was eigentlich passiert, wenn ich am Ende gar kein Corona habe. Dann bin der Hypochonder, der alle verrückt gemacht hat. Der Panikmacher, der Anstifter. Egal jetzt, damit kann ich eher leben, als verantwortungslos Leute angesteckt zu haben.

Ich blättere lustlos in meinen Büchern. Ich lausche den Gesprächen der anderen. Keiner begreift, was hier so lange dauert. Auch nach zwei Stunden sind erst etwa 20 Leute beim Erstgespräch gewesen. Getestet wurden noch weniger. Wir werden aufgerufen und sitzen dann vor Scheiben, hinter denen auffällig junge Menschen sitzen. Ob das Ärzte sind, ist nicht erkennbar. Sie stellen sich auch nicht vor. Aber Fragen stellen sie. Nach Namen, Adresse, Telefonnummer, Krankenkasse. Jeder kann das alles hören, trotz kleiner Stellwände zur Privatsphäre.

Die Nemesis von Moses

Schulschluss wegen Südtirol / Bastian Brauns

Neben mir sitzt eine Schulklasse, die das alles eher lustig findet. Fair enough. Sie sind ja auch am sichersten. Skifahren in Südtirol waren sie. Ihre Lehrer sind genervt. Sie lästern über die Schulleitung. Man hätte die Kinder doch lieber an der Schule abfangen sollen und dort schnell testen lassen müssen. Stattdessen sitzen sie jetzt hier stundenlang. Man weiß sich zu beschäftigen und spielt wie vor 50 Jahren schon: „Ich packe meinen Koffer und nehme mit“. „Eine Powerbank“, ruft ein Schüler. Mist, ich habe meine vergessen, denke ich. Wer weiß, wie lange mein Akku noch reicht.

Ich bin genervt vom Warten. Samt Mundschutz will ich raus vor die Tür. Eine Menschenschlange teilt sich panisch als man mich erblickt. Mit Mundschutz wirkt man dieser Tage wie die Nemesis von Moses. Ich gehe durch das Menschenmeer und denke: Stimmt, das muss erschreckend wirken, mich so zu sehen. Outbreak! Wieso lassen sie den einfach laufen?!

Berliner Spaziergang / Bastian Brauns

Ist mir aber auch egal. Solange ich nicht mal weiß, ob ich überhaupt was habe, kann ich auch einen Kaffee trinken gehen. Ich nehme den Mundschutz ab, desinfiziere meine Hände und bestelle ein paar hundert Meter weiter einen doppelten Espresso Macchiato. Ein Croissant nehme ich nicht. Das wurde sicher schon mit ungewaschenen Händen angefasst. Dann spaziere ich zurück. Mir ist heiß. Es stürmt. Es regnet. Es hagelt Eilmeldungen: Erster Toter in Baden-Württemberg, Rems-Murr-Kreis. Dort komme ich her. Dort wohnt meine Familie.

Einen Hustenanfall simulieren?

Zurück im Wartesaal des Vivantes Krankenhauses im Prenzlauer Berg. Nach vier Stunden bin ich an der Reihe. Das ist noch harmlos, denke ich. Zwei junge Frauen mustern mich durch eine Scheibe. Freundlich, aber kritisch. Im Kopf haben sie einen Fragenkatalog. Ich weiß, was sie wissen wollen. Ich schildere meine Symptome, schildere die Situation mit unserer Hospitantin. Ich schildere, dass ich vergangene Woche im Elsass war, in der Schweiz, viel im Zug, viel im Flugzeug. Ich versuche, einen ruhigen Eindruck zu machen, denn ich bin auch ruhig und denke: Jetzt gibt's wenigstens Klarheit. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätte ich künstlich einen Hustenanfall haben sollen. Den echten habe ich aber nur in der Nacht. Ich werde nicht untersucht, nur befragt.

Hände weg / Bastian Brauns

„Das Richtige wäre, Sie nicht zu testen“, sagt die junge Frau. „Okay“, sage ich. „Sie hatten keinen Kontakt zu einer positiv getesteten Person“, sagt sie. „Das weiß ich nicht“, sage ich. „Ja, genau“, sagt sie. Das RKI sage, dass nur getestet werden solle, wer Kontakt mit erwiesenen Coronafällen hatte. Das ist aber nicht richtig. Auch bei „akuten respiratorischen Symptomen jeder Schwere mit oder ohne Fieber + Aufenthalt in Regionen mit COVID-19-Fällen“ empfiehlt das RKI einen „PCR aus Naso-/Oropharyngeal Abstrich“. Berlin ist eine Region mit inzwischen 137 COVID-19-Fällen. Das lese ich aber erst, als ich wieder Zuhause bin. Ohne dieses Wissen im Hinterkopf sitze ich vor den jungen Frauen hinter der Scheibe und bin etwas ratlos. „Ich verstehe Ihre Sorge“, sagt sie. Ich erkläre ihr, dass vor allem andere Menschen in Sorge sind. Auch das verstehe sie.

Nehmen wir das ernst genug?

Wurst oder Virus? / Bastian Brauns

Ich aber verstehe nicht. Dieser Logik nach hätte ja der erste Corona-Patient gar nicht getestet werden dürfen. Wir sind doch längst an einem Zeitpunkt angekommen, wo wir gar nicht mehr alle Infektionsketten nachvollziehen können. Man könnte es sich überall geholt haben. Ein Test kostet die Krankenkassen 59 Euro. Wenn schon zu diesem Zeitpunkt die Laborkapazitäten so gering sind, dass sie Leute abwimmeln müssen, was wird dann in einer Woche sein? Ich denke an Renzi und seine Warnung an uns. Ich denke an die italienische Reataurantbesitzerin Laura Riccardi aus Mailand, die ich vorgestern interviewt habe, und an ihre Warnung. Nehmen wir das wirklich ernst genug? Ich lese einen Tweet von Charité-Chef Prof. Christian Drosten: „Wir werden sehr bald auf den Schutz, die Testung und die bevorzugte Krankenhausbehandlung von besonders gefährdeten Gruppen (Ältere, Grunderkrankte) fokussieren müssen.“ Vielleicht weht daher der Wind. Wer weiß das schon. Ich bin nur Nummer 439.

Auf Twitter werde ich beschimpft, ich solle mich doch lieber über leere Fußballstadien beschweren gehen, wenn ich keine Ahnung von Virologie hätte. Es gebe nun mal nur begrenzte Tests und nicht jede Erkältung könne man abtesten. Ich verstehe die Wut. Aber warum wurden dann zwei Kollegen von mir mit ein und derselben Story ein paar Kilometer weiter im Neuköllner Krankenhaus getestet? Freunde bieten mir an, Ihre „Kontakte in Krankenhäusern“ spielen zu lassen. Schönen Dank auch. Ist das unser von Jens Spahn so hochgelobtes Gesundheitssystem? Ist das die so transparente und besonnene Informationspolitik? Ich überlege, die Berliner Corona-Hotline nochmal anzurufen. Die ist von 8 bis 20 Uhr besetzt. Leider aber in doppelter Hinsicht. Stattdessen sollte ich meinen alten, rüstigen, lebenslustigen, aber besorgten Kollegen anrufen. Ich schiebe es aber noch ein wenig vor mir her. Erstmal lege ich mich einigermaßen erschöpft hin. Es wird schon schief gehen.

Hier können Sie auf Basis der Daten des RKI die aktuellen Fallzahlen nachsehen.

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